Kein Zweifel, die Zukunft ist da – und lässt Wissenschaftler wie Science-Fiction-Autoren alt aussehen. Relativ.
In dem Oldie, der aus dem Lautsprecher drang, kam das Jahr 2010 vor, als Synonym für eine Zeit, in der die Sängerin alt und grau sein würde. Mein Smartphone hätte mir den längst vergessenen Titel und seine Interpretin sicher verraten, aber ich saß im Funkloch. Und fühlte mich alt und grau. Wie soll man sich auch sonst fühlen, wenn unabweisbar wird, dass wir nun in jener besungenen Zukunft leben, die aber so was von anders aussieht, als wir sie uns als junge Menschen ausgemalt haben?
Nehmen wir die Lichtgeschwindigkeit. Die war in meiner Jugend der Inbegriff von Wissenschaft, technischem Fortschritt, dem Griff nach den Sternen. Wir kannten die Formel E=mc2, konnten aber trotz Physik-Leistungskurs unseren Eltern nicht erklären, wie man denn bitte schön eine Geschwindigkeit mit sich selbst multiplizieren könne. Warum Quadrat und nicht Kubik? Das Weltall ist doch keine Scheibe, es dehnt sich in drei Dimensionen aus. Aber wir glaubten alles. Einstein war cool, allein schon wegen seiner Raumzeitkrümmung: Was hätten bloß all die Sci-Fi-Autoren des 20. Jahrhunderts ohne diese Idee gemacht? Smartphones mit GPS-Ortung hätten wir heute übrigens auch keine.
Und nun? 2011 kommen ein paar freche Myon-Neutrinos dahergeflogen und pfeifen auf den alten Einstein. Bisher dachten die Physiker, dass diese Elementarteilchen nicht schneller fliegen als das Licht. Aber nun waren sie bei einem Versuch am Schweizer Forschungszentrum CERN angeblich doch bis zu 60 Milliardstelsekunden eher am Ziel. Die kleinen Biester überholen sich quasi selber. Forscher verzweifeln an sich und trösten einander mit nerdigen Neutrino-Witzen, in denen stets ein Ereignis vor seiner Ursache eintritt. Hat Einstein sich womöglich geirrt? Wäre die Zeit doch nur so krumm, dass man ihn jetzt wieder fragen könnte.
Tatsächlich gibt es nur zwei mögliche Erklärungen: Die Koryphäen hinter einem der ehrgeizigsten Forschungsprojekte der Physikgeschichte sind in Wahrheit Stümper. Oder wir sind unmerklich in eine Anomalie des Raum-Zeit-Kontinuums geschlittert, in ein Paralleluniversum, eine Zweitrealität in der absurdistanischen Galaxie.
Ich vermute Letzteres. Wenn man sich’s genau überlegt, ist ja eigentlich nichts mehr, wie es sein sollte. Für diese These sprechen nicht nur Schuldenkrise und Rettungsschirm, die Harakiri-Politik der FDP und der Erfolg der Piratenpartei. Den ultimativen Beweis lieferte jetzt Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. In einer normalen Welt und in jedem Sci-Fi-Roman ist ein böser, machthungriger Apparat dafür zuständig, heimlich die Menschen zu überwachen, zu manipulieren, zu kontrollieren. Zuckerberg hingegen braucht den Menschen nur das Internet-Instrument „Timeline“ anzubieten, mit dem sie ihr Leben von der Wiege bis zur Bahre ganz bequem im Do-it-yourself-Modus digitalisieren können: Schon fangen Millionen an, ihre Babyfotos einzuscannen und ganz freiwillig vollständige lebenslange Bewegungsprofile von sich ins Netz zu stellen, die den Privatdetektiv wie den Geheimagenten auf die Rote Liste der aussterbenden Berufe bringen.
Unsereiner, der noch mit einem Fuß in der alten Realität steht, wartet nun auf die Meldung, dass die Myon-Neutrinos in Wahrheit doch brav das Einsteinsche Tempolimit einhalten. Wenn es soweit ist, muss ich alle Kraft zusammennehmen, mir einen Ruck geben und mich auf die Seite fallen lassen, aus der die Nachricht kommt.
ULF J. FROITZHEIM (52) schrieb vor fünf Jahren die erste dieser Kolumnen – damals noch in der realen Welt. Glaubt er.
TECHNOLOGY REVIEW | NOVEMBER 2011
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