Das SZ Magazin widmete der Berliner Kollegin Hengameh Yaghoobifarah diese Woche die Titelgeschichte. Die Überschrift „Reizfigur“ ist sehr treffend gewählt. Was folgt, ist ein spannender, interessanter, aber auch herausfordernder Text: Warum fahren wir Medienmenschen eigentlich so auf Provokationen ab? Wer geschickt provoziert, qualifiziert sich fürs Cover. Wenn die Redaktion nicht aufpasst, macht sie sich bei solchen Stories leider auch noch mit einer Sache gemein – was sie nach gängiger Lehrmeinung vermeiden sollte, selbst wenn sie diese Sache gut und legitim findet.
Für alle, die den Text im SZ Magazin nicht gelesen haben und den Namen der Kollegin nicht kennen: Yaghoobifarah ist 29, kommt aus Kiel, ist Tochter iranischer Eltern und arbeitet beim Missy Magazine, einer feministischen Zeitschrift. Nebenher schreibt sie für ein lausiges Honorar von 80 Euro Kolumnen für die taz, außerdem fand sie die Zeit für ein Debüt als Roman-Autorin.
Das alles wäre noch nichts Besonderes. Was die Titelheldin des SZ Magazins aus der wachsenden Zahl an Kolleginnen aus Migrantenfamilien hervorhebt, ist die enorme Aufmerksamkeit, die sie voriges Jahr auf sich zog. Es war eine andere Sorte Aufmerksamkeit als die, derer sich die Kollegin Mai-Thi Nguyen-Kim rühmen kann. Eher die Sorte, mit der am entgegengesetzten Rand des politischen Regenbogens ein Rainer Meyer alias Don Alphonso von sich reden macht: Mit einem ihrer Texte in der taz provozierte Yaghoobifarah nicht nur Polizisten im ganzen Land, sondern verführte sogar Innenheimatminister Horst Seehofer zum Klopfen großer Sprüche. Verklagen werde er sie, tönte der Ingolstädter maulheldenhaft, obwohl ihm klar sein musste, dass es keinen Paragrafen gab, aus dem er eine Klagebefugnis hätte ableiten können. Selbst wenn der Beitrag „All Cops are berufsunfähig“, eine so pauschale wie fiese Schmähkritik an der gesamten Institution Polizei, mit der metaphorischen Strafversetzung aller Polizisten auf die Müllhalde die gesetzlichen Schranken der Meinungsfreiheit durchbrochen hätte, wäre Seehofer immer noch unzuständig gewesen, da er mit Ausnahme der Bundespolizei nicht der Dienstherr der Beamten ist. Kurzum: Yaghoobifarah ist recht geschickt darin, mit ihrer Polemik übers Ziel hinauszuschießen und dabei mit voller Absicht Menschen in Rage zu bringen, ohne sich strafbar zu machen.
Eine Reizfigur ist die rhetorisch gratwandernde Kollegin für viele Mitmenschen aber auch aus anderen Gründen. Etwa, weil sie „sich als non-binär identifiziert“, wie die Redaktion des SZ Magazins das formuliert. Sie arbeitet zwar bei einem explizit feministischen Magazin, will aber im Unterschied zu anderen Feministinnen, auch den meisten queeren, nicht als Frau wahrgenommen werden. Da so ein Fall in der deutschen Sprache und deren Grammatik bisher nicht vorgesehen ist, verfiel die Redaktion auf die eigenwillige Idee, in dem acht Seiten langen Porträt zwar die weibliche Form zu verwenden, aber hinter jedes „sie“, „ihr“ und „ihre“ einen Asterisk zu setzen – „sie*“, *ihr*“, „ihre*“ – und dies als „Genderstern“ zu deklarieren. Die Begründung: Es gebe „im Deutschen bisher kein geschlechtsneutrales Pronomen“.
Das ist, bei aller Liebe, natürlich beides Quatsch. Ad 1) Das Gendersternchen dient bekanntlich gerade nicht dazu, sich vom Frausein oder von der Weiblichkeit zu distanzieren, sondern im Gegenteil der sprachlichen Inklusion der Frauen, und zwar immer dann, wenn es um gemischte Personengruppen geht. So hilft es im Plural das generische Maskulinum zu umgehen; im Singular ist es überflüssig, weil man dann ohnehin die weibliche Form benutzt. Ad 2) Selbstverständlich gibt es ein geschlechtsneutrales Pronomen (es), so wie es einen geschlechtsneutralen bestimmten Artikel gibt (das). Millionen junger Menschen im deutschsprachigen Raum müssen diese sprachliche Neutralisierung in Gestalt eines Diminutivs täglich über sich ergehen lassen – die Mädchen, Maderln, Mädli, Mädle oder Mädel. Leider haben es die Feminist:innen jederlei Geschlechts bisher nicht vermocht, diesem archaischen Relikt einer männerlastigen Sprache etwas entgegenzusetzen. Die Maid, wie sie einst Tony Marshall besang, zählt nicht mal als Versuch, obwohl oder weil sie im Sprachgebrauch ausschließlich mit gönnerhaften Klischee-Attributen wie „schön“ oder „hold“ existiert.
Solche Erwägungen waren der Redaktion offensichtlich fremd. In ihrem Bestreben, es dem Objekt der Titelstory recht zu machen, tat sie einfach so, als lasse sich die unerwünschte Er-Sie-Binarität neutralisieren, indem man 209-mal „sieStern“, „ihrStern“ usw. schreibt. Man stelle sich vor, jemand sagt: „Denke nicht an einen rosa Elefanten“, und dann steht da alle zwei Zeilen „rosa* Elefant*“. Allein, weil es Yaghoobifarah so wichtig ist, sich von anderen Feministinnen und queeren Menschen wenigstens typografisch abzuheben, tut ihr das SZ Magazin den Gefallen und unterwirft sich ihren Mätzchen – was mit fortschreitender Lektüre nicht nur ermüdend wird, sondern nachgerade eine Abwehrhaltung verstärkt, wenn nicht gar erregt.
Dabei sollte man dieses Porträt wirklich lesen, thematisiert es doch am Beispiel dieser Nonbinärperson eine viel wichtigere Frage: Ist es legitim und wünschenswert oder eher kontraproduktiv, mit Provokationen zu polarisieren? Die Autorin des Textes, Mareike Nieberding, vergleicht die porträtierte taz-Kolumnistin einmal mit zweien ihrer Antagonisten, Jan Fleischhauer und Harald Martenstein. Auch über diese Kollegen regen sich viele Menschen auf, denn sie provozieren immer wieder lustvoll und nehmen dabei billigend in Kauf, dass ihre Texte eher zur Spaltung der Gesellschaft beitragen als zum gesellschaftlichen Fortschritt. If/when they go low, we go even lower? Rechtfertigt der Wunsch, Aufmerksamkeit auf legitimen Widerspruch zu lenken, auch verletzende und verstörende Aussagen, die pauschal ganze Gruppen treffen wie Polizist:innen oder ältere deutsche Männer? Ist es denn keine Stigmatisierung, wenn ganz unterschiedliche Menschen über einen Kamm geschoren, abgestempelt und als „Kartoffeln“ verspottet werden? Yaghoobifarah differenziert nämlich nicht. Ihre Waffe ist der Rundumschlag. Wer nicht in das grobe Raster ihrer Kritik passt, solle sich halt nicht gemeint fühlen, wiegelt sie sinngemäß ab. Das Problem ist nur: Gerade an den Sich-getroffen-fühlen-Sollenden prallen rüde Worte regelmäßig ab. Die fühlen sich nach derartigen Verbalattacken nur ermächtigt, auf den groben Klotz einen noch gröberen Keil zu setzen.
Nieberding zitiert an einer Stelle den taz-Kollegen Stefan Reinecke, auf dessen kluge Entgegnung sogar die Wikipedia verweist: »Die Hybris, diskursive Regeln ignorieren zu dürfen, gedeiht offenbar auf dem Humus des Bewusstseins, Betroffene zu repräsentieren, recht gut. … Mit einer Biografie als schwuler, urbaner Migrant lässt sich auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital generieren als mit einem Dasein als Normalo in Eisenhüttenstadt.« Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz, dem man – als Sohn eines Sudanesen – den Migrationshintergrund im Gegensatz zu Yaghoobifarah auf den ersten Blick ansieht, sagte der Reporterin über die umstrittene ACAB-Kolumne: »Der Text war der Sache an sich nicht dienlich, das war bitter.« Nieberding gesteht der Porträtierten jedoch zu, dass sie anders als Martenstein und Fleischhauer ihre verbalen Stinkbomben nicht von oben herab werfe, sondern gegen die Schwerkraft von unten nach oben.
Vielleicht tut an dieser Stelle eine zeitgeschichtliche Einordnung nicht schlecht: Während des Kalten Kriegs, also der 60er, 70er und 80er Jahre, nahm die westdeutsche Gesellschaft (einschließlich Westberlin) Einwanderer je nach Herkunft sehr unterschiedlich wahr. „Gastarbeiter“ aus Südeuropa und vor allem aus Anatolien galten als ungebildet, rückständig und primitiv, während zum Beispiel Migranten, die aus dem Ostblock in den Westen geflüchtet waren, ein hohes Ansehen genossen. Aber auch die Iraner waren gern gesehen: Der Schah und seine Frauen (Soraya, Farah Diba) waren in der Klatschpresse Dauerthema. „Persianer“-Mäntel und „Perserteppiche“ waren Statussymbole. Iranische Ärzte arbeiteten in deutschen Kliniken und ließen sich nieder. Wer nach dem Mullah-Putsch aus „Persien“ hierher kam, stammte meist (wie die Eltern der Protagonistin) aus „besseren Kreisen“ und hatte einen ganz anderen sozialen Status als die Arbeitsmigranten.
Wirft Hengameh Yaghoobifarah also wirklich ihre Stinkbomben von unten hinauf? Stefan Reinecke ist dezidiert anderer Ansicht und attestiert seiner Kollegin einen „Blick von den Anhöhen diskursiver Bildungs- und Sprachmacht nach unten“. Tatsächlich hatten die Lebensumstände, in denen sie aufwuchs, weitaus mehr mit denen der deutschen Mittelschicht gemeinsam als mit denen der migrantischen Arbeiterklasse oder gar der „people of color“, mit denen sie sich ostentativ identifiziert, um sich von jenen abzugrenzen, die sie „weiß“ nennt, obwohl sie selbst nicht weniger weiß ist. Auch ihre Furcht von örtlichen Neonazis während ihrer Teenagerzeit war nichts, was andere linke Jugendliche, der Eltern Deutsche waren, nicht genauso durchgemacht hätten – ganz zu schweigen von Jüdinnen und Juden ihrer Generation, die nicht nur Nazis, sondern auch Muslime zu fürchten gelernt haben. Dieser Aspekt ist nicht unwichtig, denn Yaghoobifarah – darauf verweist auch Nieberding – kann sich als Vertreterin einer linksidentitären Ideologie mächtig über „weiße“ Deutsche echauffieren, die Dreadlocks („Wursthaare“) tragen, was sie für „Kulturrassismus“ hält, und – noch krasser – zum Anlass nimmt, linke Rastagelockte mit White-Supremacy-Faschisten in einen Topf zu werfen (was Erstere verletzt und Letztere schrecklich verharmlost). Wenn man liest, wie sie verbal wütet, glaubt man, dass sie im nächsten Satz deutschen Reggae-Fans die alten Bob-Marley-Platten und die Joints wegnehmen will. Wenn sie dann auch noch allen Ernstes Caterer angreift, die auf Festivals fremdländische Gerichte nachkochen, wirkt sie plötzlich sehr kartoffelig in all ihrer Rechthaberei.
Die in der Szene, in der sich Yaghoobifarah bewegt, beliebte Verwendung des Totschlagarguments „Cultural Appropriation“ erinnert bisweilen fatal an die Denkmuster der rechten Identitären, die ihren Rassismus hinter der euphemistischen Vokabel „Ethnopluralismus“ verstecken, wenn sie Einflüsse aus fremden Kulturkreisen schlechtreden wollen. Kleines Gedankenspiel: Darf jemand mit deutscher Mutter und jamaikanischem Vater (oder umgekehrt) sich die Haare zu verfilzten Würsten drapieren? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, warum? Von dieser Überlegung ist es nur noch ein kurzer Schritt zu jener blutundbodenständigen Ungeisteshaltung, die den monströsen Nürnberger Rassengesetzen den Weg bereitete. Und ein winziger Schritt zu der Frage, ob sich denn etwa integrierte Kinder aus Migrantenfamilien der kulturellen Aneignung schuldig machen, wenn sie das Gleiche tun, das Gleiche essen, die gleiche Musik hören wie ihre Freunde, deren Familien und Urahnen vor 70, 200 oder 1000 Jahren hierher kamen. Musik, Essen, Kunst, Mode – diese Kultursphären sind nicht nur seit jeher von gegenseitigen Einflüssen geprägt, ihre Vermischung war vor allem essentiell bei allen Bemühungen um Völkerverständigung. Wer anno 2021 einen Deutschen in beleidigender Absicht „Kartoffel“ nennt, hat nicht nur kulinarisch einen ähnlich beschränkten Horizont wie meine ewiggestrige Oma, die vor 50 Jahren über „Schpagettifresser“, „Kümmeltürken“ und die „Negermusik“ der „Gammler“ herzog. Jeder Ethnophaulismus fällt freilich auf den zurück, der ihn verwendet.
Mich würde deshalb interessieren, ob wirklich von Diskriminierung und aktuellen Formen rassistischen Denkens Betroffene – sprich: Menschen, die allein wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Haare von Dumpfbacken blöd angequatscht und grundlos von der Polizei kontrolliert werden – es weniger übergriffig finden, wenn sich eine Deutsche mit iranischen Eltern anmaßt, für sie zu sprechen, als wenn dies eine Deutsche mit deutschen Eltern täte. Beides könnte im Prinzip als paternalistisch, hier eher: maternalistisch, ausgelegt werden – von Stilfragen ganz abgesehen.
Pragmatisch betrachtet ist es aber vielleicht auch so, dass unsereiner als alter weißer Kerl schlicht in der Verantwortung steht, anderen alten weißen Kerlen und Kerlinnen den nach rechts verdrehten Kopf geradezurücken. Die Alltagsrassisten kommen aus unserer Mitte, unserem Milieu. Also hören sie vielleicht nicht so leicht weg, wenn wir ihnen sagen: So nicht, Freundchen, bis hierher und nicht weiter! Das schaffen wir aber nicht, indem wir uns die (nicht auf Yaghoobifarahs Mist gewachsene, sondern aus den USA abgeschaute) Forderung zu eigen machen, die Polizei abzuschaffen anstatt sie zu reformieren. Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären: Wer sagt, ALLE Polizisten seien berufsunfähig oder gar Bastarde, kann sich schlecht empören, wenn im nächsten Moment jemand „Lügenpresse“ brüllt oder uns Journalisten wie Trump als „Feinde des Volkes“ diffamiert. Aber so jemand zieht halt die Blicke auf sich.
So hinterlässt die Lektüre des Porträts bei mir das Gefühl, dass sich die Redaktion des SZ Magazins zu sehr von den Gesetzmäßigkeiten der Aufmerksamkeitsökonomie hat leiten lassen. Die Fixierung auf eine Person, die durch bewusste Provokation zur Marke geworden ist, lenkt vom eigentlichen Thema ab: Wie kommen wir zu einem gedeihlichen Miteinander von Menschen verschiedenster Herkünfte und kultureller Hintergründe? Wie bauen wir Vorurteile ab? Wie verhindern wir, dass polarisierende Kommunikation unsere Gesellschaft in einem Maß spaltet, wie wir dies in den USA mit anschauen mussten?
Also geben wir bitte den Jähzornigen keine große Bühne, die lieber gewissenhafte Polizist:innen schroff vor den Kopf stoßen als mit diesen gemeinsam etwas gegen die braunen Seilschaften zu unternehmen, die sich im Polizeiapparat breitmachen. Schreiben wir keine Wutbürger:innen hoch, die friedliche Kiffer beschimpfen, als seien sie der Ku-Klux-Klan. Springen wir nicht über ihre* Stöckchen! Beugen wir uns nicht deren Anspruch auf Deutungshoheit! Das tun wir bei der alten Garde eitler Provokationspublizisten doch auch nicht. Oder sehen wir etwa demnächst Broder, Fleischhauer, Köppel, Matussek, Meyer, Reitschuster, Steingart, Strunz und Tichy auf den Titelseiten?
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