Wenn es bei Computern und Kommunikation um die Standortfrage geht haben Deutschlands Nordlichter wenig Chancen. In dieser Branche führen fast alle Wege nach München.
Vom Streckennetz der großen Infobahn, auf der bald digitale Signale in Lichtgeschwindigkeit durch das globale Dorf flitzen sollen, existieren erst wenige Teilstücke. In Unterhaching, einem südlichen Vorort von München, liegt seit 1991 eine behelfsmäßige Auffahrt, die bereits heute eine enorme Verkehrsdichte aufweist. Immer mehr Computerbesitzer fädeln sich dort im Schritttempo in das Datennetz des Dienstleisters Compuserve ein und tauschen via Columbus (Ohio) Botschaften mit anderen Bürgern der virtuellen Welt – mit Privatleuten, mit Freaks und sogar mit Forschern, deren Workstations im weltweiten Wissenschaftsnetz Internet hängen.
Daß die deutsche Niederlassung von Compuserve ihren Sitz nicht am Rande von Hamburg, Köln oder Berlin hat, ist kein Zufall. Nirgendwo im Lande gibt es eine vergleichbare Ansammlung potentieller Teilnehmer wie im Raum München: Zum einen ist die bayerische Metropole die unangefochtene Hauptstadt der Elektronik- und Computer-Fachpresse – mit den Verlagen IDG, Magna Media, Vogel, Weka und Ziff -, zum anderen wimmelt es im Umfeld des Elektronik-Platzhirsches Siemens von Niederlassungen amerikanischer DV-Firmen, deren Mitarbeiter ebenfalls ein Faible für elektronische Post haben.
Compuserve gehört bereits zur vierten Welle der Zuzügler aus der Informations- und Kommunikationstechnik. Die erste kleine Woge war 1963 angerollt. Damals eröffnete ein unbedeutender amerikanischer Computerhersteller namens Digital Equipment ein kleines Verkaufsbüro in der Münchener Maximilianstraße – in auffälliger Nähe zur Zentrale der mächtigen Siemens AG am Wittelsbacherplatz. Fünf Jahre später gründete auch Chip-Pionier Intel eine Dependance.
Beim zweiten Schub, der nach den Olympischen Spielen von 1972 einsetzte, spielte bereits der hohe Freizeitwert eine große Rolle – München war „in“, nicht nur bei den Turnschuhträgern von Apple. Als Anfang der 80er Jahre die PC-Unternehmen folgten, imponierte den zugereisten amerikanischen und japanischen Managern der eigentümliche Mix aus „harten“ und „weichen“ Standortfaktoren, aus Geschäftskontakten und Know-how-Potential einerseits, Lebensqualität andererseits. Die Rivalen Düsseldorf, Frankfurt und Stuttgart fielen zurück.
Seither hat sich die informationstechnische Szene in und um München als erstaunlich krisenresistent erwiesen. Verschwanden in der EDV- und Bürotechnikbranche zwischen 1988 und 1993 bundesweit 42 Prozent der 83.700 Arbeitsplätze (Basis: alte Länder), fielen von den 11.600 einschlägigen Jobs im Arbeitsamtsbezirk Südbayern gerade einmal elf Prozent weg.
Viele – auch neu geschaffene – Jobs tauchen in den amtlichen Statistiken allerdings gar nicht auf, weil deren Systematik veraltet ist. So arbeiten in Bayern allein für die Siemens Nixdorf Informationssysteme AG (SN!) 14.400 Menschen – also mehr als die 11.734 Personen, die in den Akten der Bundesanstalt für Arbeit für diesen Industriezweig verzeichnet sind.
Nach wie vor zieht es die Elite der Computertechnik an die Isar. Binnen weniger Jahre siedelten sich Vertriebstöchter so hochkarätiger US-Unternehmen wie Cray Research, Sun Microsystems, Silicon Graphics, Sequent Computer, Thinking Machines und nCube in Stadt und Landkreis München an. Intel richtete ein Forschungs- und Entwicklungslabor für Supercomputer-Software ein. Neben solchen Spezialisten, die zum Teil die Technoparks von Ismaning und Grasbrunn der Innenstadt vorziehen, gedeihen im voralpinen Reizklima auch Generalisten: Die Europa-Zentrale des PC-Marktführers und Grand-Slam-Sponsors Compaq, dessen Vorstandsvorsitzender Eckhard Pfeiffer aus München stammt, wuchs inzwischen schon aus drei Gebäuden heraus.
Mit Computer 2000 und Merisel haben außerdem die beiden wichtigsten Großhändler der DV-Branche die eher verkehrsungünstig gelegene Stadt im Süden als Basis ausgewählt. Zwar sind sie hier nicht unbedingt in der Nähe ihrer Kunden, dafür sitzen die meisten Lieferanten vor der Haustür. Denn Hersteller von Chips, Boards, Speicherplatten und jeglichem Zubehör finden sich in München ebenfalls in auffälliger Konzentration, von der breiten Palette an Softwareunternehmen und Systemhäusern ganz zu schweigen.
Der Strukturwandel, den die DV-Branche derzeit erlebt, macht freilich an den bayerischen Grenzen nicht halt. So trifft die Marktsättigung bei klassischen Großrechnern auch den größten Arbeitgeber, SNI. Doch ganz im Gegensatz zu ihrem Image als behäbiger Koloß beweist die Siemens-Tochter seit einiger Zeit, daß sie durchaus wieder zu Innovationen fähig ist. So stellten die Siemensianer nicht nur ein ganzes Sortiment eigenentwickelter Workstations und Multiprozessor-Maschinen vor, sondern verblüfften die Fachwelt sogar mit „Synapse-I“, dem schnellsten selbstlernenden Computer der Welt.
Die speziellen Chips, die dafür in der Zentralen Forschung und Entwicklung (ZFE) des Mutterkonzerns in München-Perlach konzipiert wurden, simulieren in blitzartiger Geschwindigkeit die Schaltvorgänge im Gehirn, das aus einem hochkomplexen Netz sogenannter Neuronen besteht. Um so viele Lernfortschritte zu machen, wie die Synapse-I mit ihren acht parallel geschalteten Prozessoren in einer Stunde schafft, müßte ein herkömmlich programmiertes neuronales Netz ein Jahr lang auf einer Workstation laufen.
Gefertigt wird der Schnelldenker allerdings nicht in Bayern, sondern in Sachsen. So gut der Freistaat als Handelsplatz im Geschäft ist, so sehr verliert er nämlich als Produktionsstandort für DV-Geräte an Bedeutung. In Augsburg, wo SNI und die AT&T Global Information Solutions (ehemals NCR) Werke unterhalten, wird die Fertigungstiefe immer weiter zurückgeschraubt. Beispielsweise werden die Leiterplatten für PC nicht mehr in der AT&T-Fabrik der Fugger-Stadt bestückt, sondern fertig aus einem Billiglohnland angeliefert – was bleibt, ist anspruchslose Endmontage. Digital Equipment in Kaufbeuren, einst mit seinem Plattenspeicherwerk Parade-Arbeitgeber in der Allgäustadt, ließ nicht einmal das übrig. Im bayerischen Schwaben ist es seither recht still, was das Thema High-Tech angeht.
Die einzigen Regionen Bayerns, die der Landeshauptstadt in der Informationstechnik noch etwas voraus haben, sind damit nun Mittel- und Oberfranken. Dort sind die Spezialisten für jene Kupfer- und Glasfaser-Breitbandkabel zu Hause, welche die in München geplanten Multimedia-Netze erst möglich machen: die Philips Kommunikations-Industrie und die Leonischen Drahtwerke in Nürnberg sowie SieCor (Abkürzung für die Gründerfirmen Siemens und Corning Glass Works) in Neustadt bei Coburg.
Ansonsten spielt aber auch in der Kommunikations- und Nachrichtentechnik die Musik am lautesten in München. Alle einschlägigen Geschäftsbereiche der Siemens AG sitzen hier – von den Mobilfunkern über die „Öffentlichen Netze“ bis zur Sparte „Vernetzungssysteme“, die Telekom-Lösungen für komplette Unternehmen entwickelt. Und wenn irgendwo Sendeanlagen gebaut oder geprüft werden, ist mit großer Wahrscheinlichkeit Technik von Rohde & Schwarz im Spiel. Viele technische Neuerungen bei den Fernsehanstalten der ARD haben ihren Ursprung ebenfalls in München – im Institut für Rundfunktechnik (IRT).
Wenn in den nächsten Jahren Television, Telekommunikation und Computerei zusammenwachsen, ist die Münchner Szene darauf vorbereitet. Über die heutige Behelfszufahrt in Unterhaching wird man dann nur noch müde lächeln – auch bei Compuserve.
Ulf J. Froitzheim
Chips für Groß und Klein
Bayerns Mikroelektronik-Landschaft
Die niederbayerische Hauptstadt Landshut ist immer für Superlative gut: älteste Residenz der Wittelsbacher, der eigensinnigste CSU-Oberbürgermeister namens Josef Deimer – und Deutschlands modernste Fabrik für Speicherchips. Außer dem Hauptprodukt, dem Vier-Megabit-DRAM, produzieren die 600 Mitarbeiter der Hitachi Semiconductor Europe GmbH dort bereits Siliziumscheiben (Hafers) mit 16-Megabit-Speichern. Auch Oberbayern und die Oberpfalz behaupten sich wacker als Standorte für die Herstellung der Mikroelektronik-Bausteine. 2300 Siemensianer bedienen von Regensburg aus vor allem den Markt für Ein- und Vier-Megabit-Speicher – bei steigendem Anteil von Logikchips. Texas Instruments in Freising hat sich auf Mikrochips für Autos, Telekommunikation und Industriesteuerungen spezialisiert. Die Texas-Bayern (600 Mitarbeiter im Halbleiterbereich) exportieren einen Großteil ihres Outputs in die Höhlen der Chip-Löwen: nach Japan und in die USA. Die drei Halbleiterfabriken sind aber für die Massenproduktion optimiert. Kleine und mittlere Unternehmen, die einen maßgeschneiderten Schaltkreis (Asic) in Ministückzahl brauchen, stehen bei den Großen vor verschlossenen Türen.
Diese Klientel – europaweit 20.000 Betriebe – hat über das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, Bereich Angewandte Elektronik (IIS-A) in Erlangen Zugang zu dem Euro-Pool „Chip-Shop“: Schaltkreise verschiedener Auftraggeber werden auf einem Multi-Project-Wafer (MPW) kombiniert. Die hohen Kosten für einen Produktionsdurchlauf (Waferstart) verteilen sich so auf mehrere Schultern.
Damit die Mittelständler ihr Know-how in der Anwendung der Mikroelektronik verbessern können, gibt es das EU-Technologietransfer-Programm Comett, für das ebenfalls das IIS Ansprechpartner ist.
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