Vorbei die Zeit, als wir unerkannt durch nächtliche Städte streifen konnten. Wer nicht im Dunkeln tappen will, muss sich online registrieren.
Ich war noch nie in Dörentrup. Dinge, die dort geschehen – Dörentruper TR-Abonnenten mögen mir diese Einschätzung verzeihen – sind selten so weltbewegend, dass ich sie im fernen Bayern zur Kenntnis nehmen müsste. Jetzt hat es die Gemeinde bei Lemgo aber geschafft, nicht nur meine Aufmerksamkeit zu erregen, sondern auch die deutscher Stadtwerke-Direktoren. Und zwar auf eine Weise, dass ich mir geschworen habe, diesen Ort der Finsternis – sollte mich das Schicksal je dorthin verschlagen – vor Einbruch der Dunkelheit schnellstens zu verlassen.
Die Dörentruper sind nämlich Pioniere bei Dial4Light, einer patentierten Handy-Anwendung der Stadtwerke Lemgo, die jeden Überwachungsfetischisten begeistern dürfte. Mit der treuherzigen Begründung, so ließen sich Kosten und CO2 sparen, hat die Kommune das On-Demand-Prinzip für Straßenlaternen eingeführt. Wer des Nachts nicht stolpern will, wer ohne Taschenlampe Straßennamen und Hausnummern entziffern oder lichtscheuem Gesindel aus dem Weg gehen möchte, der muss via Telefon eine Zeitschaltuhr aktivieren, die den gewünschten Straßenabschnitt eine Viertelstunde lang erhellt. Die Schaltbefugnis ist auf geschäftsfähige Bürger beschränkt, die sich online registriert haben: Name, Adresse, eine Rufnummer (entweder Handy oder Festnetz). Keinesfalls darf man seine Nummer unterdrücken, sein Handy vergessen oder den Akku leernudeln, sonst tappt man im Dunkeln. Jede „Lichtbuchung“ wird protokolliert und zeichnet die Spur eines taghell erleuchteten Bewegungsprofils. Offiziell dient die Datensammelei dem Schutz vor Missbrauch. Missbrauch von was? Fällt den Dörentruper Halbstarken nichts Lustigeres ein, als im 15-Minuten-Takt per Handy das Licht in der Alten Dorfstraße anzuknipsen?
Nicht einmal Wolfgang Schäuble würde eine Vorratsspeicherung von Bewegungsdaten unbescholtener Bürger aus solch nichtigem Anlass rechtfertigen. Indes: Sollte sich das „zeitgemäße Produkt“ Dial4Light, das andere Städte bei den Stadtwerken Lemgo in Lizenz erwerben können, bundesweit durchsetzen, dürfte der Innenminister bald wissen, in welchen Gassen sich Deutschlands Handybesitzer nachts herumtreiben. Dabei scheinen die Erfinder viel banalere Absichten gehabt zu haben: Das Anmeldeverfahren erlaubt es teilnehmenden Kommunen, fürs öffentliche Straßenlicht Gebühren zu erheben. Die Stadt Rahden beispielsweise testet gerade, ob es ihren Bürgern 3,50 Euro pro Stunde wert ist, ein Stückchen Innenstadt zu illuminieren.
Ein Erfolg des Systems ist kaum zu befürchten – nicht nur, weil Datenschützer auf die Barrikaden gehen werden. Wenn sich die erste Rentnerin nach dem Besuch des Vespergottesdienstes den Oberschenkelhals gebrochen hat, weil sie kein Handy besitzt, wird „Bild“ für sie kämpfen. Wir Autofahrer haben den ADAC, der kein System dulden wird, das nur Ortskundigen heimleuchtet: Der Fremde müsste an seinem Reiseziel dem Dial4Light-Sprachcomputer an allen Abzweigungen sechsstellige Codes einsagen, die er tunlichst vorher online recherchiert haben sollte. Um nicht unfair zu sein: Die Ziffern kleben auch auf den Laternenmasten. Man kann also in tiefschwarzer Nacht bei strömendem Regen aussteigen, um sie im Schein der Taschenlampe abzulesen. Und darüber zu sinnieren, ob bei den Stadtwerkern von Lemgo noch alle Lampen brennen.
ULF J. FROITZHEIM, freier Journalist, empfiehlt den Erfindern solch „zeitgemäßer Produkte“ wie Dial4Light ein gelegentliches „Think-on-Demand“ .
Aus der Technology Review 8/2009, Kolumne FROITZELEIEN