Fernsehsessel am Spielfeldrand

Sportfans werden immer anspruchsvoller – und die großen Clubs stellen sich auf die Wünsche der Kundschaft ein. Mit immer mehr Luxus und High-Tech liefern sie einander einen Wettlauf um das beste und rentabelste Stadion der Zukunft.

Als Brite, so will es das Klischee, müsste sich Patrick Collins ganz trivial für Fußball begeistern. Doch der Professor schwebt in höheren Sphären. So hat sich der in Japan lebende Wissenschaftler ein paar völlig abgehobene Stadien ausgedacht, und die passenden Sportarten dazu. Ausstaffiert mit  Textilschwingen, flattern in einem seiner Szenarien schwerelose Athleten um die Wette – im Innern einer gewaltigen Aluminium-Büchse, die hoch am Himmel steht.

Die touristische Raumstation, zu der neben der röhrenförmigen Arena ein Hotel mit Erdblick gehören würde, hat Collins bis ins Detail durchgerechnet – er hält alles für machbar. Ihm fehlt nur noch der Reiseveranstalter, der in der Lage wäre, Hunderte von Aktiven und Zuschauern für 20.000 Dollar pro Kopf in den Orbit zu befördern.

Bis Raumfahrt-Enthusiast Collins, Hausherr der Website Spacefuture.com, seinen Willen bekommt, müssen anspruchsvolle Passivsportler ihren Kick bei irdischen Events suchen. Die Chancen stehen gut, dass sie auch auf dem Boden der Realität bald allerlei Futuristisches geboten bekommen werden. In aller Welt weichen nüchtern-funktionelle Sportstadien weitaus umsatzträchtigeren Freizeit- und Vergnügungszentren, die mit modernster Kommunikationselektronik vollgestopft sind. Ob Neubau oder Umbau, ob München, London oder Seattle: Zielgruppe ist nicht mehr der heiser grölende Bier- und Würstchen-Vertilger, sondern der genussfreudige Sportfreund, der sich eine gute Show, gehobenen Komfort und maßgeschneiderte Informationsangebote gerne ein paar Euro extra kosten lässt. Um ihn als Stammgast zu gewinnen, setzen die Stadionbetreiber massiv auf vernetzte IT-Lösungen.

Wohin der Trend geht, zeigt der Neubau des Londoner Wembley-Stadions. Der Nachfolger des unlängst abgerissenen Fußball-Heiligtums ist konzipiert als kleine Welt für sich. Aus einer logistischen Not machten die Betreiber der Mega-Arena, die 2005 fertig sein soll, eine kaufmännische Tugend: Da es seine Zeit braucht, bis jeder der maximal 90.000 Besucher seinen Sitzplatz erreicht oder das Stadion wieder verlassen hat, schaffen sie Anreize, mehr Zeit auf dem Gelände zu verbringen und dabei Geld auszugeben. So wird New Wembley über eine Guinnessbuch-reife Gastronomie verfügen, die bis zu 40.000 Gäste gleichzeitig beköstigen kann und nebenbei die Publikumsströme entzerrt.

Luxuriöser wird es auch in der Sportarena zugehen. Obwohl mehr Zuschauer Platz finden sollen, gönnen ihnen die Architekten mehr Beinfreiheit und großzügigere Sitze. Das entspricht dem weltweiten Trend – doch der hat nicht nur mit zunehmender Körperfülle der Fans oder deren sensibler werdendem Sitzfleisch zu tun. Die Planer schaffen auch Platz für ein Extra, das ein Branchenblatt als kleine technische „Revolution“ feiert: den persönlichen Multimedia-Monitor mit Touchscreen und Kopfhörerbuchse.

Die Hardware gibt es bereits; sie hatte während der Olympischen Spiele 2000 in Australien Premiere, allerdings noch mit begrenzter Interaktivität. Seither halten sich Bauherren neuer Sportstätten – etwa Microsoft-Mitbegründer Paul Allen bei der Arena seiner Football-Mannschaft „Seattle Seahawks“ – die Option offen, die Sessel auf den besseren Rängen mit „In-seat Information“ nachzurüsten, sobald praxistaugliche Software verfügbar ist.

An Ideen, wie „schlaue Sitze“ (Smart Seats) im Stadion der Zukunft Umsatz und Kundenbindung steigern könnten, mangelt es nicht. Eine davon ist der direkte Draht zum Stadionserver, der auch die Medienvertreter mit Informationen versorgt: So bequem, als säße er mit Fernbedienung und Premiere-Decoder im Fernsehsessel, könnte der Fan das gerade live miterlebte Tor aus mehreren Kameraperspektiven Revue passieren lassen. Wie ein Rundfunk-Reporter bekäme er Zugriff auf Bundesligatabellen, Torschützenlisten und die aktuellen Spielstände der übrigen Begegnungen. Je nach Software könnte der Besucher zudem eine Auswahl von Internet-Seiten, den Fanartikel-Shop oder die Tischreservierung des Stadion-Restaurants anklicken. Angedacht sind ferner Sportwetten und TED-Abstimmungen – etwa über den Fußballer des Tages oder den Spieler, der als nächster auf die Bank soll.

Die neuen Annehmlichkeiten fürs Publikum sind nur der augenfälligste Teil dessen, was sich in den kommenden Jahren in den Stadien ändern könnte – vielleicht schon bis zur Fußball-WM 2006. Experten von T-Systems haben sich Gedanken gemacht, wie eine „ganzheitliche Lösungsplattform“ für die Planung und Durchführung von Events aus Sicht der Clubs aussehen müsste. Eine zentrale Rolle in ihrem Konzept spielt eine per Funksignal auslesbare Smartcard; sie dient als elektronisches Ticket und Zahlungsmittel in einem. „Wo immer es möglich und sinnvoll ist, funktioniert die Smartcard berührungslos“, erklärt Martin Anders, Leiter Messe- und Eventmanagement bei der T-Systems Service Line „Systems Integration“ in Bonn. So hätte jeder Besucher mühelos und schnell Zutritt zu allen Bereichen, für die seine Karte gilt.

Der wahre Reiz dieser Karten liegt indes in der intelligenten Vernetzung. Sind alle Systeme auf dem Areal miteinander verbunden, beginnt der perfekte Service bereits im Parkhaus. Schon an der Schranke erkennt ein „Drive-In Terminal“ den Besucher an der Kartennummer – und weist ihm einen Parkplatz zu, der dem reservierten Sitzplatz möglichst nahe liegt. Wer sich auf dem Fußmarsch verläuft, dem servieren Info-Terminals die persönliche Direttissima. Ist mal der Andrang nicht so groß, bekommen treue Stammgäste eine SMS vom Stadionmanager, der ihnen ein „Upgrade“ spendiert: Sie dürfen in die nächsthöhere Kategorie wechseln, damit es für die TV-Kameras nicht an den falschen Stellen leer aussieht.

Allerdings beherrscht das ganzheitliche System auch Dinge, die manchen Gast weniger freuen: etwa der Bedienung mitzuteilen, dieser Herr habe seine zulässige Tagesration Bier schon bekommen. „So lässt sich auch verhindern“, erläutert Martin Anders, „dass Kinder oder bekannte Problemfälle überhaupt Bier oder Zigaretten erhalten.“ A propos Problemfälle: Bei Notfällen oder Gewalttätigkeiten erhalten die Sicherheitskräfte alle Infos zum Einsatz aufs Display ihres Handys oder PDAs gesendet, bis hin zu Täterbeschreibungen mit Foto und Videosequenzen aus den Überwachungskameras.

In welchen Stadien wann welche Zukunftstechniken auftauchen werden, weiß noch niemand so genau. Die Clubs und Planungsbüros behandeln ihre Vorhaben als Betriebsgeheimnis. Bekannt sind nur die Gesamtbaukosten: Für die 1,2 Milliarden Euro, die New Wembley verschlingen wird, traut sich Weltraum-Pionier Patrick Collins zu, gleich zwei Aludosen-Stadien in den Orbit zu hängen.

ERSCHIENEN IN DIGITS 3/2003 (HERAUSGEBER: T-SYSTEMS)

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