Sie ist mein Jahrgang, die VG Wort. Ich kam wenige Monate nach ihr zur Welt, Ende 1958. Als wir beide 40 waren, kam ich zu ihr, als Gremlin, wie Günther Jauch Gremienmitglieder zu nennen pflegt. 20 Jahre lang, ein Drittel meines Lebens, habe ich meine Kolleginnen und Kollegen ehrenamtlich in der Berufsgruppe 2 vertreten, der vor allem Journalisten und Journalistinnen angehören – zunächst als „Delegierter der Wahrnehmungsberechtigten“, dann 16 Jahre im Verwaltungsrat. Als Geste der Anerkennung hat mir der Vorstand am vorigen Freitag in München diese Silbermünze überreicht …
… und ich gestehe hiermit offen, dass ich sie gerne angenommen habe – wohl wissend, dass dies den nicht ganz unbekannten juristischen Fachautor M.V. auf die Idee bringen könnte, das Abschiedsgeschenk als einen Akt der Veruntreuung von Hellern und Pfennigen zu deuten, die zu 100 Prozent den wahrnehmungsberechtigten Urhebern zustehen und niemandem sonst.
Dass mir solche kruden Gedanken kommen – nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, sondern ob ich mich durch die Annahme der Münze auf juristisch unsicheres Terrain begebe – ist eine der Nebenwirkungen, die dieses wichtige Amt* mit sich brachte. Die meisten Urheber haben ja keine Vorstellung davon, mit was für Leuten man es da im Lauf der Jahre zu tun bekommt. Deshalb möchte ich zum Abschluss meiner Amtszeit ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern.
* Mehr über den Generationswechsel und warum ich der VG Wort noch mehr Mitglieder wünsche, lesen Sie weiter unten in diesem Blogpost.
Die Kunst, eine Vollmacht korrekt auszufüllen
Mit die schönste Erfahrung in meiner Zeit als Verwaltungsrat war, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder uns Gremlins dafür dankbar war, dass wir uns für sie um die Dinge kümmerten. Dieses Vertrauen drückt sich beispielsweise dadurch aus, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen aus meinem Berufsverband, wenn man sie fragt, ob sie zur Mitgliederversammlung kommen, bereitwillig Vollmachten schicken und uns Aktiven die Arbeit überlassen. Ich hätte es zwar noch schöner gefunden, wenn sich ein paar mehr selbst aufgerafft hätten, statt einen Zettel auszufüllen. Aber es schmeichelt einem natürlich schon, wenn auf diesem Zettel ein Post-it mit ein paar Worten des Danks oder Lobs pappt. Das gilt vor allem, wenn der- oder diejenige sonst eine weite, teure Anreise hätte auf sich nehmen müssen. Wer gleich um die Ecke wohnt, darf sich eigentlich schon alle zwei oder vier Jahre mal blicken lassen. (Vielen Dank allen, die das tun!)
Gewisse Zweifel am eigenen Berufsstand kommen allerdings auf, wenn wieder mal jemand beweist, dass schon das Ausfüllen eines recht simplen Formulars seine Alltagstüchtigkeit auf eine harte Probe stellt. Keine Frage, mindestens neun von zehn Kolleginnen und Kollegen machen gar nichts falsch. Die jeweils Zehnten jedoch sind für jede Überraschung gut. Der Klassiker: Erst ausfüllen, dann lesen, was da eigentlich hingehört hätte. Wenn man nicht zur Versammlung fahren möchte, empfiehlt es sich eigentlich, sich nicht selbst zu bevollmächtigen, sondern einen Dritten. Manche merken das noch, streichen dann aber den falschen Eintrag wild durch und krakeln das Richtige drüber.
Nun ist ein so Vollmachtformular ein Dokument von juristischer Bedeutung, und da sollte besser keine Verwirrung aufkommen oder gar Zweifel an der Gültigkeit der Willenserklärung. Manche schreiben nur „F. Müller“ hin und lassen die Adresse und Mitgliedsnummer weg. Von wem kam diese Vollmacht noch mal? Von F. Müller in Berlin oder in Lüdenscheid? Von Franz oder Franziska?
Besonders Schlaue legen in der Redaktion ihren Vordruck auf den Kopierer und verteilen die Ablichtungen an Kollegen, die gar keine Mitglieder sind. Auf den Gedanken, dass ALLE Mitglieder eine vollständige Einladungsmappe bekommen haben dürften, kommen sie nicht. Andere wiederum rupfen den Briefbogen mit Gewalt aus den Tagungsunterlagen, als seien sie mit der Mechanik eines Schnellhefters nicht vertraut oder verstünden nicht, dass irgendeine Verwaltungsangestellte die Vollmachten später archivieren muss und dazu idealerweise intakte Löcher am linken Rand vorfinden sollte und kein zerfetztes Papier. Digital Natives wiederum neigen dazu, im ressourcenschonenden Geiste des Papierlosen Büros ein windschiefes Handyfoto zu schicken, auf dem die das Blatt Papier umgebende Edelholz-Tischplatte perfekt belichtet ist oder die Vollmacht in gelbgrauer Pixelsauce absäuft. Man würde diese Knipser gerne fragen, ob sie wissen, wieviel Arbeit es machen würde, daraus per Photoshop eine les- und abheftbaren DIN-A4-Bogen zu machen und ob sie ernsthaft glauben, dass das dann noch als Dokument anerkannt würde. Den nachhaltigsten Eindruck hat dieses Jahr allerdings ein Kollege bei mir überlassen, der gleich vier Vollmachten schickte. Leider hat jedes Mitglied nur eine Stimme. Nein, streichen wir das „leider“.
„Schluss der Debatte“ aus dem Off
Neben diesen netten Schusseligen gab und gibt es immer einige Mitglieder, deren Argwohn, Misstrauen und Selbstgerechtigkeit keine Grenzen kennen. Die Päpstlichkeit mancher Autoren lässt einen Franziskus geradezu wie einen Lebemann erscheinen. So hatte ich noch kurz vor der Wahl einen länglichen E-Mail-Disput mit einem niedersächsischen Kollegen über die Frage, was von der telematisch-virtuellen Teilnahme an Mitgliederversammlungen zu halten ist. Er hält extrem viel davon, ich aus guten Gründen so gut wie nichts mehr. Dazu muss man wissen, dass während meiner letzten Amtszeit ein Gesetz in Kraft trat, das Verwertungsgesellschaften zwingt, ihre Versammlungen den Mitgliedern als Livestream zugänglich zu machen und eine elektronische Stimmabgabe zu ermöglichen. Digitalisierung schön und gut, aber auch die beste Software, die es zu kaufen gibt, kann eine persönliche Teilnahme nicht ersetzen. Man stelle sich vor, ein Fern-Zuschauer beantragte per Mausklick aus dem Off „Schluss der Debatte“.
Fakt ist: Die einschlägigen Programme sind aus verschiedenen technischen, juristischen und logistischen Gründen keine 1:1-Pendants zur persönlichen Anwesenheit. Dessen ungeachtet forderte der Kollege aus Hannover die Möglichkeit, sich vom Schreibtisch aus live an allen Abstimmungen und auch Wahlen zu beteiligen. Was heute geht, ist lediglich, das Votum zu Anträgen vor Beginn der Versammlung auf elektronischem Weg abzugeben – ähnlich wie bei einer Briefwahl. Nach der Abstimmung im Saal addiert der Notar die Tele-Stimmen zu den Präsenz-Stimmen. Eine Briefwahl zum Verwaltungsrat gibt es allerdings nicht, denn Kandidaturen müssen nicht vorab eingereicht werden. Wahlvorschläge dürfen bis zum letzten Moment auf der Versammlung gemacht werden. Das hat den Sinn, den Mitgliedern die Freiheit zu lassen, sich auch noch spontan um ein Amt zu bewerben, wenn sie während der Aussprache über den Jahresbericht oder der Antragsberatung entdecken, dass sie das besser könnten als die Amtierenden.
Theoretisch könnte man die Entwicklung einer Software in Auftrag geben, die ein Live-Televoting erlaubt wie beim ESC – aber eben unter strikter notarieller Mandatsprüfung. Da die VG Wort sechs Berufsgruppen hat, die gleichzeitig jede für sich ihre Vertreter wählen, bräuchte man allerdings sechs parallele Videostreams für die Vorstellung der Kandidaten, sechs separate Abstimmungskanäle mit sicherer Zwei-Faktor-Authentisierung sowie sechs Notare. Das könnte man versuchen, wenn Geld keine Rolle spielte und ein Bedarf erkennbar wäre.
Der Preis der Digitalisierung
Was glauben Sie, wie viele Mitglieder tatsächlich das jetzige System nutzen? Voriges Jahr haben 14 (in Worten: vierzehn) Personen virtuell aus der Ferne votiert, dieses Jahr 6 (in Worten: sechs). In mehreren Berufsgruppen wird das Angebot überhaupt nicht genutzt. Und: Der Betrieb des Televotings samt notarieller Aufsicht ist schon im derzeitigen Funktionsumfang so teuer, dass es laut Vorstand billiger wäre, jedes dieser Mitglieder mit dem Taxi nach München chauffieren zu lassen – ganz egal, wo in Deutschland sie wohnen. Dem radikaldigitalen Kollegen aus Niedersachsen sind die Kosten jedoch egal. Er liest aus einer EU-Richtlinie den Anspruch heraus, dass die Verwertungsgesellschaften das volle Mitbestimmungsprogramm online anbieten. Er teilte mit, aufgrund der Tatsache, dass die Staatsaufsicht der VG Wort die derzeitige Handhabung durchgehen lasse, habe er eine Vertragsverletzungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik nach Brüssel geschickt. Yeah, Gemeinschaftsrecht rocks! Lasst uns das Geld der Wahrnehmungsberechtigten der Softwareindustrie in den Rachen werfen, um unserer Auslegung nicht zu Ende gedachter Gesetze genüge zu tun! Lasst uns ignorieren, dass es vielen Kolleginnen und Kollegen, die persönlich erscheinen, nicht recht ist, bei ihren Wortmeldungen von Menschen beobachtet zu werden, die selbst unsichtbar im fernen Kämmerlein am PC hocken! Digital ist gut, weil es … nicht analog ist.
Der Witz ist, dass die Liveübertragung so spannend ist, wie Goldfischen im Glas beim Schwimmen zuzuschauen: Die halbe Zeit kann man 150 bis 200 Fremde beim Ausfüllen von Stimmzetteln und beim Warten auf die Ergebnisse beobachten. Wann wieder interessante Redebeiträge kommen, weiß niemand. Deshalb ist die kaum genutzte Vorab-Stimmabgabe immer noch attraktiver als ein Live-Voting: In ein paar Minuten ist man fertig. Könnte man sein Ja oder Nein statt dessen nur gleichzeitig mit den Teilnehmern im Saal übermitteln, säße man genauso lange fest wie diese. Um den nächsten Tagesordnungspunkt nicht zu verpassen, müsste man sich den Samstag bis zum späten Nachmittag freihalten.
Transparenz bis zur 4. Nachkommastelle
Da es die erwähnten rechthaberischen und selbstgerechten Zeitgenossen gibt, möchte ich zum Schluss meiner Ehrenamtskarriere jedenfalls einen klinisch reinen Tisch hinterlassen. Deshalb stelle ich hiermit fest, dass mir bewusst ist, dass die zu meinen Gunsten und den Gunsten meiner acht gleichzeitig aus dem Verwaltungsrat ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen getätigte Aufwendung für die besagten Silbermünzen weder durch das Verwertungsgesellschaftengesetz (VGG), das Urheberrechtsgesetz (UrhG) noch das Urheberrechtswissensgesellschaftsgesetz (UrhWissG) explizit legitimiert ist und die vierte Nachkommastelle des prozentualen Verwaltungskostenanteils nach oben treibt. Immerhin hat eine Feinunze Sterlingsilber allein schon einen Materialwert von 12,95 Euro. Einschließlich Gravuren und Designer-Zierrahmen musste die VG Wort für die neun Exemplare einen dreistelligen Betrag investieren. Ich hätte es kleinlich gefunden, das wirklich dekorative Andenken zurückzuweisen, zumal mein Name bereits eingraviert und somit eine anderweitige Verwendung zu vertretbaren Kosten ausgeschlossen war.
Ich hoffe jetzt, dass die beiden oben erwähnten kritischen Mitglieder mir die Annahme der Münze verzeihen. (Wenn nicht, sei es ihr Problem. Ich bitte, sich als Hintergrundmusik jetzt die Spider Murphy Gang vorzustellen: „Skandal! Moral! Skandal! Moral!“)
Generationswechsel
Seit Samstag tangiert mich das alles nur noch peripher. Die Berufsgruppe 2 im Verwaltungsrat hat ein neues, deutlich jüngeres Team. Mein Nachfolger als Nesthäkchen – ich war mit meinen 60 Jahren tatsächlich der Benjamin in der Runde – könnte mein Sohn sein: Pascal Hesse ist erst 32. Mit dem freien Autor und Digital Native aus Essen sind zwei nette Kolleginnen vom Hörfunk in das Gremium nachgerückt, Gabriele Knetsch aus München und Nora Bauer aus Köln, sowie der Fachjournalist Heinz Wraneschitz aus Mittelfranken. Aus dem bisherigen Team bleiben FAZ-Wirtschaftskorrespondent Rüdiger Köhn sowie (als Stellvertreter) die Freiberufler Rüdiger Lühr (Journalist, Hamburg) und Gernot Krää (Drehbuchautor, München) an Bord. Der Altersdurchschnitt ist nun um elf Jahre von Ende sechzig auf Mitte fünfzig gesunken.
Bevor jetzt irgendwer aus dem Lager der PARTEI-Anhänger oder Youtube-Berufsjugendlichen motzt, die VG Wort sei trotz dieses Generationswechsels noch immer ein Haufen prädigitaler Relikte und künftiger Letztwähler, möchte ich anmerken, dass es für Ehrenämter im Journalismus schlichtweg zu wenig Nachwuchs gibt. Ohne das Engagement der Älteren wäre der Laden nicht handlungsfähig. Wenn ich als Jung-Senior, der sich gerade quasi in den Ehrenamts-Vorruhestand verabschiedet und nur noch gegen Honorar tätig wird, noch ein paar Wünsche äußern darf: Kolleginnen und Kollegen unter 30, unter 40 oder wenigstens unter 50, macht mit! Kümmert Euch um Eure Urheberrechte! Fragt, wenn Ihr etwas nicht versteht! Sagt was, wenn etwas nicht funktioniert! Und glaubt bitte nicht jeden Blödsinn, der über die Verlegerbeteiligung, das Leistungsschutzrecht und Uploadfilter verzapft wird! Auch in Qualitätszeitungen habe ich schon viel Mist gelesen, auch in an sich sehr guten Sendern einigen Unfug gehört.
Vieles habe ich in diesem Blog bereits erklärt, manches werde ich noch erklären müssen, und alles, was sich hier im Lauf der Jahre so angesammelt hat, findet Ihr unter dem Schlagwort „Urheberrecht“. Unterhaltet Euch mit Leuten, die sich als Profi-Urheber mit der Thematik befassen! Ihr findet sie auch in den Gremien der GEMA oder der VG Bild-Kunst. In der digitalen Zukunft müssen wir Urheber interdisziplinär denken und zusammenhalten. Und bleibt immer skeptisch, wenn Ihr Euch in den mit Halbwahrheiten, Missverstandenem und Desinformation gefluteten Echokammern von YouTube und Netzpolitik herumtreibt! Dort ist „Urheberrecht“ ein Reizwort – sehr zur Freude der Großaktionäre US-amerikanischer Internetkonzerne, denen es sehr recht wäre, wenn Content für sie weitgehend „free“ (= gratis) bliebe und sie nicht dazu verdonnert würden, von ihren Werbemilliarden viel an diejenigen abzugeben, die die Texte, Bilder und Musik erschaffen haben.
Mitglied in der VG Wort werden!
Das Wichtigste: Zählt zusammen, wie viel Geld Ihr in den Jahren 2016 bis 2018 von der VG Wort bekommen habt! Waren es mehr als 1200 Euro, stellt einen formlosen Antrag auf Mitgliedschaft in der VG Wort! Liegt Ihr drunter, addiert nach der in Kürze anstehenden Hauptausschüttung oder der METIS-Ausschüttung im September die Zahlungen von 2017 bis 2019, das geht genauso. Als Mitglieder könnt Ihr mitbestimmen, entweder persönlich oder via Vollmacht an DJV- oder DJU-KollegInnen, und bei einer der nächsten Wahlen selbst antreten. Die Ü60-Verwaltungsräte werden ja auch nicht ewig weitermachen wollen. Nach dem Generationswechsel ist vor dem Generationswechsel.
Sie sind der oder die 1937. Leser/in dieses Beitrags.