Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Und das wird auch so bleiben, denn Diskretion ist hier Programm. Diese Firma sorgt zwar schon mal bei Aldi für einen Tagesumsatz von 400 Millionen Mark. Aber mehr als den Firmennamen soll niemand wissen: Medion.
Als Matthias Horx 1998 den Trend entdeckte, konnte er ihn nur noch kommentieren, nicht mehr steuern. Der Aldi-PC sei „schlicht kultig“, befand Deutschlands bekanntester Lifestyle-Fährtensucher angesichts Hunderttausender überwiegend friedfertiger Frühaufsteher. Immerhin ortete der Meister der zeitgemäßen Lebensart im gemeinschaftlichen Schlangestehen vor versperrter Ladentür mit jeweils 2000 Mark Bargeld in der Tasche noch, wie das „Handelsblatt“ nicht ohne Süffisanz anmerkte, “ die sozialintegrativen Aspekte“.
Vor Gott und an der Aldi-Kasse sind eben alle gleich.
„Hab einen! Und zwar den Letzten. Es standen 50 Leute vor unserem Aldi (Hamburg, Manshardtstraße) und es regnete. Ich bin als notorischer Nachtmensch natürlich erst um 8.58 Uhr da gewesen. Trotzdem hat es geklappt. Ich musste mich nur zwischen zwei schon beladenen und eng aneinander stehenden Einkaufswagen durchquetschen, dann in einem 45-Grad-Winkel nach vorn beugen und laut hörbar auf den letzten Karton klatschen. Dann war’s schon meiner. Ohne Einkaufswagen an die Kasse, das fand mein Rücken dann aber doch nicht so toll…“
Robert Jung, Betreiber der inoffiziellen Aldi-PC-Kunden-Website Computist, am 10.11.1999
Computerkundigen erscheint jenes sporadisch zu beobachtende Phänomen so rätselhaft wie Horxens Analyse desselben: Warum zerren diese Leute einen PC so gierig von einer Palette im Discounter, als gäbe es die ersten drei Stück gratis? Weshalb verzichten Verbraucher, die bei der Anschaffung eines simplen Staubsaugers dem Personal Löcher in den Bauch fragen, bei einem Gerät dieser Preislage freiwillig auf die Chance, es vor dem Kauf auszuprobieren?Wieso gelten andere Aldi-Aktionswaren – Seidenschlipse, Blutdruckmesser, Zimmerbrunnen – nicht als “ kultig“? Vor allem: Wie konnte ein branchenfremder Filialist zum erfolgreichsten „Kistenschieber“ (Branchenjargon) auf dem deutschen Markt mutieren, wenn er die Computer doch nur alle paar Monate für wenige Stunden im Sortiment hat?
„Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie Leute, die sonst bei jedem Joghurt, der drei Pfennige billiger ist als woanders, Kilometer weit fahren, bei PCs aber scheinbar wie die Lemminge agieren.“
Thomas U., 11.11.1999, Online-Leserforum des Heise-Verlags (Computermagazin „c’t“)
Jene zwei Herren, die diese Widersprüche ganz leicht auflösen könnten, stellen sich erstmal tot.
Kontaktaufnahme per Telefon, Fax, Brief – aus den Chefbüros in Mülheim und Essen der Firma Medion kommt, von dürren Drucksachen abgesehen, keine Reaktion. Auch einschlägigen Datenbanken ist kaum mehr zu entnehmen als die offizielle Selbstdarstellung. „Ja, die beiden sind wohl etwas publikumsscheu“, bestätigt Helmuth Gümbel, Gründer der EDV-Consultingfirma Strategy Partners und Besitzer eines Aldi-Notebooks, „aber im Prinzip liegen sie richtig.“ Sie: Das sind Gerd Brachmann, Gründer, Vorstandsvorsitzender und Hauptaktionär der Medion AG, und sein Finanzvorstand Christian Eigen, den Brachmann gern vorschickt, wenn ein Medienkontakt zu bestreiten ist – etwa wenn Springers Massenblatt „Computer Bild“ den so genannten „Aldi-PC“ zum „Goldenen Computer“ krönen will. Der heißt mit richtigem Namen nämlich „Medion/Lifetec MED MT29“.
Lob von Leuten wie Berater Gümbel wiegt für das Unternehmen, das mit nur 420 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von knapp zwei Milliarden Mark anpeilt, besonders schwer: Wenn sich sogar schon Berater, die in den Chefetagen der großen Softwarehersteller und -anwender ein und aus gehen, nicht mehr für den Besitz eines Medion-Notebook genieren, ist die Marke nicht nur kultig, sondern salonfähig geworden.
„Aldi ist geil.“
,Bruder Albrecht‘, 14.11.1999, Heise-Leserforum
Es geht nicht um kleinliche Geheimniskrämerei, es geht um Diskretion. Und die kommt daher, dass Medion in einer engen Symbiose, wenn auch ohne direkte Beteiligung, mit dem Imperium von Karl und Theodor Albrecht lebt: Die Altmeister des Discounthandels, die brüderlich zuerst die Bundesrepublik und dann die ganze Welt in die Hemisphären „Aldi-Nord“ und „Aldi-Süd“ unter sich aufgeteilt haben, hassen nichts so sehr wie Geschwätzigkeit in geschäftlichen Dingen. Ihre Firmengruppe haben die Albrechts so raffiniert konstruiert, dass sie trotz ihrer Größe nicht publikationspflichtig ist. Wer mit ihnen Handel treibt, hat das zu respektieren.
Der Wunsch der greisen Patriarchen ist selbst der Deutschen Bank, die Medion vor einem Jahr am Neuen Markt platziert hat, Befehl: In einer 24 Seiten starken Studie für potenzielle Medion-Aktionäre wird der Name Aldi kein einziges Mal erwähnt, obwohl der Börsenneuling in den letzten Jahren nach realistischen Branchenschätzungen über zwei Drittel seines Umsatzes mit den Albrecht-Brüdern gemacht hat. Der Rest entfiel auf Handelsketten, die ebenfalls Wert auf Diskretion legen – etwa Tengelmann, Tchibo und Firmen der Metro-Gruppe. Zum Kartell der Heimlichtuer gehören auch diverse thüringische Hersteller, die Medion als externe Werkbank dienen. Offiziell ist nur bekannt: Fujitsu Siemens, mehrfach im Verdacht, hat nicht die Finger im Spiel.
Dem Börsenkurs von Medion schadet das nicht. Die Öffentlichkeitsarbeit besorgten bisher noch jedes Mal freiwillig und kostenlos die Presseagenturen, Tageszeitungen und Computerzeitschriften: Eine PC-Aktion bei Aldi hat immer Nachrichtenwert, auch wenn sich rivalisierende Kunden nicht mehr verprügeln oder gar mit der Waffe bedrohen, wie es in einem Einzelfall überliefert ist. Auch dank solcher Medienunterstützung stieg die Aktie in den ersten zehn Monaten nach der Emission auf das Vierfache des Ausgangskurses. Und bisher verwöhnen sämtliche Analysten Medion-Chef Gerd Brachmann, der auf dem Papier längst Milliardär ist, mit Kaufempfehlungen – trotz seiner Abhängigkeit von den Aldi-Gebrüdern.
Allerdings hat der 40-jährige Unternehmer auch noch nie einen ernsthaften Fehler gemacht, seit er im Jahr 1983 mit seinem damaligen Kompagnon Helmut Linnemann die Medion-Vorläuferfirma Brachmann & Linnemann OHG gründete. Das Jungunternehmer-Duo belieferte Kaffee-Filialisten und Lebensmittelketten mit allerlei preiswerten Non-Food-Artikeln – vom Rasierer über den Walkman bis zum Fotoapparat.
Das mittelständische Import-Export-Handelshaus, bald in Medion umgetauft und später in eine GmbH & Co. KG verwandelt, verdiente zwar immer solide Geld, blieb aber eine graue Maus. Bis Linnemann 1994 das Unternehmen verließ.
Irgendwann zu jener Zeit muss die erste Palette mit Medion-PCs in einem Aldi-Supermarkt gestanden haben: ein Versuch im kleinen Maßstab, noch unspektakulär. Es ist typisch für Medion, dass dieser Meilenstein in keiner öffentlichen Firmenchronik dokumentiert ist. „Wir bringen die Ware nicht selbst in den Verkehr“, entschuldigt sich Vorstandssprecher Christian Eigen, „darum überlassen wir es lieber unseren Kunden, ob sie über Produkte und Projekte sprechen möchten.“
Natürlich möchten sie nicht. Oder doch?
Just in der Ausgabe von „Computer Bild“, in der Medion als Gewinner des „Goldenen Computers 1999“ gefeiert wird, findet sich ein Vorabtest des neuen Modells, das Tags darauf in den Märkten von Aldi stehen wird. Wenig überraschend wurde der PC wieder mit „sehr gut“ in der Kategorie Preis/Leistung bewertet. Am nächsten Morgen um zehn Uhr sind, oh Wunder, in vielen Filialen die Paletten leer geräumt. Wieder schleppen die Kunden, wie Fachjournalisten schätzen, 200.000 Stück nach Hause. Das entspräche rund 33 Stück pro Aldi-Laden und einem Bruttoumsatz von 400 Millionen Mark.
Ein einziger Sonderverkauf dieser Größenordnung genügte, um in der nächsten Quartalsstatistik der PC-Marktforscher unter die ersten drei zu kommen. Fünf Wochen später schiebt Medion bei Aldi-Nord ein Notebook nach, das mit 2698 Mark um ein paar hundert Mark billiger ist als vergleichbare Geräte in den Fachmärkten. Im Advent gibt es noch etwas für gestresste Augen: einen Monitor mit größerer Bildschirmdiagonale (19 Zoll) sowie einen relativ preiswerten LCD-Bildschirm – Produkte, die bis dahin niemand als Mitnahmeartikel angeboten hatte. Das Angebot scheint aber einen Nerv getroffen zu haben: Kurze Zeit wird der Medion-Flachmann in einem Werbeflyer der Selbstbedienungs-Warenhauskette Real (vormals Allkauf) angeboten – aber 200 Mark teurer als bei Aldi.
„Ich denke, dass der Trend für Aldi und Co. voll gegen den Fachhandel läuft, und zwar zu Recht.“
Bruder Albrecht, 14.11.1999, Heise-Leserforum
Nur bei hartgesottenen Computerfreaks kommt Medion – trotz immer höherwertiger Komponenten – nicht so recht an. Obwohl sie überhaupt nicht die Zielgruppe sind, stänkern sie im Internet nach Kräften gegen das Geschäftsmodell, dem Brachmann seinen Erfolg verdankt: den Verkauf von betriebsfertig konfigurierten 08/15-Personalcomputern, die ab Werk so üppig ausgestattet sind, dass der Kunde möglichst gar nicht auf die Idee kommt, selbst daran herumzubasteln – ein Glück für den Käufer wie für die an sich unschuldige Maschine. Der Hintergedanke bei Medion hat allerdings mit Kunden- und Rechnerschutz wenig zu tun: Je weniger technische Variationen die 300 Service-Mitarbeiter im Kopf haben müssen, desto höher ist der Anteil der schnell zu lösenden Routineprobleme. Wo 08/15 drin ist, wird auch nach 08/15-Art gefragt. Das spart Kosten und ist noch dazu gut fürs Image: Die Kunden, deren Anrufe sich schon nicht vermeiden lassen, sollen hinterher wenigstens vom cleveren Kundendienst schwärmen.
„Medion verbaut Markenkomponenten, vor allem um Rückläufer zu verhindern.“
Heinz Müller, 19.11.1999, Heise-Leserforum
Einige Konkurrenten versuchen das Medion-Rezept nachzukochen. Im Oktober 1999 probierte es der Aldi-Rivale Lidl mit einem Alles-Drin-Modell von Compaq – und erntete prompt hämische Schlagzeilen, als die Hotline des Herstellers vor der Flut von Anrufen kapitulierte. Der versprochene 48-Stunden-Service, meldete die Münchener “ Abendzeitung“, könne bei dieser Firma 16 Tage auf sich warten lassen. Reagieren mussten freilich auch die zur Metro-Gruppe gehörenden Elektroketten Saturn und Media Markt; beide traktierten monatelang Deutschlands Zeitungsleser mit der Botschaft, dass es bei ihnen jederzeit einen hochaktuellen, satt ausgestatteten Marken-PC für unter 2000 Mark gebe.
Derweil arbeitet der Medion-Vorstand daran, seine Aldi-Connection noch besser zu nutzen und gleichzeitig die Abhängigkeit von den dominanten Geschäftspartnern zu mildern. So folgen die Mülheimer einerseits der internationalen Expansion von Karl Albrechts Aldi-Süd, andererseits haben sie bei den Handelsriesen Carrefour (Frankreich) und Tesco (Großbritannien) inzwischen den Fuß in der Tür. „Innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre“, steckt Christian Eigen den Rahmen ab, „wollen wir 20 bis 25 Prozent unseres Umsatzes im europäischen Ausland erwirtschaften.“
„Die meisten Fachhändler haben nicht viel mehr Ahnung als eine durchschnittliche Aldi-Kassiererin.“
Ingo, 12.11.1999, Heise-Leserforum
Auch in Deutschland wird die Basis breiter. So tastet sich Medion behutsam ins lukrative Handy-Geschäft vor. Hier paktiert Brachmann mit einem anderen Querdenker, Mobilcom-Chef Gerhard Schmid: Der eine hat Zugang zum engmaschigen Vertriebsnetz von Aldi und Tchibo, der andere kennt das Mobilfunkgeschäft wie kein Zweiter. Dennoch betritt Medion hier Neuland – auf dem Handy-Markt spielen bekannte Marken für den Verbraucher eine weitaus höhere Rolle als bei Computern oder Kaffeemaschinen; zudem sind Preisvergleiche wegen der Mischkalkulation aus Hardware und Kartenvertrag schwer.
Auch eine im vergangenen Herbst beschlossene Allianz mit Aral ist noch im Experimentierstadium. Ob Verbraucher an Tankstellen auch noch Rechner haben wollen, muss sich noch erweisen. Schließlich können sie auch bequem online bestellen: Am Medion-Rechner sitzend, wählen sie über ihren bei Medion beantragten ISDN-T-Online-Anschluss die Homepage von Medion an und klicken auf die Ersatzpatrone für ihren Apollo-Tintenstrahldrucker, den Hewlett-Packard produziert.
Eine Lücke, die im Medion-Sortiment noch klafft, haben allerdings jetzt schon andere geschlossen. Die beiden Hamburger Robert Jung und Hartwig Heiss-Hasala bieten unter ihrer Internet-Adresse www.computist.de Zubehörteile an, die den Aldi-Computer erst perfekt machen: ein Schalldämm-Set speziell für Medion-Hardware, bestehend aus einem leisen Lüfter und maßgenauen Korkmatten. Denn nach übereinstimmender Meinung der im Netz versammelten Aldi-Fans haben die begehrten Geräte nur einen Schönheitsfehler: Ihre serienmäßigen Laufwerke machen viel Lärm um nichts.
Aus brand eins 1/2000
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