Aus der Computerwoche-Sonderausgabe zum 25. Geburtstag des Blattes – mit ersten Gedanken zu Google Glass, sprechenden Navis mit Augmented Reality und smarten Kühlschränken
Für Innovationen muß die Zeit reif sein. Manche Entwicklung verrät die Abgehobenheit oder die Naivität des Forschers, andere tragen deutlich die Handschrift von Marketiers oder Sensationsmedien.
Von Ulf J. Froitzheim
„Dialyse? Das ist ja finsterstes Mittelalter!“ Angesichts der qualvollen Behandlungsmethoden des späten 20. Jahrhunderts überkommt den Zeitreisenden „Pille“ McCoy spontanes Mitleid mit der alten Patientin. Da muß sogar der schwer verletzte Pavel Chekhov warten, den der Bordarzt und sein Boß Jim Kirk gerade aus den Fängen barbarischer kalifornischer Chirurgen retten wollten. Bevor der Gast aus dem 23. Jahrhundert durch bloßes Auflegen eines elektronischen Apparats auf die Stirn des Russen dessen lädiertes Gehirn repariert, steckt er der maladen Greisin heimlich eine Tablette zu, die ihr im Nu eine neue Niere wachsen läßt.
Für eine spätere „Startrek“ -Generation haben die Drehbuchautoren die beiden zukunftsträchtigsten Wissenschaften unserer Epoche miteinander vermählt. Die Liaison der Informationstechnik mit den „Life Sciences“ macht auf dem intergalaktischen Forschungskreuzer Voyager den Arzt überflüssig: Die holographische Projektion eines Doktors – ein lebensechtes, dreidimensionales Phantom mit dem vereinigten Wissen sämtlicher Koryphäen der Medizingeschichte – flickt Patienten jedweder humanoiden Spezies wieder zusammen.
Bei Bedarf ist das Retortenwesen, das auf den drögen Namen „medizinisches Programm“ hört, 24 Stunden am Tag fit. Damit es nicht gar so übermenschlich wirkt, haben die Software-Ingenieure der Sternenflotte ihrem Geschöpf einen Hang zur Larmoyanz in die Algorithmen eingeflochten: Ständig nölt Dr. med. Allwissend über irgendeinen Mißstand – nicht zuletzt über den, daß man ihn einfach abschaltet, wenn gerade niemand krank ist.
Eine bessere Dauer-PR als die nicht enden wollende Startrek-Saga hätten sich die Forscher und Entwickler aus Amerikas IT-Industrie kaum wünschen können: Da manövriert uns der Computer an Plätze, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Er beamt unsere biochemischen Moleküle als Quantenstrom durchs All und kocht uns als Replikator in der Bordkantine blitzschnell das Mittagessen. Paart sich menschliche Cleverness mit kühler Logik und High-Tech, das lehren uns Kirks spitzohriger Freund Spock und Jean-Luc Picards bleichgesichtiger Adjutant Data, sind wir bald alle Sorgen los: Vorsprung durch Technik. Nichts ist unmöglich. Alles wird gut.
Oder auch nicht. Im Dunst der multimedialen Virtualität unserer Tage verschwimmen die Grenzlinien zwischen Werbung und Wahrheit, zwischen Science-fiction und der Selbstinszenierung selbsternannter IT-Gurus, zwischen Futurologie und Fiebertraum. Mit Unschuldsmiene machen erwachsene Menschen uns weis, sie könnten – simsalabim! – Technikmärchen wahr werden lassen.
Unglaubliche Visionen, wohin wir schauen: Dank MIT, CMU, Bell Labs, Parc & Co. erwachen um uns herum plötzlich Gegenstände zum Leben, ganz wie in Alices Wunderland. Die alten Märchen bedürfen dringend der Erneuerung: Rumpelstilzchen merkt nicht, daß sein Datenturnschuh heimlich seine Visitenkarte aufs Armbanduhr-Display der Königin funkt. Der Mikrowellenherd ersetzt den Goldesel, indem er – statt altmodische Dukaten zu scheißen – elektronische Euros auf unsere Geldkarte lädt.
Synergie in der Küche
Auch das Tischlein-deck-Dich erlebt seine Wiedergeburt: als Jahr-2000-fähiger Kühlschrank mit Powerline-Internet-Connection, eingebautem Warenwirtschaftssystem und R/3-Schnittstelle. Supply Chain Management, Data-Warehouse und Consumer Relations Management treffen sich synergetisch in der Küche. Der Bauknecht im Haus erspart den Gang zum Tengelmann.
Die Ideologie hinter all den High-Tech-Fantasien ist älter als die Dampfmaschine: Apparate machen Menschen das Leben leichter. Ihr frönten die Marxisten (volkseigene Produktionsmittel humanisieren die Arbeitswelt) ebenso wie der Kapitalist Walt Disney, der sich vor bald 40 Jahren seine »Experimental Prototype Community of Tomorrow“ (Epcot) zurechtträumte. Des Mäusemachers Vision vom Morgen-Land mutierte allerdings zu einem lukrativen „Theme Park“, in dem die 60er-Jahre-Vorstellungen vom vollautomatisierten Privathaushalt längst als Lachnummer präsentiert werden: ein schrilles Panoptikum für Fans skurriler Erfindungen, eine an die Jetson-Cartoons erinnernde Endlagerstätte für die Zukunft von gestern.
Dort könnten freilich dereinst auch manche jener futuristischen Ideen ihren Platz finden, mit denen die informationstechnische Industrie anno 1999 Faszination erzeugen will. Jedenfalls dann, wenn die großen Firmen so weitermachen wie bisher: Auf der einen Seite reizen fähige Entwicklungsingenieure die Grenzen des technisch Machbaren aus, bis streichholzkopfgroße Gigabit- und Gigahertz-Chips für ein paar Mark zu haben sind. Auf der anderen Seite suchen Marketing-Leute krampfhaft nach Produktideen, die noch niemand gehabt hat, oder sie mischen sich in bemerkenswerter Unbekümmertheit in Märkte ein, deren Mechanismen sie nicht verstehen.
Ein anschauliches Beispiel ist die Datenbrille: In keinem Szenario für die Zeit ab 2005 fehlen „Wearable Computers“, die dann angeblich den Aufstieg schaffen vom Arbeitsgerät für Servicetechniker zum ultracoolen Yuppie-Accessoire. Als Display soll nach verbreiteter Auffassung eine Spezialbrille herhalten, deren eingebauter Mikroprojektor Informationen direkt ins Auge beamt. Um das audiovisuelle Erlebnis perfekt zu machen, wollen die Protagonisten dieser Technik den Lautsprecher des unvermeidlichen Mobiltelefons ins Brillengestell einbauen.
Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das auf den ersten Blick geniale Konzept als ziemlich kurzsichtiger Einfall: Selbst bei extremer Miniaturisierung machen elektronische Bauteile eine Brille vergleichsweise schwer und klobig – allein schon wegen der erforderlichen Stromversorgung, aber auch wegen der nötigen Robustheit. Soll kein Kabel stören, kommen noch Antenne, Empfangsteil und Schalter dazu. Dies alles führt zu einem nicht unbeträchtlichen Mehrgewicht, das wiederum dem Ehrgeiz jedes guten Brillenmachers zuwiderläuft, mittels immer leichterer Bügel und Polymergläser (sowie randloser Fassungen) den Nasen seiner Patienten jedes überflüssige Gramm zu ersparen.
Wenn das multimediale Glotzofon tatsächlich zum „Human Interface“ des Immer-und-überall-Computings werden soll, muß die IT-Industrie zudem über die nicht ganz nebensächliche Frage nachdenken, wer die Apparate denn bauen und vermarkten kann. Für den Prototypen im Labor, der nicht eleganter sein muß als die monströse Kassengestell-Karikatur im Gesicht des „Fanta-4“-Sängers Thomas D., genügt noch der Umbau einer Hörbrille, wie sie sehschwache Schwerhörige tragen.
Über das Produktions-Know-how für ein alltagstaugliches Serienmodell verfügen jedoch nur etablierte Brillenfabrikanten. Diese wiederum haben über Hörgeräte hinaus keinerlei Erfahrung mit dem Einbau von Mikroelektronik. Das Rezept der erfolgreichsten Markenhersteller heißt, Designerstücke in Kleinserie zu fertigen; Käufer teurer Brillen verachten Dutzendware. Wer elektronische Komponenten verarbeitet, braucht aber große Stückzahlen. Nur so würde die Datenbrille bezahlbar für ein Massenpublikum – um den Preis des Einheitslooks.
Wer sich den Traum ganz kaputtmachen lassen will, rede mit seinem Augenoptiker. Der müßte schließlich eines Tages die Datenbrillen verkaufen – und dann unter Umständen mehr Zeit für Schnittstellen, Treiber, Updates und ähnlich diffizile Dinge aufwenden als für Dioptrien, Pupillenabstände und Sehachsen.
Freilich ändern sich, wenn der Markt es verlangt, auch mal altehrwürdige Berufsbilder. Da solche Entwickungen jedoch wesentlich langsamer vonstatten gehen als die Entwicklung neuer Hardware, spricht einiges für ein weniger spektakuläres Alternativszenario – daß nämlich nicht nur Kontaktlinsen-Fans künftig via TFT-Flachfernseher oder Handy mit dem ubiquitären Computernetz kommunizieren werden. Im übrigen würde der Einsatz solcher Nose-tops im Straßenverkehr über kurz oder lang den Gesetzgeber oder die Boulevardpresse auf den Plan rufen – spätestens wenn der erste dadurch abgelenkte Autofahrer ein Kind übersieht.
Alles nur PR-Gags
Andere Entwürfe für die digitale Welt von morgen wirken da nicht ganz so verwegen. Technisch ist es beispielsweise kein Problem, alle fürs Homebanking erforderlichen Komponenten in einen Mikrowellenherd einzubauen, wie es NCR im vergangenen Frühjahr getan hat. Und warum sollte sich jemand einen klobigen PC kaufen, wenn er nur seinen Kontostand nachsehen oder seine Geldkarte aufladen will? Auch über den Absatzweg müßte sich niemand den Kopf zerbrechen. Das Teil würde beim Elektronikdiscounter verkauft und könnte sogar halbwegs preiswert sein.
Es gibt dabei aber noch ein Problem: In Ottos Normalhaushalt stehen etliche Geräte, die den ergonomischen Ansprüchen an ein Homebanking-Terminal viel näher kommen als die Mikrowelle auf der Küchenanrichte. Zudem würden es die NCR-Aktionäre kaum goutieren, wenn ihr Unternehmen plötzlich ins Geschäft mit Weißer Ware einstiege und gegen die etablierten Marken anträte.
In Wahrheit war die Vision einer Konvergenz von Computer- und Küchentechnik denn auch eher als PR-Gag angelegt: Den NCR-Marketiers wäre das Entree in die Illustrierten kaum gelungen, wenn sie statt des Herdes ein Telefon oder einen Fernseher zum Homebanking-Terminal umfunktioniert hätten. So weit war Loewe Opta schließlich schon vor 15 Jahren.
Genauso alt ist übrigens jene Idee, die heute wieder von verschiedenen Seiten als Technik des 21. Jahrhunderts ins Spiel gebracht wird – die sogenannte Home Automation, von professionellen High-Tech-Hellsehern inzwischen bis zur Digital-Glühbirne ausgedehnt. Sollten die Pläne dieses Mal ernst gemeint sein, könnte der Markt in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts in Gang kommen. Hagen Hultzsch, Vorstand Technik/Dienste der Deutschen Telekom, nutzt Gelegenheiten wie die Internationale Funkausstellung gerne als Forum, um sein Unternehmen mittels schöner Schaubilder vom digitalen Wohnhaus als Vorreiter des informationstechnischen Fortschritts zu positionieren.
Allerdings sollte man Hultzsch besser nicht fragen, wie intensiv die Telekom das alte Thema mit Hausgeräte-Herstellern diskutiert, die sich schließlich untereinander und mit den japanischen Konkurrenten auf eine Norm einigen müßten. Zudem hat sich eines der Hauptmotive für eine Telefongesellschaft, diesen Markt zu erschließen, durch die Liberalisierung des Telekommunikationsmarkts eh in Luft aufgelöst: Das zusätzliche Gebührenaufkommen durch telematische Kontrollanrufe („Bist Du’s, Herd? Hab‘ ich Dich heute morgen auch wirklich ausgeschaltet?“) wäre angesichts der heutigen Zehntelpfennig-Kampftarife eher zu vernachlässigen, und für die womöglich lukrative Inhouse-Vernetzung reichte das Know-how jedes halbwegs fähigen Elektrikers.
Auch die Elektrobranche zögert, die technisch nicht allzu anspruchsvolle Vision von den „intelligenten“ Hausgeräten offensiv anzupacken. Den Herstellern fehlt nämlich ein schlagendes Argument, mit dem sie dem Verbraucher die zunächst kostentreibende Technik schmackhaft machen könnten.
Einen Herd onlinefähig zu machen, rentiert sich nur, wenn es genug ängstliche Menschen gibt, die ständig glauben, die heiße Platte nicht abgeschaltet zu haben. Einen Toaster mit eigener IP-Adresse braucht kein Mensch, solange das Gerät nicht selbst die Brotscheiben aus der Packung nehmen kann.
Für die Kaffeemaschine, die sich zehn Minuten vor dem Aufstehen von selbst einschaltet, genügt eine Zeitschaltuhr für zehn Mark aus dem Baumarkt – wobei Genießer ohnehin niemals Kaffeepulver und Wasser über Nacht in der Maschine lassen würden. Außerdem kann, wer es mag, auch einen Brühautomaten mit eingebautem Timer kaufen.
Selbst bei teuren Wasch- oder Spülmaschinen gibt es solange kein überzeugendes Argument für den Internet-Anschluß, wie nicht das vorhandene Stromkabel zur Datenübertragung genutzt wird. Wer einen Ruf als Hersteller zuverlässiger Geräte zu verteidigen hat, kann nicht im Ernst vom Kunden erwarten, daß er sich eine Ethernet- oder TAE-Dose in die Waschküche legen läßt, damit der Servicetechniker bei den zu erwartenden Reparaturen vorher jeweils eine Ferndiagnose machen kann.
Am Point of Garbage
Ohnehin setzen solche Innovationen eine passende Infrastruktur voraus, die sich nur bei einer genügend großen Nachfrage entwickelt. So ist von allen Vorschlägen für den Electronic-Commerce-kompatiblen Privathaushalt des Jahres 2010 vielleicht der am reizvollsten, bei dem der Kühlschrank durch einen Barcodescanner für die entnommenen Lebensmittel aufgerüstet wird. Aber diese Datenerfassung bringt erst dann wirklichen Nutzen, wenn es ein flächendeckendes Netz von preiswerten Supermärkten mit schnellem Lieferservice gibt.
Ohnehin bleibt die Idee, so wie sie vorgetragen wurde, unvollständig. Zu einen kann sie den Gang zum Supermarkt nicht ersetzen, weil ja auch Zucker, Klopapier und Spülmittel nachgekauft sein wollen. Zum anderen will der Verbraucher die Entscheidung, ob er sich die neue Leichtfettmayonnaise ein zweites Mal kaufen soll, sicher nicht dem Kühlschrank überlassen. Schließlich wäre noch das Problem der angebrochenen, in den Kühlschrank zurückgestellten Packungen zu lösen. Vielleicht sollte die Datenerfassung besser am PoE (Point-of-Eat) oder am PoG (Point-of-Garbage) stattfinden.
Wie der selbsteinkaufende Kühlschrank kranken viele technikbasierte Zukunftsvisionen an der Vernachlässigung des gesellschaftlichen Kontexts. Bleiben wir beim Electronic Commerce, Abteilung Business-to-Consumer: Entwickelt sich die Arbeitswelt in den nächsten zehn, zwanzig Jahren wirklich so, daß die meisten jobgeplagten Menschen froh sein werden, wenn sie alle Artikel des täglichen Bedarfs vom Versender an die Tür geliefert bekommen? Oder sorgen politische Entscheidungen wie die sukzessive Abschaffung gesetzlicher Ladenschlußzeiten nicht dafür, daß wir wieder Spaß am Einkaufen bekommen?
Daß solche Überlegungen nicht ganz unwichtig sind, dämmerte vor einiger Zeit auch der Europäischen Kommission. Im laufenden Forschungsrahmenprogramm genießt die Schaffung einer „benutzerfreundlichen Informationsgesellschaft“ einen hohen Stellenwert. Bisher ist freilich nicht zu erkennen, daß die Eurokraten von der Industrie dazu mit überzeugenden Projektvorschlägen überhäuft würden.
Wer sich mit IT-Herstellern auskennt, wird dies allerdings auch nicht unbedingt erwarten. Daß dieser Markt nicht nach dem linearen Schema „Vision – Forschung – Entwicklung – Produkt – Markterfolg“ funktioniert, weiß jeder, der die Entwicklung von Xerox und Apple einerseits, IBM und Microsoft andererseits verfolgt hat. So hat es dem genialen Geschäftsmann Gates nie geschadet, daß er zukunftsweisende Ideen von anderen aufgriff. Es machte auch nichts, daß Bills Truppe stets mit einer beträchtlichen Ignoranz in Sachen Kundenorientierung zu Werke ging: Obwohl Microsoft den Anwendern mittels unverständlicher Fehlermeldungen wie „allgemeine Schutzverletzung“ den Eindruck vermittelte, sie seien nur zu blöd, ihren PC richtig zu bedienen, kauften immer mehr Menschen die überfrachtete Software aus Redmond.
Viele nahmen sogar Gates‘ pseudo-visionäre Propaganda-Verlautbarungen „Information at your fingertips“ und „The road ahead“ für bare Münze. Darin bekennt sich der Milliardär immerhin zu der Maxime, daß Technik das Leben leichter machen soll.
Gates: The Error Ahead
In der Praxis ist von der Umsetzung solcher Ziele bisher wenig zu spüren. Ein Anwender, der beruflich von Software und Hardware abhängig ist, wird tagtäglich mit grotesken gravierenden Unzulänglichkeiten konfrontiert. Ihm müssen Zukunftsvisionen von autonomen Robotern oder CPUs mit der Rechenleistung eines menschlichen Gehirns – derlei verbreitet beispielsweise gerne der amerikanische Unternehmer und Erfinder Raymond Kurzweil – als pure Science-fiction vorkommen.
Kritische Wissenschaftler teilen diese Einschätzung: Eine Welt, in der auch nur die heutigen Programme störungsfrei laufen, ist dem Kaiserslauterner Informatikprofessor Dieter Rombach fürs erste visionär genug. Der Leiter der Fraunhofer-Einrichtung für Experimentelles Software-Engineering schätzt, daß durch fehlerhafte Software – unabhängig vom Jahr-2000-Problem – allein in Deutschland jedes Jahr volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe entstehen.
Unterdessen entfernt sich die real existierende Computerindustrie immer weiter von der schönen neuen Welt, die sie immer dann skizziert, wenn Wirtschaftsmagazine oder Fernsehreporter um einen Blick in die Zukunft bitten:
❍ Tragbare Computer, heutige Vorläufer des anvisierten Anywhere-Anytime-Computing, werden seit einiger Zeit wieder schwerer. Obwohl nur eine Minderheit der professionellen Anwender Wert darauf legt, bauen die Notebook-Hersteller CD-ROM-Player und Luxus-Lautsprecher und sogar Netzteile fest ein. Immer schnellere und darum heißere Prozessoren brauchen Lüfter – also noch mehr Gewicht. Wer nicht 8000 Mark hinlegen will, muß heute wieder mehr als drei Kilo schleppen. Andererseits erfordern Web-taugliche Handies auf ein Minimum reduzierte Info-Angebote à la Btx oder Videotext; wer unterwegs richtiges WWW will, wird auf Jahre hinaus doch den Schlepptop mitnehmen müssen.
❍ Seit Jahren ist von Componentware die Rede, von modular aufgebauter Software also, deren handliche Einzelteile man ganz nach Bedarf installiert. Bei modernen Büro-Paketen wie MS Office oder Star Office verschlingt aber die Minimalinstallation heute schon weitaus mehr Speicherplatz als frühere Releases in Komplettversion. Auf dem Bildschirm tummeln sich rätselhafte Icons, und die Handbücher strotzen vor selbsterfundenen Fachtermini.
❍ Software-Agenten sollen künftig selbsttätig im Netz nach Informationen suchen und dem Anwender beispielsweise Reisen buchen. Doch schon heute öffnet sich zusehends die Schere zwischen dem, was im Netz wirklich steht, und seinem Abbild in den Suchmaschinen. Die Zahl der toten Links wächst.
Die Erfahrung zeigt dennoch, daß Innovationen noch möglich sind – es dauert nur manchmal viel länger als gedacht. Anderthalb Jahrzehnte lagen zwischen der Erfindung der CD-ROM und der Markteinführung der videotauglichen Nachfolgetechnik DVD. Die Ingenieure waren schon vor fünf Jahren so weit; was fehlte, war der Konsens der Gerätehersteller untereinander und mit den Medienkonzernen.
In den kommenden 25 Jahren wird es trotz immer schnellerer Chips und höherer Speicherdichten nicht anders sein: Die Visionen genialer Techniker haben nur dann eine Chance, verwirklicht zu werden, wenn die wichtigsten Marktteilnehmer gemeinsam darüber nachdenken, was der Kunde will. Ansonsten geht alles so weiter wie bisher. Das aber dürfte den Aktionären so mancher IT-Firma zu denken geben, deren Börsenwert vor allem auf Hoffnungen auf die Zukunft beruht.
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