Kampf der Konzepte

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tun sich schwer, langfristig und vernetzt zu denken. Daran führt aber kein Weg mehr vorbei: Die Klimaziele des Energiekonzepts für Deutschland sind bis 2050 nur zu erreichen, wenn alles ineinandergreift – und die Strom konzerne sich neu erfinden.

Jean-Rémy von Matt hatte das Agressionspotenzial unterschätzt, das der kleine Trickfilm „Der Energieriese“ freisetzen würde. Der von der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt für den RWE-Konzern gedrehte Image-Spot, der im Kino wie auch im TV und im Web lief, enthielt die gleichen harmlosen Zutaten wie ein „Shrek“-Film: idyllische Landschaftskulissen, eingängige Musik und ein liebenswertes Monster, eben der Energieriese.

httpv://youtu.be/OKZ9vswrmjw

Ein paar Monate später, im November 2009, brannte das Auto des prominenten Unternehmers. Angezündet hatten es die selben Leute, die in jener Nacht mit schwarzer Farbe gefüllte Gläser gegen die Fassade des Hauses von Fritz Vahrenholt schmetterten, dem RWE-Manager für Erneuerbare Energien. Ein Bekennerbrief ließ keinen Zweifel aufkommen, dass die Täter dem Agenturchef und dem Ex-Umweltsenator einen Denkzettel verpassen wollten, weil diese sich für etwas hergegeben hätten, das in Umweltschützerkreisen als „Greenwashing“ bekannt ist. Grünfärberei.

Der Vorwurf an sich war nicht neu, überraschend waren nur die Militanz des Protests und sein Zeitpunkt. Jung von Matt hatte die durchaus selbstironisch angelegte Werbefigur des  Energieriesen im Sommer 2009 präsentiert, vor der Bundestagswahl, bei der es um den Ausstieg aus dem Atomausstieg ging. RWE wollte dem Kino- und Fernsehpublikum die Sorge nehmen, die von Union und FDP angestrebte Renaissance der Kernkraft bedeute das Ende der Investitionen in erneuerbare Energien. Darum ließ der Konzern seinen sanften grünen Hünen Windräder aufstellen; buddelt das Monster mal nach Braunkohle, bessert es die Landschaft sofort wieder mit Rollrasen aus. „Es kann so leicht sein, Großes zu bewegen“, suggeriert der Abspann Aufbruchstimmung, „wenn man ein Riese ist.“

Dass der Essener Stromriese tatsächlich Großes bewegt, dokumentierte der RWE-Vorstandsvorsitzende Jürgen Großmann auf der Hauptversammlung im April 2010 in Essen: „Wir arbeiten das größte Investitionsprogramm in der Geschichte der RWE ab.“ Die dicksten Brocken in diesem großindustriellen Neubauprogramm, das aus Großmanns Sicht den Klimaschutz voranbringen wird, sind allerdings weder Windparks noch Solarplantagen noch dezentrale Kombikraftwerke, sondern sieben fossil befeuerte Großkesselanlagen mit zwölf Gigawatt Gesamtleistung. Insgesamt investiert Deutschlands zweitgrößter Stromkonzern bis 2013 europaweit 28 Milliarden Euro. Für regenerative Energieträger wie Windkraft und Biomasse sind davon aber nur 1,4 Milliarden Euro pro Jahr reserviert.

Diese Summe entspricht nicht einmal einem Fünftel des operativen Gewinns des Rekordgeschäftsjahrs 2009. Die Erweiterung des gigantischen Braunkohlenkraftwerks Grevenbroich-Neurath, das 2011 trotz modernster Technik an die Spitze der größten Kohlendioxid-Emittenten Europas vorrücken dürfte, ließ sich der Konzern dagegen stolze 2,2 Milliarden Euro kosten. In Rumänien und Großbritannien engagiert er sich sogar beim Ausbau der Atomkraftkapazitäten. Wer hingegen seine aktuelle Ökostrom-Quote sucht, findet diese in einem nur auf Englisch erhältlichen „RWE Factbook Renewable Energy“. Sie liegt mit 2,5 von knapp 50 Gigawatt bei 5 Prozent der installierten Leistung. Die tatsächlich produzierte Strommenge ist noch bescheidener: 6,5 von 187 Terawattstunden jährlich, magere 3,5 Prozent. Sämtliche von Wasser, Wind und Biomasse angetriebenen Generatoren des RWE-Konzerns speisen zusammen deutlich weniger Strom ins Netz ein als ein einziger Kraftwerksblock in Neurath oder einer der beiden Reaktoren in Biblis.

Nicht nur RWE tut sich immer noch schwer mit dem klaren Kurswechsel in Richtung erneuerbare Energien, den die Politik schon vor Jahren der Branche abverlangt hatte. Auch E.on, EnBW und Vattenfall werten die im neuen Energiekonzept der Bundesregierung verlängerten Laufzeiten der deutschen Uranmeiler (siehe Kasten) als wichtigen Beitrag zur CO2-Vermeidung. Zugleich investieren sie massiv in neue Fossil-Kraftwerke – von Braunkohle über Steinkohle bis Erdgas. Kurzfristig profitiert davon die Umwelt, denn mit steigenden Wirkungsgraden sinkt die Abgasmenge pro erzeugter Kilowattstunde. Langfristig gesehen hat die Modernisierungswelle im fossilen Kraftwerkspark allerdings schwer wiegende Spätfolgen: Die neuen Braunkohle-Stromfabriken, die sich RWE in der Rheinischen Tiefebene und Vattenfall in der Oberlausitz leisten, werden noch stehen, wenn die gleichzeitig errichteten ersten Offshore-Windräder längst verrostet sind. Ihre Lebensdauer von 40 Jahren entspricht exakt der Zeitspanne, für die das Energiekonzept gelten soll. Steinkohlekraftwerke sind ähnlich langlebig. Was heute noch der Stolz der Ingenieure ist, wird im Klimaschutz-Zieljahr 2050 längst zur Altlast geworden sein – betriebswirtschaftlich vielleicht noch rentabel, doch gesellschaftlich inakzeptabel. Bevor die Politiker und Experten aus Union, FDP, Umwelt- und Wirtschaftsministerium sich überhaupt zusammensetzen konnten, um das Energiekonzept auszuhandeln, hatte die Stromindustrie mit ihren milliardenschweren Großprojekten so bereits Fakten geschaffen, an denen niemand vorbeikommt, der in erneuerbare Energien investieren und damit Geld verdienen will.

Professor Olav Hohmeyer mag nicht einmal davon reden, dass sich die Bundesregierung auf ein Energiekonzept geeinigt hätte, jedenfalls nicht auf eines aus einem Guss. „Es gibt das Energiekonzept des Umweltministeriums, relativ stark auf Erneuerbare und Effizienz orientiert“, sagt der Flensburger Energiewirtschaftler, Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) und in einer Arbeitsgruppe des als „Weltklimarat“ bekannten Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), „und es gibt im gleichen Text ein zweites Energiekonzept, nämlich das des Wirtschaftsministeriums und der großen vier Stromkonzerne – mit Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke und CO2-Speicherung bei Kohlekraftwerken.“

Wenn Hohmeyer das Konzept zerpflückt,das der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) als „Mogelpackung“ beschimpft, kommt er ohne scharfe Polemik aus. In ruhigem Ton analysiert der Ökonom die innere Widersprüchlichkeit des schwarz-gelben Masterplans für den Umbau der deutschen Energieversorgung. Als Wirtschaftswissenschaftler macht er nicht den Chefs der großen Stromversorger zum Vorwurf, dass sie betriebswirtschaftlich denken und handeln, sondern bedauert, dass die Regierungsparteien den kurz- bis mittelfristigen Interessen der börsennotierten Konzerne nachgegeben haben. Den Professor stört insbeondere das durch die Laufzeitverlängerung entstandene Übergewicht der Grundlastkraftwerke. Neben den Kernreaktoren zählen die großen  Braunkohlenverbrennungsanlagen, aber auch einige Steinkohlekraftwerke zu dieser Gruppe. Sie passen am allerwenigsten zu den von Jürgen Großmann gern als „unzuverlässig“ abgestempelten Energiequellen Wind und Sonne, denn im Gegensatz zu Gas-, Öl- oder Wasserkraftwerken wurden sie einst zu dem Zweck konstruiert, monatelang gleichmäßig rund um die Uhr zu laufen. In der hierarchisch-zentralistischen Netzarchitektur des 20. Jahrhunderts waren sie die Garanten der „Versorgungssicherheit“, eine industrialisierte Versicherung der Wirtschaftswunderrepublik gegen Blackouts. „Flexibilität“ stand bei ihrer Planung nicht im Pflichtenheft, es ging – wie immer bei Großtechnik – um die Skaleneffekte: Je gleichmäßiger und besser die Werke ausgelastet sind, desto billiger ist die Produktion einer Kilowattstunde.

Schon deshalb versuchen die Betreiber dieser Gigawattfabriken, häufige Lastwechsel oder gar Abschaltungen zu vermeiden. Aber häufiges Drosseln der Leistung tut auch der Technik nicht gut. In einem Kommentar zur KKW-Laufzeitverlängerung warnt der Sachverständigenrat, dass Bauteile, die hohen Drücken und Temperaturen ausgesetzt sind, beschleunigt verschleißen. Das könne nicht nur teuer, sondern auch gefährlich werden.

In der klassischen Arbeitsteilung der deutschen Kraftwerke war die Trägheit der Grundlasttechnik kein Problem. Traditionell verfeuern die Elektrizitätsversorger tagsüber zusätzlich Steinkohle; dank ihres gegenüber Braunkohle mehrfach höheren Brennwerts kommt dieser Kraftwerkstyp schneller auf Touren. Sehr gut regelbar sind auch alle Arten von Wasserkraftwerken. Während der typischen Lastspitzen fluten die Betreiber die Turbinen ihrer Pumpspeicherkraftwerke; mit dem nächtlichen Stromüberschuss aus der Grundlast pumpen sie das Wasser aus den Auffangbecken wieder hoch in die Stauseen und heizen die mittlerweile verpönten Nachtstrom-Speicheröfen auf. Für kurzfristigen Zusatzbedarf stehen außerdem schnell anspringende Öl- und Gasbrenner bereit.

Wenn an den Küsten in großem Stil Offshore-Windparks gebaut werden, gerät diese über Jahrzehnte optimierte Rollenverteilung, mit der die Energieriesen gut gefahren sind, aus dem Lot. Der Berliner Politikberater Professor Martin Jänicke, einst Chef der Forschungsstelle für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin, hält eine friedliche Koexistenz von alter und neuer Energie, wie sie RWE & Co. suggerieren, sogar für  ausgeschlossen. „Mit ihrem starren, zentralisierten Grundlastangebot“, hatte Jänicke vor der Bundestagswahl 2009 gewarnt, „ist die Atomenergie der natürliche Gegner der erneuerbaren Energien und der unerlässlichen Effizienzrevolution.“ Alle Bekenntnisse der großen Vier zu grüner Energie wären dann pure Heuchelei.

Womit die Windfreunde den Konzernen ins Gehege kommen, die Atomkraft als Waffe gegen CO2 anpreisen, liegt auf der Hand. Genau wie die Grundlastkraftwerke produzieren die Windräder ihren Strom unabhängig von der Nachfrage. Auch sie laufen nachts weiter, wenn zukünftig allenfalls das Aufladen von Elektroautos viel Strom verbraucht. Allerdings stehen sie etwa 15 Prozent der Zeit still. Versorgungssicherheit bieten sie daher grundsätzlich nur im Verbund mit anderen Energieträgern, die bei einem Spannungsabfall spontan einspringen (siehe Seite 16). Deren Kapazitäten müssten massiv ausgebaut werden, wenn Windparks tatsächlich AKWs ersetzen sollen, denn die bei Windstille abrufbare Regelenergie müsste am Bedarf in der Spitzenlast-Zeit bemessen sein, wobei die angedachten intelligenten Netze (Smart Grids) dieses Problem etwas entschärfen dürften. Technisch lösbar sei das alles, versichern Experten wie Kurt Rohrig vom Kasseler Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik. Umso kniffliger ist es, Geschäftsmodelle zu entwickeln, bei denen alle auf ihre Kosten kommen.

Die Achillesferse der Windenergie sind tagelange Flauten, wie sie in manchen Jahren im Sommer auftreten. Dann muss ein vielfach leistungsfähigeres Reservoir bereitstehen als die üblichen Speicherbecken, die nach sechs Stunden leergelaufen sind. Ein ähnlich leistungsstarkes Backup aus Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerken, die den Großteil der Zeit ungenutzt blieben, wäre zu teuer. Aber auch dieses Problem könnte lösbar sein. Eine Idee, wie man zusätzlich zu den bereits avisierten Standorten in den norwegischen Bergen auch im dicht besiedelten Deutschland größere Kapazitäten erschließen könnte, kommt vom Energie-Forschungszentrum Niedersachsen (EFZN) in Goslar. Die Wissenschaftler schlagen vor, leergeräumte Bergwerksstollen zu Wasserspeichern umzufunktionieren.

Nach dem Energiekonzept der Bundesregierung können solche Überlegungen den Windkraft-Investoren theoretisch egal sein. Sie bekommen ihre im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) festgelegte Einspeisevergütung auch für Strom, der zum Zeitpunkt der Produktion an der Börse keinen Marktwert hat. Der Betreiber eines Pumpspeichers könnte ihn praktisch zum Nulltarif beziehen und bei hoher Nachfrage teuer wieder abgeben. Offen ist, wer in eine solche Infrastruktur investieren mag, denn er müsste in Vorleistung gehen, ohne zu wissen, wie lange die heutigen Rahmenbedingungen Bestand haben. Die ultimative Interessenkollision zwischen Windmüllern und Stromkonzernen ergibt sich laut Sachverständigenrat für Umweltfragen freilich daraus, dass trotz des zusätzlichen Baus neuer Kohlekraftwerke auch noch die Laufzeiten der KKW verlängert wurden. Als Kernübel monierten die Experten des SRU die nun „dauerhaft bestehenden Überkapazitäten an grundlastorientierten Kraftwerken“. In einem Papier, das vor der Verabschiedung des Energiekonzepts erschien, rechnen sie mit einem Angebot von bis zu 38 Gigawatt Grundlastkohlestrom zusätzlich zu durchschnittlich 20 Gigawatt Atomstrom, bevor das Angebot wegen der Abschaltung veralteter Anlagen wieder sinkt. Das ist schon ohne den Bau zusätzlicher Windanlagen mehr, als heute in manchen Nächten erforderlich wäre.

Die Energiekonzerne reden diese Gegensätze klein. Sie beteuern unisono, ein Siedewasserreaktor ließe sich problemlos rasch drosseln und passe daher durchaus zur wetterwendischen Windkraft. Bei fünf bis zehn Prozent sehen auch unabhängige Experten kein großes Problem. Heikel wird es, sobald ganze Grundlastkraftwerke überzählig werden. Laut SRU ist in den 20er-Jahren damit durchschnittlich alle drei Tage zu rechnen, falls der Offshore-Wind im ursprünglich geplanten Umfang geerntet wird.

Nach den strikt kaufmännischen Regeln der Strombörse wird dann zwar zuerst die Braunkohle vom Netz genommen, denn sie hat höhere variable Kosten und rangiert in der „Merit Order“ über der Kernkraft. Fällt aber der Stromverbrauch in einer lauen, windigen Sommernacht deutlich unter die Summe aus angebotenem Öko- und Atomstrom, fliegt sogar ein KKW raus. Ist dieses erst einmal heruntergefahren, dauert es 50 Stunden, bis sich seine Turbinen wieder unter Volldampf drehen. Ein abgekühlter Braunkohlekessel braucht vier Stunden, bis er wieder seine Betriebstemperatur erreicht. Im Extremfall könnte es also passieren, dass ein Energieversorger zwei Tage lang mit seinem völlig intakten Atomkraftwerk keinen Cent mehr verdient, nur weil zur falschen Tageszeit für ein paar Stunden ein perfekter Wind wehte; zudem könnte er bei einsetzender Flaute kurzfristig die dann fehlenden Windräder nur durch teurere Energiequellen wie Gas ersetzen. Nicht nur für Kaufleute und Atomfans ist das eine absurde Vorstellung. Für den Branchenkenner Olav Hohmeyer wird deshalb auch nur andersrum ein Schuh draus: „Die KKW-Betreiber haben einen massiven Anreiz, dafür zu sorgen, dass die Regenerativen nicht weiter ausgebaut werden.“

Offen zugeben würde natürlich keine Energiekonzern, dass er absichtsvoll Sand ins Getriebe der Energiewende streut. Schon aus Prestigegründen haben die vier Energieriesen selbst auch Windkraftanlagen im Portfolio, wobei E.on und RWE besonders gern im europäischen Ausland investieren, etwa in Großbritannien, wo grosszügigere Förderkonditionen gelten. Vor deutschen Küsten sammeln E.on und Vattenfall, die sich traditionell eher auf Wasserkraft verstehen, gerade erste Erfahrungen mit großen Offshore-Windrädern als Juniorpartner des Oldenburger Energieversorgers EWE auf dem 60-Megawatt-Versuchsfeld Alpha Ventus bei Borkum (siehe Seite 26). Den soeben rückverstaatlichten Versorger EnBW im Südwesten Deutschlands plagt wegen seiner Wasserkraftwerke zwar kein schlechtes Klima gewissen. Er gelobte aber, bis 2015 noch drei Milliarden Euro in die Erneuerbaren Energien zu stecken, die heute 24 Prozent zu seiner Eigenproduktion an Elektrizität beitragen. So sind vier Offshore-Windparks mit zusammen 1,2 Gigawatt Nennleistung geplant, die rund ein halbes Gigawatt konventionelle Kraftwerksleistung ersetzen. Damit käme EnBW in fünf Jahren auf knapp vier Prozent Windstrom.

Den aktuellen „Facts & Figures“ des RWE-Konzerns ist vage zu entnehmen, dass der Anteil erneuerbarer Energieträger (vor allem Wind und Biomasse) an der Stromproduktion bis 2025 auf 18 Prozent wachsen soll. RWE Innogy-Chef Vahrenholt setzt die Kraft im Seewind dabei viel niedriger an als etwa das Bundesumweltministerium oder der noch optimistischere Hohmeyer. Die Behörde hat ihre Schätzung des langfristig nutzbaren Potenzials in Nord- und Ostsee von 35 auf 80 Gigawatt Nennleistung erhöht. Vahrenholt kommt dagegen auf nicht mehr als 27 Gigawatt Nennleistung (Jahresmittelwert: 12 GW). In einem Vortrag vor Mitgliedern des Branchenverbandes VGB PowerTech e.V., der früheren Vereinigung der Großkessel-Besitzer, rechnete der bisher nicht als Pessimist bekannte Öko-Energie-Pionier die tatsächlich erschließbaren Flächen vor der Nordseeküste anhand von neun Kriterien – von Naturschutz über militärische Nutzung und Kiesabbau bis Schlickboden – auf ein ernüchterndes Sechstel des deutschen Seegebiets herunter. Allerdings kalkuliert der RWE-Mann mit nur sechs Megawatt oder 1,2 Windmühlen der Alpha-Ventus-Klasse pro Quadratkilometer. Die beiden ersten kommerziellen Ostsee-Parks Baltic 1 und 2 mit ihren 2,3- und 3,6-MW-Mühlen liefern laut EnBW etwa das Doppelte. Selbst nach Vahrenholts konservativer Schätzung könnte die Windernte im Jahr rund 100 Terawattstunden betragen, ein Sechstel des deutschen Brutto-Strombedarfs. Das wäre kaum weniger, als heute mit Steinkohle erzeugt wird.

Bis es so weit ist, müssen erst einmal Tausende Windräder in den Meeresgrund gerammt werden. Für das 80-GW-Szenario des Umweltministeriums wären 16 000 Exemplare der Fünf-Megawatt-Klasse nötig; mit den kompakteren Standardmodellen, die EnBW in Mecklenburg-Vorpommern einsetzt, wüchse offshore ein Wald aus 22.000 bis 35.000 Stahltürmen, der bei idealem Wind die halbe Republik versorgen könnte: 2007 waren laut Bundeswirtschaftsministerium in Deutschland insgesamt 153 Gigawatt Kraftwerksleistung am Netz. In einem „Normalwindjahr“ bläst der Wind umgerechnet in „Volllaststunden“ 3750 von 8760 Stunden. Die damit im Jahresmittel erreichbaren gut 30 GW wären immer noch ein klarer erster Platz in der Rangliste der Energiequellen, deutlich vor Uran und Braunkohle. Dabei sind die Windmühlen auf dem Festland noch gar nicht mitgezählt. Das Tempo bei diesem Ausbau bestimmen allerdings in erster Linie die vier Energieriesen. Sie kontrollieren laut Hohmeyer zusammen 70 Prozent der bisher ausgewiesenen Bauplätze für Offshore-Windräder vor der deutschen Küste.

Während die Großen sich alle Wind-Optionen offenhalten, aber erst einmal den Rahm abschöpfen, den ihnen die Laufzeitverlängerung ihrer Reaktoren beschert, preschen andere vor. Auf eigene Faust hat der 73-jährige deutsch-kasachische Investor Arngolt Bekker, der in den Neunzigerjahren sein Geld in Russland mit Gas- und Ölpipelines gemacht hat, den Offshore-Park Bard 1 geplant, der mit 80 Fünf-Megawatt-Anlagen das bisherige Prestigeprojekt Alpha Ventus bald weit hinter sich lassen soll. Südweststrom Windpark, ein Zusammenschluss von 64 Stadtwerken und weiteren Investoren aus Deutschland, Luxemburg, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein will als zukünftiger Eigentümer im Endausbau pro Jahr 1,6 Terawattstunden jährlich erzeugen. Bekker steht fünf Jahre lang für eine Verfügbarkeit von 96 Prozent gerade. Und der Unternehmer will mehr: Sein nächstes Ziel ist die Sieben-Megawatt-Windkraftanlage. Bisher liegt der Branchenrekord bei sechs MW.

Projekte wie Bard 1 sind finanziell nur auf der sicheren Seite, solange ihnen das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) die derzeitige Einspeisevergütung von 15 Cent pro Kilowattstunde garantiert. Falls jedoch mehr unabhängige Anbieter in das Vakuum drängen, das die großen Vier gelassen haben, könnte es zu dem Systemkonflikt kommen, vor dem der SRU schon vor der Laufzeitverlängerung gewarnt hatte: immer häufigere Zwangspausen für Atomkraftwerke wegen reicher Wind ernte. Spätestens dann rechnen die Ökostrom-Befürworter mit einer massiven Lobbyarbeit der AKW-Betreiber gegen die Höhe der Einspeisevergütung. Diese richtet sich nach dem Börsenwert, der gerade dann fällt, wenn viel eingespeist wird. Damit wird die Differenz zwischen dem Marktpreis und dem gesetzlichen Garantiepreis, den die Stromnetzbetreiber den Ökostrom-Erzeugern zahlen müssen, besonders groß. Der Börsenpreis liegt aber tendenziell unter dem tatsächlichen Durchschnittspreis, da nur ein relativ kleiner Teil des verbrauchten Stroms frei an der Leipziger Strombörse gehandelt wird. RWE-Chef Großmann erklärte auf der Hauptversammlung, dass der Rekordgewinn im Wirtschaftskrisenjahr 2009 direkt damit zusammenhing, dass er rechtzeitig vorteilhafte langfristige Abnahmeverträge geschlossen hatte. Zugleich wälzen die Großen die schwankende Öko-Umlage auf alle Verbraucher ab. Dadurch erscheinen die Windmüller als Preistreiber, obwohl ihr Strom aufgrund der Merit-Order-Regel stets den teuersten konventionellen vom Markt verdrängt.

Hinzu kommt, dass bei Wind- und Sonnenstrom die klassische Kalkulation der Energiewirtschaft außer Kraft gesetzt ist. Bei fossilen Kraftwerken hängen die Produktionskosten einer Kilowattstunde ganz maßgeblich vom Rohstoffeinsatz ab, also den variablen Kosten. Sinkt der Bedarf, lohnt es sich, das Stromangebot entsprechend zu verknappen. So spart der Betreiber Rohstoff und stützt den Preis. Beim Wind fallen die Rohstoffe weg, der Strom wird von der Handelsware zu einer Dienstleistung mit zu vernachlässigenden Betriebs- und Personalkosten. In einem Wettbewerbsmarkt ohne staatliche Preisgarantie hätte dies paradoxe Folgen: Da es keine variablen Kosten gibt, würde sich der Erlös allein danach richten, was der Markt hergibt. Dennoch hätte kein Betreiber einen Anreiz, bei einem Überangebot die Kapazität seiner Anlagen zu drosseln: Ein laufendes Rad erwirtschaftet selbst bei einem miserablen Preis noch einen Deckungsbeitrag, ein stillstehendes hingegen keinen Cent. Ohne fixe Einspeisevergütungen wären Windparks deshalb für Investoren unattraktiv: Die Baukosten pro Megawatt liegen so weit über denen von Verbrennungskraftwerken, dass sich die Anlagen nur langsam amortisieren, obwohl mit Rohstoff und Emissionsrechten zwei große Kostenblöcke wegfallen.

Ist man dagegen auf allen Wertschöpfungsstufen aktiv – bis hin zum Handel mit Ökostrom – kann man wie die Energieriesen trotz aller Neuerungen im Strommarkt gut verdienen. Selbst bei der Einführung des Emissionsrechtehandels, der den großen CO2-Emittenten eigentlich Kosten aufbürden sollte, haben sie dennoch ihren Schnitt gemacht: Während der ersten Phase von 2005 bis 2008 bekamen sie die Zertifikate komplett geschenkt, konnten deren fiktiven Wert aber in die Strompreise einkalkulieren. Inzwischen müssen sie einen Teil der Emissionsrechte bezahlen. Doch der Ablasshandel funktioniert international, deutsche Unternehmen dürfen auch in China Verschmutzungsrechte erwerben. Erst in der dritten Phase ab 2013 wird das CO2 zum Kostentreiber. Deshalb investieren die  Braunkohlenkonzerne RWE und Vattenfall in die Forschung an Verfahren, die das CO2 aus dem Abgas unschädlich machen sollen, von der Verpressung in den Boden (Carbon Capture & Storage, siehe Seite 82) bis zum photosynthetischen Recycling mit Hilfe von Grünalgen. Die CCS-Projekte begrüssen sogar die Umweltverbände. Allerdings würden sie solche Techniken lieber für  Industriezweige reservieren, in denen es keine Alternative zum Verheizen fossiler Brennstoffe gibt, etwa die Stahlindustrie.

Dass die Energieriesen beim Kohlendioxid mehr tun müssen, wissen sie selbst sehr genau. Vorstandschef Großmann kleidete dies anlässlich der Hauptversammlung in der Grugahalle freilich in positive Worte: „Gerade RWE kann bei der CO2-Vermeidung wegen unseres historisch hohen Emissionsniveaus besonders viel bewegen.“

 

Das Energiekonzept der Bundesregierung

Ein 40-Jahres-Plan soll Deutschland zur Reinluftrepublik machen, die ihr Wohlstandsniveau auch mit halbiertem Energieeinsatz halten kann und dabei nicht unter hohen Strom- und  Brennstoffpreisen leidet. Das ist, kurz gefasst, der Kern des Energiekonzepts, das die Bundesregierung im Oktober vorgestellt hat. Politisch umstritten sind weniger die überwiegend ehrgeizigen Ziele als der Weg dorthin, insbesondere der Zeitplan und die Freiwilligkeit bestimmter Maßnahmen.

Reduktion von Treibhausgas-Emissionen

2020: 40 %

2030: 55 %

2040: 70 %

2050: 80 bis 95 %

(Minderung gegenüber 1990)

Anteil erneuerbarer Energien am Brutto-Endenergie-Verbrauch

2020: 18 %

2030: 30 %

2040: 45 %

2050: 60 %

Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung

2020: 35 %

2030: 50 %

2040: 65 %

2050: 80 %

Steigerung der Energieeffizienz bis 2050

50 % weniger Primärenergie-Einsatz und 25 % weniger Stromverbrauch als 2008; im Verkehrssektor 40 % Einsparung gegenüber 2005

Energetische Gebäudesanierung 

ab 2020 jährlich 2 % des Häuserbestandes

Subventionen und Marktwirtschaft

Mehr Wettbewerb und Abbau der „Überförderungen“ durch die für 2012 geplante Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes; neue Genehmigungspolitik bei Offshore-Windkraft, um das Horten von Baugenehmigungen zu erschweren; Förderung des Infrastruktur-Ausbaus (Energiespeicher und Stromnetze als Rückgrat eines europäischen Ökostrom-Verbundes) und der Abscheidung von CO2 in (Braun-)Kohlekraftwerken

Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke

Betriebsdauer +8 Jahre bei bis 1980 errichteten AKW, bei neueren +14 Jahre (Bezug: Atomkonsens)

Besteuerung der Kernenergie

Einführung einer Kernbrennstoffsteuer bis 2016 und eines „Energie- und Klimafonds“, der aus dem Emissionsrechtehandel und zu einem kleineren Teil aus Abgaben der AKW-Betreiber gespeist wird

 

ERSCHIENEN IM TECHNOLOGY REVIEW SPECIAL 1/2011 (ENERGIE).

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