„Mindestlohn treibt die Preise“, konstatierte die Süddeutsche in ihrem gestrigen Aufmacher. Taxifahren könnte im Bundesdurchschnitt um 25 Prozent teurer werden, in manchen Regionen auch um mehr als die Hälfte, schreibt das Blatt unter Berufung auf den Taxler-Präsidenten Michael Müller.
Dann rechnen wir doch mal nach, ob das plausibel ist. Die Fahrer werden derzeit nicht pro Stunde bezahlt, sondern nach Umsatz. Umgerechnet soll der Stundenlohn bei 6 bis 6,50 Euro liegen. Nehmen wir die Mitte, also 6,25 Euro, so steht eine Erhöhung der Lohnkosten um 36 Prozent an. Damit 36 Prozent mehr Lohn die Dienstleistung um 25 Prozent verteuern, müsste der Lohnkostenanteil bei etwa 70 Prozent liegen. Aber ist das so?
Schauen wir mal in einem Taxi-Branchenportal nach den Laufleistungen der Fahrzeuge. Da findet sich etwa aus dem Jahr 2011 eine Größenordnung von 10000 Kilometer im Monat, also rund 330 Kilometer pro Tag. In einer Stadt wie Köln bringt ein Kilometer einen Umsatz von deutlich über zwei Euro. Pro Tag erwirtschaften die Fahrer also fast 700 Euro. Gehen wir von zwei 10-Stunden-Schichten aus, summiert sich der Ecklohn pro Fahrzeug (ohne Lohnnebenkosten) auf 170 Euro. Selbst wenn das Taxi rund um die Uhr im Einsatz wäre, käme der Unternehmer mit 204 Euro hin. Die Steigerung läge bei 50 bis 60 Euro netto pro Kalendertag, also zwischen sieben und neun Prozent des Umsatzes, einem Drittel der angeblich nötigen Preiserhöhung. Das ist mit den Sozialabgaben nicht erklärbar: Die betragen ja nicht das Doppelte des Lohns, sondern eher die Hälfte. Folglich hat der Taxler-Lobbyist die reale Auswirkung des Mindestlohns mal eben verdoppelt: 12 oder 13 Prozent sind nachvollziehbar, 25 Prozent nicht. Das ist Lobbyisten-Dramatik, auf die eine gute Zeitung nicht hereinfallen darf.
Das andere Beispiel der SZ heißt „Obst & Gemüse“. Wenn die Saisonarbeiter tatsächlich wie die Taxifahrer mit bis zu 6,50 Euro entlohnt werden, steigen die Personalkosten also auch hier um ein gutes Drittel. Damit sich daraus Preiserhöhungen von bis zu 20 Prozent ergeben, müsste der Personalkostenanteil am Ladenpreis bei manchen Waren über 50 Prozent liegen. Wenn man die Handelsspannen bei Frischware im Lebensmitteleinzelhandel kennt, ist auch das völlig unplausibel.
Schauen wir uns die in der SZ erwähnten Gurken an: Selbst wenn ein Erntehelfer sich eine halbe Minute Zeit nähme, um liebevoll eine Schlangengurke zu pflücken, hätte er in einer Stunde 120 Exemplare in der Kiste. Kriegt er 2,40 Euro mehr, wären das zwei Cent pro Gurke. Da eine solche Frucht (nicht Bio) zwischen 49 und 99 Cent kostet, reden wir über zwei bis vier Prozent. Da aber gute Arbeiter sehr viel schneller sind, darf man getrost davon ausgehen, dass der Mindestlohn die Gurke nicht einmal um einen Cent verteuert, also gar nicht: Kein Händler, der sein Geschäft versteht, setzt den Preis deshalb von 59 auf 60 Cent hoch. (Vielleicht setzt er ihn auf 69 Cent hoch und verweist zur Rechtfertigung auf die SZ.) Bei Gewürzgurken ist der Personalaufwand zwar höher. Aber wenn eine Arbeitskraft pro Saison Pi mal Daumen 20 Tonnen pflücken kann, also mehr als 50.000 Einmachgläser voll, dann reden wir immer noch von einem niedrigen einstelligen Centbetrag, den ein Glas teurer wird. Der Handel schlägt in solchen Fällen ein Zehnerl auf. Das war es dann aber auch. Also keine Substanz für einen reißerischen Aufmacher in einer überregionalen Qualitätszeitung.
(Wenn man bedenkt, dass die gleichen Gewürzgurken der Marke Specht, die normalerweise für 1,39 oder gar 1,59 Euro im Supermarktregal stehen, manchmal für 88 oder 99 Cent verschleudert werden, dürfte es den Kunden auch nicht um 10 Cent gehen.)
Der Witz ist, dass der SZ-Redakteur mit seinem konkreten Beispiel die Preissteigerungsraten selbst ad absurdum führt: Ein Kilo Spargel werde „vielleicht“ um 20 bis 50 Cent teurer. Wären das wirklich 10 bis 20 Prozent, müsste uns deutscher Spargel für einen bis fünf Euro pro Kilo nachgeschmissen werden. Wer selbst einkaufen geht, weiß, wie realitätsfern das ist.
Vollends grotesk wird die Sache durch den Kommentar desselben Redakteurs. Nachdem er in der Nachricht die PR der Wirtschaftsverbände wie Tatsachen dargestellt hat, bekennt sich er nämlich nun prinzipiell zum Mindestlohn und schreibt, die Arbeitgeber würden „jammern“. Zugleich verwendet er Reizworte wie „Höfesterben“ und zeigt Verständnis für die angebliche Existenzangst der Bauern: „Im Moment spricht viel dafür, dass die Landwirtschaft eine Übergangslösung bekommen wird. … Damit dürfen die Bauern bis Ende 2016 die 8,50 Euro … unterschreiten.“
Nein, guter Mann. Wenn der Mindestlohn gerechtfertigt ist, spricht überhaupt nichts dafür.
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