Altmaier unter Piraten

Als Mensch, der nach wie vor analog denkt (ich bin ja weder Lieutenant Commander Data von der Enterprise noch der Terminator, und die Singularity Ray Kurzweils ist zum Glück auch nicht nah),  wundert es mich ein wenig, dass es in der FAZ eine Rubrik „Digitales Denken“ gibt. Frank Schirrmacher & Co. scheinen zu glauben, dass selbst Leute wie CDU/CSU- Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier dort, wo andere Lebewesen ein Gehirn haben, mit elektronischen Schaltkreisen ausgestattet sind. Aber egal: Was Altmaier da schreibt, schreit nach einer Kommentierung, die das Format der FAZ-Leserkommentare sprengen würde, wenn man denn dort als interessierter Leser seine Meinung loswürde:

Kann er nicht? Kann er doch!

Machen wir also von unserem Zitatrecht Gebrauch und schauen mal, was dem Guten zu seinem neuen Leben „unter Piraten“ so in den Sinn kommt:

„Obwohl ich mit Computer und Internet seit Jahren arbeite, verstand ich bis vor kurzem nichts vom „Netz“. Computer stehen in meinen Büros und in meinen Wohnungen, ich besitze iPad und Handy, nutze E-Mail und SMS, surfe und kaufe im Internet, beziehe Informationen aus Online-Medien. Dennoch war mir die gesellschaftliche und politische Dramatik, die von der rasanten Evolution des Internet und der elektronischen Medien ausgeht, bislang nicht einmal im Ansatz klar.“

Dieses Bekenntnis ehrt ihn. Mehr noch: Es legt die Vermutung nahe, dass er in dieser Hinsicht die sich outende Spitze des Eisbergs ist. Man kann auch als Bildungsbürger das Internet sehr gut nutzen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was da eigentlich abgeht. Dazu unten mehr.

„Die Wirklichkeit des weltweiten Internet verändert die Bedingungen politischer Kommunikation von Grund auf, aber auch das materielle Konzept von Demokratie und Partizipation.“

Besser, er sieht das spät ein als nie. Jetzt wird’s spannend: Welche Schlüsse ziehen Seinesgleichen daraus? Die Techno- und Bürokraten aus seiner Partei, zum Großteil als Juristen oder Beamte oder beides zugleich berufssozialisiert, haben ja immer geglaubt, es gehe im Internet-Zeitalter primär darum, die Staatsverwaltung unter dem Schlagwort „eGovernment“ kompatibel zu machen mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen und Ansprüchen der Wachstumsindustrie „Informations- und Kommunikationstechnik“. Was heraus kam, waren bürgerferne Missgeburten wie die „Qualifizierte Elektronische Signatur“ von Rechnungen im PDF-Format, ELENA oder die Patientenkarte.

„Jenseits von Parteien, Verbänden und klassischen Medien entwickeln sich fast über Nacht revolutionäre Verhaltensmuster, werden traditionelle Macht- und Entscheidungszentren durch Bypässe umgangen, wird der Einzelne endgültig vom Objekt zum Subjekt politischer Gestaltung. Wer in Posemuckel wohnt, kann heute in China die Welt verändern, umgekehrt natürlich auch.“

Da geht nun doch ein bisschen die Begeisterung über die für ihn neue Erkenntnis mit ihm durch. Sonst bräuchte man nur ein paar des Chinesischen kundige Aktivisten nach Posemuckel zu schicken, um dem Land der roten Kapitalisten die Demokratie zu bringen.

„Die Verfügbarkeit fast aller relevanter Informationen über iPhone und iPad macht politische Debatten anspruchsvoller, weil der Gegner falsche Zahlen oder Zitate umgehend widerlegen und entkräften kann.“

Wenn der Gegner gut vorbereitet in die Debatte ging, war das auch früher möglich. Ich glaube, dass weniger der intellektuelle Anspruch wächst als der Stress des Redners und die Lust der anderen, dessen Rede zu zerpflücken. Außerdem macht es auch mit Gadgets Arbeit, aus den vielen im Netz vagabundierenden Daten die relevanten und vor allem wahren Fakten zu destillieren.

„Die Existenz des Netzes bedeutet eine enorme Beschleunigung… Die Reaktionszeiten für die Politik werden immer kürzer… Die Rückkopplung zwischen Wählern und Gewählten erfolgt in Echtzeit. Auch Politiker, die nicht twittern oder posten, können sich dem nicht entziehen.“

Mit diesem Tempo muss man aber umzugehen lernen. Von einem guten Politiker darf man erwarten, dass er Impulse setzt und seinen Job nicht in rekordverdächtig schnellen Reaktionen sieht, die eine Viertelstunde später schon wieder vergessen und insgesamt irrelevant sind. Wer sich zum Getriebenen machen lässt, hat schon verloren.

„Die neuen Medien … lösen die traditionellen Medien … nicht ab, sondern treten mit ihnen in vielfältige Interaktion. Die damit verbundene Komplexität ist für alle Beteiligten extrem arbeitsintensiv, erlaubt aber auch Formen der Kommunikation und Bürgeransprache, an die früher nicht zu denken war.“

Redet ein Politiker von „Bürgeransprache“, ist klar: Er will nicht vom Bürger angesprochen werden, sondern sie ansprechen. Was Twitter, Facebook & Co. angeht: Gefragt ist nicht der Politiker, der Millionen Follower hat, sondern derjenige, der im Netz liest, was kluge Bürger (Altmaier erwähnt Blogs nicht!) mitzuteilen haben. Die Politik darf nicht den neuen Sendekanal sehen, sondern muss den neuen Empfangskanal einstellen.

„…liegt das Problem mit der Netzpolitik … darin, dass sehr wenige davon fast alles und sehr viele davon fast nichts verstehen. Das liegt daran, dass sich die reale Welt und die virtuelle Welt des Netzes über viele Jahre parallel zueinander entwickelt haben. Schnittstellen zwischen beiden gab es kaum.“

So ist es wohl. Diese beiderseitige Ignoranz und Arroganz rächt sich nun. Keine Seite kann noch auf die andere hochnäsig herabschauen. So wie die Altmaiers mit unglaublicher Verspätung den Schuss hören, müssen auch die Piraten lernen, wie Politik im richtigen Leben funktioniert. Sebastian Nerz und seine Nerdz werden noch merken, wie leicht es ist, an seiner Tastatur schlau daherzureden, und wie schwer, im parlamentarischen Ringen um Mehrheiten gegen ausgebuffte Live-Rhetoriker anzustinken. Vorerst werden Entscheidungen immer noch in stillen, intransparenten Ausschusskämmerlein getroffen und durch Handaufheben besiegelt.

Schaumermal, was herauskommt, wenn Altmaier und die Piraten aller Parteien lernen, Brücken zwischen dem Realen und dem Virtuellen zu schlagen. Wobei das Virtuelle eigentlich nicht irreal ist. Man spricht ja schon seit 20 Jahren von „virtueller Realität“. Der Fortschritt, auf den es ankommt, heißt im Technikerjargon „Augmented Reality“: Nur so hilft die Informationstechnik, sich in der physischen Welt besser zurechtzufinden.

Auch Altmaier hat das inzwischen erkannt:

„Das Netz ist heute nicht mehr rein virtuell, sondern für immer mehr Menschen Teil einer veränderten und erweiterten Wirklichkeit. Die entscheidende Frage im Hinblick auf Partizipation ist nicht mehr „arm oder reich?“, sondern „vernetzt oder nicht?““

Allerdings hätte er sich diesen Seitenhieb auf die ach so schmuddeligen, stinkenden Nerds wirklich sparen können:

„Der Anschluss ans Internet ist heutzutage … von größerer Bedeutung als Pkw, öffentlicher Nahverkehr oder Waschmaschine.“

Was Vorratsdatenspeicherung und Staatstrojaner angeht, zeigt der Unionsmann allerdings noch deutlich, was er nicht begriffen hat:

„So haben Piraten und andere Netzaktivisten leichtes Spiel, wenn sie der Politik unterstellen, die Integrität des Netzes untergraben und seinen Zugang regulieren zu wollen.“

Damit unterstellt er fälschlicherweise den, nun ja, Gegenspielern, sie folgten den ihm geläufigen Spielregeln. Wer so argumentiert, meint eigentlich nur, dass die eigenen Leute nicht clever genug gepokert haben und dass die Gegner nur Punkte machen wollen in einem Spiel. Dabei ist es ihnen ernst – sie wollen nichts unterstellen, sie sind davon überzeugt – während er selbst sie doch nicht wirklich ernst nimmt. Denn „die Politik“, das sind in dieser Rhetorik Altmaiers Leute, die Netzaktivisten dagegen stehen für ihn – trotz aller Partizipationsversprechungen – außerhalb „der Politik“. (Nur: Wo denn sonst?)

„Es ist aber für den gesellschaftlichen Frieden essentiell, dass die Bedürfnisse der Sicherheit und die Freiheit des Netzes in eine für beide Seiten akzeptable Balance gebracht werden.“

Die Sicherheit hat keine Bedürfnisse, und es ist nicht das Netz, das Freiheit will. Die Bürger haben höchstens ein Bedürfnis nach einem Mindestmaß an Sicherheit, aber eben zugleich eines nach Freiheit, im Netz und auf der Straße. Wenn man schon akzeptiert, dass das Netz Teil der Lebenswirklichkeit der Bürger (der Gesellschaft) ist, verbietet es sich, die „Freiheit des Netzes“ doch wieder – wie es Altmaier hier implizit tut – als immanentes Sicherheitsrisiko zu diffamieren. Wer so denkt, muss konsequenterweise erst recht die Bewegungsfreiheit der Bürger im Straßenverkehr einschränken, denn ein Terrorist kann im Netz noch so üble Taten vorbereiten – um sie zu begehen, muss er sich notgedrungen persönlich an den Tatort begeben.

Jedes Mehr an Sicherheit bedeutet ein Weniger an Freiheit. Am sichersten ist der Mensch nun mal im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses untergebracht. Eine Kombination aus Vorbeuge- und Schutzhaft aller potentiellen Täter und Opfer wäre unter Präventionsaspekten also optimal. Vor dieser Prämisse bedeutet Balance zwischen Sicherheit und Freiheit: Wie viele Menschen sperre ich am besten vorsichtshalber ein? Das ist in der „realen“ Welt natürlich ein vollkommen absurder Gedanke, aber im Netz soll er denkbar sein?

Deshalb muss sich die Gesellschaft entscheiden, ob sie ihre freiheitlich-demokratische Grundordnung behalten will oder sie gegen jene sicherheitsfanatisch-totalitäre Grundordnung eintauschen möchte, in die so mancher hysterisch-ängstliche Politiker angesichts der für ihn so teuflisch gefährlichen Muslime am liebsten flüchten würde. (Womit er sich zum nützlichen Idioten machen würde – zum ausführenden Organ just jener Terroristen, die zu bekämpfen er vorgibt.)

FDGO vs. SFTGO – das ist eine Grundsatzentscheidung und keine Frage der Balance.

Wie schreibt doch Altmaier so schön über die Piraten:

„Es sind junge Leute voller Ideale, die die Welt zum Besseren verändern wollen und nur noch nicht wissen, wie.“

Völlig richtig. Da dies aber so ist, täten die Unionspolitiker gut daran, sie nicht zu bevormunden. Und auch nicht als erstes zu betonen, die Freiheit des Netzes müsse Grenzen haben. Die Gesetze, die im realen Leben gelten, gelten auch im Netz. Man muss ihnen nur Geltung verschaffen, unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel.

Politiker, die meinen, im Netz müssten noch strengere Gesetze gelten, weil der Polizei sonst womöglich Erkenntnisse entgingen, die sie im richtigen Leben nie erlangt hätten, haben – um auch diesen Satz noch ein wenig zu redigieren – nicht im Ansatz begriffen, welche gesellschaftliche Dynamik von der Evolution des Internet und der elektronischen Medien ausgeht. 

Sie sind der oder die 3761. Leser/in dieses Beitrags.

2 Antworten auf „Altmaier unter Piraten“

  1. Nach Fefes Hinweis, dass am Altmaier-Beitrag Piraten was lernen könnten, habe ich mich als lernbegieriger Pirat darüber hergemacht. Konnte dann allerdings weder ein wirkliches Saulus-Paulus Erlebnis eines C-Politikers konstatieren noch habe ich Argumente oder Beispiele entnehmen können, um Menschen im Hinblick auf piratische Ziele da abzuholen wo sie sind.
    Sie haben sich denn doch Zeit genommen, die ich neben Demos und Strategiesitzungen nicht fand, einige Verblendungen von dieser aufgemotzten alten Kutsche abzuschrauben. Danke.
    Dass Päpste, auch Fefes, immer auch zu einer gewissen Selbstüberschätzung neigen, wurde ebenfalls deutlich. Danke für diesen Lernanlass!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert