Titelgeschichte highTech 11/1990
Entfesselte Querdenker
Seit Generationen kennen deutsche Ingenieure nur ein Ziel: technische Perfektion durch immer genaueres Messen, Steuern und Regeln. Jetzt bringt Fuzzy Logic den größten Stolz – und möglicherweise auch wichtige Märkte – unserer Industrie ins Wanken. Neue Geräte aus Japan arbeiten mit groben Daten viel billiger und besser.
Zweifall ist nicht jedermanns Fall – ein kleines, verträumtes Nest in der Nordeifel, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, wo ein Ausflug in die Kaiserstadt Aachen schon den Touch von großer, weiter Welt vermittelt. Wenn da nicht das Sporthotel zum Walde wäre: unprätentiös, bieder, umgeben von fast trügerischer Ruhe – ein idealer Tagungsort für Leute, die Kongresse nicht der Gaudi halber frequentieren. In diesem scheinbaren Hort gepflegter Langeweile infiziert der Aachener Betriebswirtschaftsprofessor Hans-Jürgen Zimmermann regelmäßig technische Führungskräfte aus der deutschen Industrie mit revolutionärem Gedankengut – in der Hoffnung, dass die neuen Ideen bald auch in den Betrieben grassieren, die ihre Damen und Herren zwei Wochen lang hierher in den Wald geschickt haben. Das japanische Fuzzy-Fieber hat Deutschland erreicht, Zweifall ist der heißeste Infektionsherd.
Sendai ist von ganz anderem Kaliber: gelegen auf der Insel Honshu, runde 300 Kilometer nördlich von Tokio, eine florierende Industrie- und Hafenstadt von der Größe Frankfurts. Das Faszinierendste an diesem Ort ist seine vor gut drei Jahren eingeweihte Untergrundbahn. Sie hat Sendai binnen kürzester Zeit zu einem Mekka der Neuzeit werden lassen. Aus aller Welt pilgern Wissenschaftler und Industriemanager hierher, um sich von den geheimnisumwitterten Vorzügen dieses äußerlich eher unauffälligen Massentransportmittels zu überzeugen. Wer die Farbbroschüre »age of tomorrow« der Herstellerfirma Hitachi aufmerksam studiert, entdeckt auf einem der Fotos einen sehr europäisch aussehenden Herrn: Professor Zimmermann aus Aachen, den Guru der kleinen deutschen Fuzzy-Gemeinde.
Zurück nach Zweifall: »Mit jedem Jahr, mit jedem Monat, den wir jetzt noch verlieren, wird es schwerer, den Vorsprung der Japaner einzuholen«, warnt der Inhaber des Lehrstuhls für Operations Research an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) beschwörend, »wenn das überhaupt noch möglich ist.« Was den Aachener Betriebswirtschaftler und Diplomingenieur so beunruhigt, ist eine Entwicklung, die in den vergangenen Monaten außerordentlich an Tempo zugelegt hat und jetzt altgewohnte Denkweisen europäischer Ingenieure grundlegend in Frage stellt.
Die japanische Industrie überschwemmt plötzlich den Markt mit einer Fülle von Produkten, deren Funktionsprinzip mehr oder weniger dem menschlichen Handeln nachempfunden ist. Neuartige Hardware und Software machen etwas wahr, was bis vor kurzem noch als undenkbar galt: Maschinen treffen blitzschnell Entscheidungen aufgrund einer Kombination verschiedenster Messwerte, wobei diese nicht präziser eingegeben werden müssen als die Schätzung eines erfahrenen Menschen. Die deutsche Konkurrenz aber hat dieser vom Mega-Ministerium Miti massiv unterstützten Offensive, wie es scheint, bisher nicht viel entgegenzusetzen. Fuzzy Logic, die neue Logik der Grauwerte, schickt sich an, die simple Schwarzweiß-Struktur herkömmlicher Digitalchips aus den Geräten zu verdrängen, ja sogar komplette Industriezweige umzukrempeln.
Da ist die U-Bahn in Sendai nur ein besonders anschauliches Beispiel: Anfahren, Beschleunigen und Bremsen regelt die »Predictive Fuzzy Control« von Hitachi so sanft, dass sich viele Fahrgäste auf den Stehplätzen inzwischen gar nicht mehr festhalten. Der Mann im Führerstand, dessen vergleichsweise grobes Fingerspitzengefühl nicht mehr gefragt ist, wird fürs Nichtstun bezahlt. Nur noch in unvorhersehbaren Gefahrensituationen, die von der Sensorik eventuell nicht erfasst werden, ist der Chauffeur gefordert. Wenn auf einmal ein Selbstmörder auf den Schienen liegt und der Zug nicht von selbst anhält, muss er den roten Knopf drücken und damit die – ebenfalls fuzzy-gesteuerte – Notbremse auslösen. Dass die neue Steuerung auch noch wirtschaftlicher mit der Energie umgeht, versteht sich fast von selbst.
An Vielseitigkeit ist die Fuzzy-Technik kaum zu übertreffen. Toshiba verkürzt mit ihr ärgerliche Wartezeiten am Fahrstuhl, Waschmaschinen von Matsushita, Hitachi und Sanyo wählen mit Sensoren und Fuzzy Logic automatisch das sparsamste und effektivste Waschprogramm, Sanyo verhindert mit einem Fuzzy-Chip unscharfe und falsch belichtete Videoaufnahmen, ein Sony-Taschencomputer erkennt mit Fuzzy-Methoden über 3000 verschiedene Kanji-Schriftzeichen.
Die Fuzzy-Welle rollt so heftig auf die fernöstlichen Verbraucher zu, dass selbst Anhänger der unscharfen Logik den Verdacht hegen, viele der jüngst vorgestellten Produkte verdienten den Namen eigentlich gar nicht. Tatsächlich haben findige Marketiers das Schlagwort »fadji« – so die japanische Aussprache – zwischen Sapporo und Kagoshima derart populär gemacht, dass Elektrogeschäfte mit eigens eingerichteten Fuzzy-Abteilungen Zeitgeist und Innovationsfreude zu demonstrieren versuchen.
Altgediente Verkäufer verstehen die Welt nicht mehr, so gut funktioniert die Kampagne. »Unsere Kunden scheinen zu glauben, dass jedes fuzzy-gesteuerte Produkt gut ist«, staunt ein Angestellter des Händlers Shintaku in Tokios Elektronik-Einkaufsviertel Akihabara. Das Jahr 1990 gilt bereits als Fuzzy-Jahr. Die seltsamste Blüte des Booms hat sich der geistige Vater der Fuzzy-Theorie, Berkeley-Professor Lotfi Zadeh (siehe Interview Seite 50) jüngst in Japan gepflückt: ein Klopapier mit dem Markennamen »Fuzzy«.
So viel Euphorie im Fernen Osten das Thema umgibt, so unterkühlt ist bislang die Reaktion in der westlichen Welt. Erst wenige Hochschulen befassen sich mit Zadehs Ideen, in der Industrie tüfteln nur Außenseiter und Querdenker – oft unbemerkt von Kollegen in anderen Abteilungen – an Fuzzy-Konzepten. Erklärte Gegner aber, denen der vielfache Missbrauch des Etiketts »fuzzy« für primitive Anwendungen als Argumentationshilfe sehr zupass kommt, hat die neue Technologie genug. »Von Unschärfe will in der Industrie kaum jemand etwas wissen«, seufzt Constantin von Altrocker, der sich als Assistent von Deutschlands Fuzzy-Pionier Zimmermann der Aufklärungsarbeit auf diesem Gebiet verschrieben hat.
Nicht allein Ingenieuren, die detailverliebt an immer präziseren Messmethoden feilen, sind die Vorteile der unscharfen Logik nur schwer zu vermitteln. Auch viele auf exaktes Arbeiten gedrillte Mathematiker, die lieber mit der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie rechnen, bringen wenig Verständnis für den unkonventionellen Ansatz von Professor Zadeh auf, nach dem hohe Komplexität mit hoher Präzision gar nicht vereinbar ist. Kurzum: Das Postulat, überall dort auf übertriebene Genauigkeit zu verzichten, wo sie für die Lösung eines Problems nicht lebensnotwendig ist, stellt das traditionelle Weltbild vieler Europäer – aber auch Amerikaner – völlig auf den Kopf.
Einer, der sich von den Fesseln des alten Denkens befreit hat, ist Horst Weber, Leiter des Ressorts Planungs- und Interpretationssysteme innerhalb der Dornier-Hauptabteilung für wissensbasierte Systeme in Friedrichshafen. Sein Kritikpunkt: Viele Unternehmen planen mit Daten, die nur scheinbar exakt sind. »Da wird ein Millimetermaß genommen, um Kurven auszulesen, die eigentlich mit riesigen Toleranzbändern versehen sind«, schüttelt der Informatikexperte den Kopf, »das ist doch Quark, da kann ich’s gleich mit dem Daumen ablesen.«
Weber und seine Kollegen nutzen die Fuzzy-Theorie – nicht ausschließlich, sondern je nach Anwendung – in Lagefeststellungs-Systemen und in betriebswirtschaftlicher Planungssoftware. Weil die interne Manpower aber nicht für alle anstehenden Aufgaben ausreicht, pflegt Dornier mit der Technischen Universität Braunschweig, der zweiten bundesdeutschen Fuzzy-Hochburg, einen regen Technologietransfer: Der Informatik-Professor Rudolf Kruse schickt interessierte Diplomanden an den Bodensee, wo sie unter Praxisbedingungen an solchen wissensbasierten Systemen arbeiten können. Involviert sind auch der Bereich Sicherungstechnik der Siemens AG und das Münchner Softwarehaus Systemtechnik Berner & Mattner GmbH.
Gerade in der Luft- und Raumfahrtbranche, so schätzen Experten in den USA, könnte in den kommenden Jahren ein Schwerpunkt der Fuzzy-Forschung liegen. Bereits seit fünf Jahren befassen sich Experten der US-Weltraumbehörde Nasa mit den Möglichkeiten, unscharfe Logik zur Automatisierung komplexer Vorgänge zu nutzen, die heute noch weitgehend manuell gesteuert werden müssen – beispielsweise des Andockens der Space Shuttle an die künftige Raumstation. Und der weltweit führende Luftfahrtkonzern Boeing gab dem US-Softwarespezialisten James Bezdek Gelegenheit, die Anwendbarkeit der Fuzzy-Set-Theorie und der sogenannten neuronalen Netze für die automatische Mustererkennung zu erforschen.
Beim Euro-Konsortium Airbus Industrie in Toulouse dagegen löst das besagte Stichwort lediglich verbales Schulterzucken aus, obwohl mit Didier Dubois und Henri Prade Frankreichs führende Fuzzylogen praktisch direkt vor der Haustür des Aerospace-Giganten residieren. Eine beliebige Stichprobe bei deutschen Betrieben, die demnächst auf dem Weltmarkt mit japanischen Konkurrenzprodukten auf Fuzzy-Basis zu rechnen haben, zeigt ebenfalls einen hohen Grad von Ignoranz gegenüber der neuen Technologie. Viele Maschinenbauer wissen mit dem Begriff überhaupt nichts anzufangen, die deutsch-amerikanische Aufzugfirma Otis GmbH in Berlin reagiert auf die Frage nach Fuzzy-Plänen so zugeknöpft, als gelte es, die Kronjuwelen zu verteidigen, und die Grundig AG verweist lediglich auf den japanischen Fuzzy-Camcorder von Sanyo-Fisher. Die auf dem Gebiet der »weißen Ware« führenden Anbieter Bosch-Siemens Hausgeräte GmbH und AEG stehen mit leeren Händen da, wenn Matsushita-Panasonic mit der Fuzzy-Waschmaschine »Aisaigo« – Monatsausstoß im Oktober: 100 000 Stück – in den Export geht.
Aber nicht alle Betroffenen nehmen die rapide Entwicklung in Japan auf die leichte Schulter. So weiß Otto Holzinger, Abteilungsdirektor Entwicklungskoordination und Vorentwicklung Kraftfahrzeug-Ausrüstung bei der Robert Bosch GmbH, sehr wohl um die potentiellen Vorzüge der Fuzzy-Technologie: »Alle Welt arbeitet daran, zu Recht, wie ich meine.« Mit der Philosophie dieser Technik hat der Stuttgarter Chefentwickler jedenfalls keine Probleme – viele analog gesteuerte Bosch-Produkte könnten in gewissem Sinne auch als »Fuzzy« gelten.
Bei einer internen Analyse bewerteten Konzernforscher die unscharfe Logik als durchaus interessant – allerdings mit der Einschränkung, Fuzzy Logic solle als »ergänzende Technik betrachtet werden«, die besonders im Zusammenhang mit Entwicklungen auf dem Gebiet der neuronalen Netze (einer dem Gehirn nachempfundenen Computerarchitektur) zu sehen sei. Aus Holzingers Sicht sind die bisher verfügbaren Fuzzy-Chips, wie sie beispielsweise von der japanischen Omron Corp. und der kalifornischen Togai InfraLogic Inc. angeboten werden, noch nicht ausgereift genug, um sie in komplexere oder sicherheitsrelevante Autoteile zu integrieren: »Heute könnte man Schaltungen, die in größerem Umfang Fuzzy Logic benutzen, nicht berechnen.«
In Wartestellung hat sich auch Gerd Bernlöhr begeben. Der Entwicklungsleiter des Erlanger Messgeräteherstellers Gossen macht einen Einsatz von Fuzzy-Bauelementen von konkreten Produktvorteilen abhängig: »Nur für einen technischen Gag ohne Kundennutzen würden wir das nicht machen.« Und Professor Franz-Josef Radermacher, Chef des industrienahen Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW) in Ulm, hält einen unüberlegten Einsatz simpler Unschärfechips für kontraproduktiv oder gar gefährlich, »es sei denn, man kann sie mikroprogrammieren« und damit einem individuellen Problem anpassen.
Während das Bundesministerium für Forschung und Technologie in Bonn – offensichtlich durch die Aktivitäten der Japaner und Amerikaner auf dem Gebiet der Fuzzy Logic aufgeschreckt – die Szene zumindest aus der Ferne beobachtet, hat die französische Regierung bereits konkrete Schritte eingeleitet, um den technologischen Rückstand ihrer Industrie möglichst schnell auszugleichen. Im Dezember startet eine Gruppe hochkarätiger Forschungsmanager zu einer zweiwöchigen, vom Außenministerium organisierten Bildungsreise zu Nippons führenden Labors.
Derweil rührt Hans-Jürgen Zimmermann in Deutschland die Trommel für die Fuzzy-Idee. Die Teilnehmer des »Aachener Kontaktseminars« in Zweifall, das in erster Linie der betriebswirtschaftlichen Weiterbildung dient, lernen die Zadeh’sche Theorie auf dem Umweg über Entscheidungstheorien und Entscheidungsunterstützungs-Software kennen. Wenn Assistent Constantin von Altrock dann das brandneue, am Institut entwickelte Fuzzy-Computerprogramm vorführt, mit dem sowohl Prozesssteuerung als auch Expertensysteme auf einer normalen Workstation entwickelt werden können, sind die Ingenieure von Bayer, BASF, Enka oder Teves sichtlich angetan.
Die Aachener verhandeln inzwischen mit mehreren Unternehmen aus der Chemie- und der Elektronikbranche über einen Praxistest ihrer vielseitigen Software. Verläuft das Pilotprojekt erfolgreich, müssen sich die deutschen Fuzzy-Pioniere vielleicht schon bald nicht mehr den Mund fusslig reden.
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