Lernfähige Software: Raffiniert simpel

Mit Programmen, die ihre Regeln selbst finden, knüpft die Industrie intelligente Netze.

Wenn im kommenden Februar die Raumfähre Columbia dröhnend vom Kennedy Space Center in Florida abhebt, beginnen nicht nur für die beiden deutschen Astronauten an Bord ein paar lehrreiche Tage. Im Weltraumlabor Spacelab, das diesmal die Ladebucht des Shuttle füllt, bekommt auch ein kleiner Rotex-Roboter eine Lektion erteilt. Das Unterrichtsfach heißt „Zugreifen in der Schwerelosigkeit“‚ – schon für den ungleich flexibleren Menschen eine äußerst gewöhnungsbedürftige Sache.

WirtschaftsWoche 41/1992

Rotex funktioniert anders als andere Roboter: Er wird nicht mit den üblichen digitalen Befehlssätzen programmiert, sondern trainiert die kniffligen Griffe nach freischwebenden Bauklötzen selbst mit Hilfe eines künstlichen neuronalen Netzes – einer raffiniert simplen Software, die – dem Lernmechanismus des menschlichen Gehirns nachempfunden – auf dem Prinzip
von Versuch und Irrtum aufgebaut ist. Der Weltraumausflug dient vor allem als Test, wie weit Rotex ist. Sein Schöpfer, Professor Gerhard Hirzinger, Co·Direktor des Instituts für Robotik und Systemdynamik bei der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen, verfolgt durchaus bodennahe Ziele.

Neuerdings rückt mehr und mehr die Automatisierungstechnik in den Blickpunkt der Forscher, nachdem neuronale Netze in anderen Bereichen bereits geknüpft wurden: Die lernfähige Software hilft beim maschinellen Lesen von Handschriften, entlarvt in der Finanzwelt Scheckfälscher und Kreditschwindler. sortiert in Fabriken fehlerhafte Produkte aus oder schützt Benutzer von Personalcomputern vor Viren.

Die Neuroinformatiker wollen nicht die klassische Datenverarbeitung ersetzen. Sie nehmen sich vielmehr all jener Probleme an, die mit konventioneller Software nicht befriedigend gelöst werden können. Damit verbunden ist der Abschied von der überkommenen Auffassung, daß jede technische Lösung auf einem theoretischen Fundament verankert sein muß.

Für den strenggläubigen Naturwissenschaftler ist das neuronale Netz ein Horror: Warum es beispielsweise in der Muster- und Bilderkennung extrem hohe Trefferquoten erzielt, ist nicht konkret nachvollziehbar. Auch vielen Mittelständlern ist das suspekt, ergo lassen sie lieber die Finger von der Sache. „Die Leute wollen entweder eine Garantie, daß es sofort funktioniert“, lästert Hans Geiger, Entwicklungsleiter der Unterschleißheimer Kratzer Automatisierung GmbH, „oder es darf nix kosten.“

Die Fähigkeit der Netze, sich ohne festgelegte Algorithmen. also Rechenvorschriften, auf unvorhersehbare Situationen einzustellen, beeindruckte auf jeden Fall die Experten des Bonner Forschungsministeriums. Nachdem sie bereits zwischen 1987 und 1991 mehr als elf Millionen Mark in das Grundlagenprogramm „Informationsverarbeitung in neuronaler Architektur (Ina) gesteckt hatten, investieren sie bis 1995 noch einmal mindestens 45 Millionen Mark. Sie kommen zehn interdisziplinären Arbeitsgruppen zugute, zu denen sich 40 Teams von Informatikern, Physikern, Hirnforschern und Biologen zusammengeschlossen haben.

Nach der Grundlagenforschung sind nun anwendungsnahe Entwicklungen gefragt. So reicht das Spektrum der Teilnehmer von Universitäts- und Fraunhofer-Instituten über Softwarehäuser bis hin zu den Industriegiganten Daimler-Benz und Siemens. Das Interesse der Großunternehmen spiegelt sich in der Auswahl der Projektthemen wider: Eine zentrale Rolle spielt die Koordination der Bewegungsabläufe von Robotern. Im Raumfahrtzentrum der DLR in Oberpfaffenhofen befaßt sich Gerhard Hirzinger deshalb nicht nur mit dem automatischen Astronauten. Gemeinsam mit der Zentralen Forschung und Entwicklung der Siemens AG sowie Informatikern der Technischen Universität München und der Universität Dortmund arbeitet der Mathematiker an „Neres“, der Neuronalen Regelung und Steuerung für Industrieroboter.

Die Kooperationspartner wollen dem Roboter nicht nur schnellere und präzisere Bewegungen antrainieren, sondern ihn auch anhand eines Umweltmodells selbst die optimale Position zum Zupacken finden lassen. Wenn Neres dann eines Tages noch mit Spina verknüpft wird, kann der elektronische Arbeiter sogar mündliche Anweisungen entgegennehmen. Ziel dieses Projekts „Sprachverstehen in neuronaler Architektur“ ist nämlich, Robotern das Hören so gut beizubringen, daß sie sogar in Fabrikhallen fließend gesprochene Sätze eines x-beliebigen Menschen kapieren.

Während Akustikexperten der Universitäten Göttingen, Bochum und München gemeinsam mit dem Unternehmen Kratzer an Spina tüfteln, baut der Düsseldorfer Professor Rolf Eckmiller einen handelsüblichen sechsachsigen Lenkarmroboter von Siemens zum neuronalen Tausendsassa um. Unter dem Namen Senrob wird die Maschine zu einem „sensorisch geführten Roboter mit handlungsplanender, auf Methoden der Künstlichen Intelligenz basierender Komponente“ aufgerüstet, so die umständliche Projektbezeichnung. Neuronale Netze sollen seine sämtlichen Bewegungsabläufe steuern, allerdings unterstützt von einem traditionellen Expertensystem. Senrob soll 1994 fertig sein, selber seine Bahn planen und unvorhergesehenen Hindernissen ausweichen können. Parallel zum Senrob-Projekt hat das Daimler-Benz-Forschungszentrum in Ulm ein mobiles neuronales System im Visier, das sich per Bilderkennung an seiner Umgebung orientiert.

In weniger anspruchsvollen Anwendungen des maschinellen Sehens hat sich die Neurotechnik bereits bewährt. Software wie die von Geiger und seinem Team entwickelte Neurovision erkennt bewegte Objekte aus wechselnden Blickwinkeln. In der Qualitätskontrolle kann sie fehlerhafte von einwandfreien Teilen unterscheiden. Der Bochumer Professor Christoph von der Malsburg hat einem neuronalen Netz sogar beigebracht, einen Menschen auch dann noch eindeutig zu identifizieren, wenn er den Kopf dreht und sein Gesicht verzieht.

Besonders aufgeschlossen steht die Automobilindustrie den Neurokönnern gegenüber. Bei der Volkswagen AG beispielsweise gelten die Netze heute als Technik wie jede andere. So setzen die Wolfsburger Meßtechniker seit 1990 eine Software des amerikanischen Neurospezialisten Nestor Inc. ein, die Farbabweichungen der Metalliclackierung automatisch aufspürt – eine Anwendung, die mit klassischen Algorithmen nicht zu verwirklichen war. Derzeit bereiten die Niedersachsen bereits das zweite größere Vorhaben mit neuronalen Netzen vor: Nach gut zweijähriger Vorlaufzeit tritt bei VW in wenigen Monaten der sogenannte konnektionistische Fahrer seinen Dienst an. Dahinter verbirgt sich ein Neurosystem, das anstelle eines klassischen Reglers auf dem Prüfstand Dauerprobefahrten absolviert. So muß der neuronale Chauffeur immer wieder die sogenannten ECE-Zyklen nachfahren, aus denen der Drittelmix-Verbrauch von Autos berechnet wird. Dieses Projekt, entwickelt unter der Leitung von Kratzer-Entwicklungschef Geiger, soll den VW-Ingenieuren unter anderem die Neueinstellung der Meßeinrichtungen ersparen, die bisher jedesmal fällig ist, wenn ein neuer Autotyp auf den Prüfstand gefahren wird.

Volkswagen steht mit seinem Engagement  nicht allein. Teils heimlich, teils offen werkeln auch andere Autokonzerne am Höhenflug der neuen Technik. Weil der Programmieraufwand bei  Neurosoftware sehr viel geringer ist als bei konventionellen Methoden, können sie damit viel wertvolle Zeit einsparen. Als die Berliner Expert Informatik GmbH, ein Unternehmen des Überlinger Informatikers Eberhard Schöneburg, im vorigen Jahr ein neuronales Diagnosesystem für einen Getriebeprüfstand der Zahnradfabrik Friedrichshafen AG (ZF) entwickelte, reichten dafür zwei Mannmonate aus. „Mit einem Expertensystem“, rechnete Schöneburg nach Abschluß des Projekts vor, „wäre der Aufwand 10- bis 20mal so hoch gewesen.“ Ein weiteres Projekt der Expert-Experten: Bei einem Hersteller von Dieselmotoren testen sie derzeit ein Hybrid-Diagnosesystem, das die Neurotechnik mit einem Expertensystem kombiniert.

In der Autoindustrie ist mittlerweile auch der Ilmenauer Professor Edgar Körner gelandet, der wie Eckmiller und von der Malsburg zu dem halben Dutzend deutscher Netzforscher gehört, die in dieser Szene international tonangebend sind. Aber sein neuer Schreibtisch steht nicht in Deutschland. Der japanische Autokonzern Honda hat sich mit einem offenbar unwiderstehlichen Angebot die Mitarbeit des Vordenkers aus Thüringen gesichert. Im Honda-Forschungszentrum wird der Einsatz von neuronalen Netzen auch für aktive Sicherheitssysteme geprüft. „Das Auto“, heißt es dort kühn, „wird sich mehr und mehr in einen Spezialroboter verwandeln.“

Ulf J. Froitzheim

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