Computer verdrängen das Zelluloid. Verleiher schicken Filme per Glasfaser.
Hollywood mutet seinen Schauspielern oft eine Menge zu. Mal müssen sie sich spindeldürr hungern, dann sollen sie sich einen Wanst anfressen oder eine Glatze scheren lassen. Der Darsteller Gary Sinise mußte sich für den Film „Forrest Gump“ sogar ein Bein amputieren lassen. Zumindest erscheint es dem Zuschauer so. Die Operation wurde freilich nicht von Chirurgen ausgeführt, sondern von Special-Effect-Virtuosen bei Industrial Light & Magic (ILM), einem Unternehmen der Lucasfilm-Gruppe.
Den Lorbeer für diesen neuen Coup teilt sich ILM mit dem Computerhersteller Silicon Graphics Inc. (SGI), der dem Trickstudio stets die neuesten Grafikrechner liefert. Seit ihrer Zusammenarbeit bei der Produktion des Kassenschlagers „Jurassic Park“ arbeiten beide Unternehmen im Team – im Rahmen des Entwicklungsprojekts „Joint Environment for Digital Imaging“ (Jedi). Dabei digitalisiert ein schneller, hochauflösender Scanner Filmsequenzen, die auf normalem Negativmaterial gedreht sind; wenn die Bilder am Computermonitor fertig manipuliert, kombiniert und retuschiert sind, belichtet sie die Maschine direkt auf eine Negativfilmrolle, die dann ganz konventionell ins Kopierwerk geschickt wird.
Die Methoden der Jedi-Ritter erobern weltweit das Filmgewerbe. Zunehmend entdeckt die Branche die Vorteile der Digitalisierung. Die Bits und Pixels, in die der Film fast schon routinemäßig zerlegt wird, sind nämlich als Rohmaterial wesentlich vielseitiger einsetzbar als altmodisches Zelluloid. Erfolgsregisseur Steven Spielberg beispielsweise ließ sich die „Jurassic Park“-Sequenzen mit den computergenerierten Sauriern von der kalifornischen Telefongesellschaft Pacific Bell (PacBell) elektronisch an die europäischen Drehorte von „Schindlers Liste“ nachsenden. Am Bildschirm konnte der Regisseur prüfen, ob seine Anweisungen richtig umgesetzt worden waren.
Seit wenigen Monaten haben auch Europas Filmproduzenten Zugriff auf die neue Bearbeitungstechnik. Die Kinotechnik-Gruppe Arnold & Richter (Arri) in München hat als erster Dienstleister einen „Cineon“-Rechner von Kodak angeschafft. Dabei handelt es sich um die konsequente Weiterentwicklung des digitalen Bildverarbeitungssystems „Premier“ von Kodak, das vor vier Jahren erstmals manipulierte Standbilder als Pseudo-Originale auf 35-Millimeter-Film ausgeben konnte.
Der Computer setzt sich auch im Kino durch. Die texanische Spectradyne Inc., die weltweit über 700.000 Hotelzimmer mit Spielfilmen versorgt, schafft derzeit in Amerika die Videokassette ab. Bei dem Projekt, an dem auch der Dienstleistungsmulti EDS Electronic Data Systems Corp. beteiligt ist, werden die Hollywood-Streifen zentral in Plano bei Dallas digitalisiert, komprimiert, archiviert und per Satellit an die Vertragshotels von Spectradyne übertragen. Dort entschlüsseln schnelle Silicon-Graphics-Computer die Signale und speichern die Filme auf großvolumigen Festplatten.
Vorteil der Digitaltechnik: Der Gast kann sein Programm individuell starten. Das System stürzt auch dann nicht ab, wenn 32 Hotelgäste gleichzeitig denselben Kinohit abrufen. Damit erspart sich Spectradyne das zeitraubende Kopieren und Ausliefern unzähliger Videobänder sowie die Wartung der Recorder. Außerdem können die Hoteliers eine größere Auswahl bieten und schneller auf eine veränderte Nachfrage reagieren.
Künftig könnte auch noch die Digitalisierung bei EDS entfallen, wenn das Material dort bereits mit 45 Megabit pro Sekunde als Datenstrom einträfe. PacBell bastelt gemeinsam mit dem französischen Elektronikkonzern Alcatel am „Kino der Zukunft“, wie das Projekt offiziell heißt. Die Basistechnik stammt aus der Fernsehbranche: das hochauflösende Fernsehen HDTV. Während sich Medienexperten in Europa, Amerika und Japan endlose Debatten um künftige Ausstrahlungsnormen liefern, hat PacBell mit einem HDTV-Prototyp bereits die Grenzen des Heimempfängers überschritten und die neueste Version des Films „Dracula“ in ein Kino übertragen. Dort projizierte ein hochauflösender TV-Projektor („Beamer“) den Gruselfilm auf eine große Leinwand.
Die Belieferung der Lichtspielhäuser per Glasfaserkabel soll in wenigen Jahren das Kopieren von Filmrollen überflüssig machen. Zudem würde der fortgeschrittene Videoverteildienst ABVS (Advanced Broadcast Video Service) jeden Kinobesitzer in die Lage versetzen, sein Programm beliebig oft zu wechseln oder bei Bedarf auch Musik- und Sportereignisse live in Großprojektion zu zeigen. Projektmanager Rich Mizer jubelt über die Vorzüge von ABVS: Normale Filme wären schon nach ein paar Vorführungen mit Kratzern, Fingerabdrücke oder Cola-Spritzern übersät. Sein verschleißfreies „digitales Zelluloid“ hingegen liefere stets „brillante Bilder und kristallklaren Ton“.
Davon sind deutsche Cineasten noch nicht überzeugt. Detlef Roßmann, Chef des Oldenburger „Casablanca“-Filmtheaters und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Kino in Hamburg, rechnet nicht damit, „daß innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre Praxisreife erzielt werden kann“. HDTV sei „in der Auflösung immer noch schlechter als ein sehr guter Kinofilm“. Handliche Kameras liefern allerdings schon die ersten digitalen Signale. Auf der Photokina in Köln zeigte die Eastman Kodak Co. soeben ihre Fotokamera DCS 460, eine digitale Version der Nikon-Spiegelreflex F-90, die auf kompakten Notebook-Speicherelementen die Bilddaten sammelt (Wirtschaftswoche 39/1994). Beim Tempo, das die Computertechnik derzeit vorlegt, rücken auch Bewegtbilder im vollen 35-Millimeter-Format in greifbare Nähe. Schon bisher liegen Fotografie und Filmerei technisch sehr nah beieinander: Seit der Ur-„Leica“ verwenden beide dasselbe Filmformat.
Ulf J. Froitzheim