In vier Zukunftsszenarien schildert eine Studie der Media-Gruppe München die Zukunft der Online-Dienste und ihr Dilemma. Fazit: Ohne Werbung geht nichts, doch sie wirkt noch als Fremdkörper.
Bernd Schiphorst will mit seinem Outing nicht bis zur Internationalen Funkausstellung Anfang September warten. Schon auf der Musikmesse Popkomm ’95 nächste Woche in Köln wird der Europa-Chef des deutsch-amerikanischen Joint-ventures Bertelsmann Online GmbH die ersten Namen von Informationsanbietern verraten, die ab Ende 1996 im neuen Online-Dienst „One World“, so der Arbeitstitel, vertreten sein werden.
Der Bertelsmann-Manager dürfte damit dem US·Software·Mogul Bill Gates zuvorkommen. Dieser wird Details über sein Microsoft Network kaum vor dem 25. August, dem Tag der Markteinführung des DOS/Windows-Nachfolgers Windows 95, preisgeben. Gates kann nämlich noch nicht sicher sein, daß ihn das US-Justizministerium die freche Kopplung des Online-Dienstes an das meistverkaufte Betriebssystem tatsächlich durchgehen läßt.
Gates-Konkurrent Schiphorst wird potentielle Werbekunden allerdings enttäuschen. Mediadaten sind nicht in Sicht, denn wie schon das US-Original America Online verzichtet One World vorerst darauf, die redaktionellen Bildschirmseiten mit anklickbaren Teaser-Inseraten zu garnieren. Die Enthaltsamkeit in puncto „interaktive Werbung“ hat ihren Grund: Die Bertelsmänner fürchten, das Publikum zu verschrecken.
Mit einer solchen Strategie hat die Hamburger Truppe um Schiphorst und dessen Deutschland-Geschäftsführer Andreas von Blottnitz langfristig keine guten Aussichten, in die schwarzen Zahlen zu kommen. Das meinen jedenfalls die Autoren der Marktübersicht Online-Dienste, die die Media-Gruppe München (MGM) jetzt vorgelegt hat. „Die Online-Dienste werden nur über Werbung finanzierbar sein“, lautet eine der zentralen Thesen, die Projektleiter Daniel Treplin und seine Kollegen von der Münchener High-Text Consulting in dem 250 Mark teuren Kompendium aufstellen. Warum gerade ein Fernsehvermarkter wie die MGM (Pro Sieben, Kabel1 und das Videotext-Angebot Klartext) sich um Online sorgt, liegt auf der Hand: „Online-Werbung“, so MGM-Geschäftsführer Michael Wölfle, „ist neben Free- und Pay-TV künftig die dritte Säule unseres Geschäfts.“
Entsprechend optimistisch ist auch der Unterton der 100-Seiten-Studie – laut MGM-Sprecher Hans Lauber „die erste umfassende Analyse für Informationsanbieter und Werbetreibende über diesen neuen Markt“. Klare Warnungen an alle Cyberspace-Euphoriker, die sich vom beginnenden Boom der Netze schnelles Geld erhoffen, sind dennoch unüberhörbar: „Online-Dienste“, so Treplin, „sind nichts für Goldgräber.“ Neben unbequemen Wahrheiten („ungeschickte Online-Angebote hinterlassen bei den Opinion Leaders einen nachhaltig schlechten Eindmck“) bietet die Fleißarbeit (sinnigerweise bis jetzt nicht online abrufbar) Fakten satt (w&v31/95, S. 28). So findet der Leser viel Wissenswertes über Geschichte, Technik, Reichweite und Werbekonzeple der existierenden Dienste Bildschirmtext, CompuServe, America Online und Prodigy. Gründlich zusammengefaßt ist auch, was bisher über Europe Online und das Microsoft-Network zu erfahren war.
Internet-Infizierte werden an verdrängte Tatsachen erinnert, etwa an die „erhebliche Werbefeindlichkeit“ der Newsgroups. Bei Online-Zeitschriften räumen Treplin & Co. mit dem Mißverständnis auf, daß Verlage damit schnell Geld verdienen könnten: Nur mit teuren, weil arbeitsaufwendigen Extras wie Hypertext-Verweisen ließen sich Nutzer für digitale Versionen der Printobjekte begeistern. An Shopping im Internet sei überhaupt nicht zu denken, solange es keine internationale Norm für hackersicheren Zahlungsverkehr gebe.
Desillusionierend ist auch die Liste der sogenannten Killer-Anwendungen, die einen Online-Nutzer allein schon motivieren, einen Dienst zu abonnieren: neben Homebanking sind dies elektronische Post, digitale Plauderbuden („Chat“) und Kundenbetreuung durch die Computerindustrie.
Die Autoren wollten keine definitive Prognose über den Online-Markt wagen. Statt dessen bieten sie vier Szenarien an, die von einem Monopol Microsofts bis zum Zusammenwachsen aller Dienste zu einem in alle Richtungen offenen Netz von Datenautobahnen reicht. Noch kann sich jeder Beteiligte die für sich interessanteste Variante aussuchen.
Erschienen in der w&v werben & verkaufen 32/1995
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