Just in time im Niemandsland

belomonteBelo Monte – Bauen am Amazonas

Auf einer der größten Baustellen der Welt, am Staudamm Belo Monte in Brasilien, gelten die Regeln der schlanken Fertigung. Mitten im Amazonas-Dschungel helfen Porsche-Berater den Mitarbeitern eines aus zehn verschiedenen Baukonzernen bestehenden Bau-Konsortiums, die Verschwendung von Zeit und Material zu vermeiden.

Der schöne Berg, wie „Belo Monte“ auf Deutsch heißt, steht am zivilisationsfernsten Außenposten, an dem Porsche-Berater bisher tätig waren. Es ist jedoch keine imposante Anhöhe. Beeindruckender als die Hügel in der Region Belo Monte ist das Tal, durch das sich der Rio Xingu wälzt, ein Seitenarm des Amazonas. Was ebenso ins Auge springt, sind die gigantischen Baustellen.

Dass Seniorexperte Arlan Cardoso und sein Beraterteam tief im Dschungel schwitzen, verdanken sie der Tatsache, dass in diesem abgelegenen Teil des brasilianischen Bundesstaats Pará eine der größten Talsperren aller Zeiten entsteht, als Reservoir für das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt. Die Turbinen der Usina Hidrelétrica de Belo Monte sollen ab 2019 in der Spitze bis zu elf Gigawatt erzeugen, fast soviel Strom wie alle noch arbeitenden Atomkraftwerke Deutschlands zusammen. Hauptinvestor ist die Betreiberfirma Norte Energia.

Das Spezialgebiet der Berater hat einen Namen, der im größtmöglichen Kontrast zu den gewaltigen Ausmaßen der Betonstrukturen steht, die bis zu vier Milliarden Kubikmeter Wasser zurückhalten sollen. Es heißt Lean Construction. Dabei gehört der Komplex aus Staumauern, Deichen und Kanälen zum massivsten, was Menschen seit dem Bau der Pyramiden konstruiert haben. 3,3 millionen Kubikmeter Beton müssen die Arbeiter verarbeiten.

Wenn Arlan Cardoso vom „schlanken“ Bauen spricht, meint er kein neues Konstruktionsprinzip der Architekten oder Statiker, sondern die Anwendung der „Lean Production“-Philosophie auf die Arbeitsabläufe auf Baustellen. So dürfen die Betontransporter nicht in kürzerem Takt beladen werden, als sie auf den drei Großbaustellen entladen werden können. „Früher stand der fertig angerührte Beton manchmal zu lange in der Hitze“, erzählt Cardosos Chef Rüdiger Leutz, „er trocknete und wurde hart, man konnte ihn nur noch wegwerfen.“ Die Just-in-time-Methode steigere also nicht nur die Produktivität, sie vermeide zugleich umweltschädliche Materialverschwendung sowie zeitraubende Nacharbeiten, die den Zeitplan ins Rutschen brächten.

Lean Construction ist ein wachstumsstarkes Betätigungsfeld für Porsche Consulting. Für die brasilianische Niederlassung ist es sogar schon mit Abstand das größte. 80 Prozent seines Umsatzes fährt Leutz mit seinem Beraterteam in Brasilien damit ein. „Wir hatten bereits 2010 Kontakt zur Bauwirtschaft, waren aber nicht darauf fokussiert“, sagt der Deutsche, der seit 2008 in Brasilien lebt und seit 2013 das Büro von Porsche Consulting in São Paulo leitet. Die Chance, groß in die Branche einzusteigen, bot die erweiterung eines Containerhafens in Rio de Janeiro. Im Auftrag von Andrade Gutierrez, einem der führenden Baukonzerne Lateinamerikas, brachten die Porsche-Experten Takt in die Arbeitsabläufe. Bei dieser ersten Zusammenarbeit konnte sich die Firma davon überzeugen, dass sich bewährte Methoden aus dem Automobilbau durchaus auf die Bauwirtschaft adaptieren lassen.

Leiter der Bauarbeiten beim Consórcio Construtor Belo Monte (CCBM) ist Marco Túlio Pinto. Sein Arbeitgeber Andrade Gutierrez führt das Konsortium, welches die Betonstrukturen, also Staumauern, Zulaufkanäle und Kraftwerke in den Bereichen Belo Monte und Pimental errichtet. Bei dem Megaprojekt steht weitaus mehr auf dem Spiel als in Rio. Deshalb sicherte sich Andrade Gutierrez die Unterstützung der Porsche-Berater auch für Belo Monte – in allen Bereichen des Baus. Die Partnerfirmen teilen dort nicht etwa einzelne Baulose untereinander auf, sondern arbeiten in gemischten Teams zusammen. So kommt es, dass Arlan Cardosos Mannschaft jetzt Managern und Arbeitern der drei größten Baukonzerne Brasiliens gleichzeitig das Prinzip der Lean Construction nahebringt: Außer ihrem unmittelbaren Auftraggeber, derzeit die Nummer drei auf dem Markt, gehören zu den Konsortialpartnern unter anderem auch das nächstgrößere Unternehmen Camargo Corrêa sowie der Branchenriese Odebrecht.

Die Berater arbeiten unter Bedingungen, die auch für Brasilianer gewöhnungsbedürftig sind. „Im feuchtheißen Klima des Amazonasgebiets zu arbeiten, ist per se schon eine Herausforderung“, sagt Projektleiter Túlio Pinto. Noch schwieriger ist es allerdings, sich zunächst auszumalen, was man mitten in der Wildnis tun kann, um dort mittels Lean Construction und Kontinuierlicher Verbesserung eine Kultur der „operativen Exzellenz zu etablieren – als allgemeinen Kodex, an den sich 30 000 Beteiligte halten“. Das ist nämlich sein ehrgeiziges Ziel.

Und es ist der Job von Arlan Cardoso, der immer wieder auf Menschen trifft, denen er wie ein Wesen aus einer fremden Welt erscheinen muss. „Mit Unternehmensberatern zusammenzuarbeiten, ist für die meisten hier komplett neu“, sagt der Seniorexperte. Das Teilnehmerspektrum seines Workshop-Programms reicht von gut ausgebildeten Bauingenieuren bis zu angelernten Hilfskräften aus der Region. „Die Arbeiter sind zum Teil im Dschungel aufgewachsen und haben nie lesen und schreiben gelernt“, erklärt Rüdiger Leutz. „Wir haben den Zuschlag bekommen, weil wir zugesichert haben, auch diese Menschen zu qualifizieren.“

Und das direkt auf der Baustelle.

Aber wie vermittelt man Menschen, die noch nie nach der Uhr gelebt haben, noch dazu in einem Land, zu dessen Lieblingsvokabeln „amanhã“ (morgen) gehört, dass es wichtig ist, ihre Aufgaben „just in time“ zu erledigen? „Wir versuchen natürlich nicht, unsere Modelle eins zu eins zu übertragen“, sagt Leutz, „wir adaptieren und wenden sie so individuell an, wie das am Amazonas möglich und sinnvoll ist.“ Das heißt: kaum Theorie, viele Schaubilder, angepasster Takt. Wo die schlichte Abfolge von Tag und Nacht das Leben der Menschen strukturiert, bietet sich ein Tagesrhythmus an. Arbeitsfortschritte in noch kürzeren Abständen zu messen, funktioniert nicht, längere Intervalle sind Leutz zu riskant. Abends sehen die Experten, ob die Mannschaft ihr Tagespensum erreicht hat oder wo es klemmt. In den Workshops und auf den Baustellen gehen ihnen junge Bauingenieure zur Hand, die so lernen, was Shopfloor-Management bedeutet. Die Regeln, die sie den Arbeitern vorgeben, müssen unkompliziert sein. Schließlich soll das Training fortwirken, auch wenn die Porsche-Berater wieder weg sind.

Noch sind sie mittendrin – und ständig auf Achse. 300 Kilometer pro tag fährt Arlan Cardoso zwischen den drei Baustellen hin und her. Mit den Kollegen bespricht er sich abends persönlich im gemeinsamen Zentralquartier, denn telefonieren ist wegen fehlendes Netzempfangs kaum möglich. Immerhin gibt es ein brauchbares Wegenetz. Am Anfang des Projekts existierte abseits von Altamira, der einzigen Stadt in der Xingú-Region, keine nennenswerte Infrastruktur. CCBM musste das Terrain von der nördlich vorbeiführenden Transamazônica aus selbst erschließen – mit Straßen, Betonfabriken und einem Frachthafen fürs Baumaterial. Von mobilem Internet, auf Großbaustellen in Metropolregionen Standard, können Bauleiter und Berater bis heute nur träumen. Wenigstens GPS funktioniert überall.

Und es geht endlich vorwärts mit einem der weltweit größten Vorhaben auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Die Geschichte von Belo Monte reicht zurück bis in die Siebzigerjahre. Die damals herrschende Junta träumte davon, Amazonien mit Wasserkraftwerken vollzubauen – ohne ökologische und soziale Rücksichten. Jahrzehntelang rangen Regierungen, Umweltschützer und Vertreter der in der Region ansässigen indigenen Völker um eine Lösung – politisch und vor Gericht. Der Staat machte immer mehr Abstriche gegenüber den ursprünglichen Plänen, statt einer Fläche von Bodensee-Dimension zusätzlich ein zehn mal so großes Areal zu überfluten. Norte Energia versichert heute, nicht ein zollbreit Indianerland werde überschwemmt, und es stellt Geld für Artenschutzprojekte bereit. immerhin leben im Rio Xingú einzigartige Spezies.

Nicht alle Nichtregierungsorganisationen sind mit dem Erreichten zufrieden. Doch das Wasserkraftwerk erspart Lateinamerikas aufstrebender Wirtschaftsnation den Bau mehrerer Atomkraftwerke. Im Vergleich zu den Waldflächen, die in der Amazonasregion für landwirtschaftliche zwecke gerodet wurden, ist das demnächst überschwemmte Areal verschwindend klein. Auch das Gesamtvolumen aller Bauwerke des Belo-Monte-Projekts ist überschaubar.

Marco Túlio Pinto ist guter Dinge, dass es ihm und seinen Leuten mittels Lean Construction gelingt, das Mammutbauwerk material- und damit auch kostensparend zu vollenden: „Wir konnten in verschiedenen Bauphasen Verschwendung aufspüren und Ausschuss vermeiden – und damit die Wertschöpfung steigern.“ Für Rüdiger Leutz und Arlan Cardoso ist das ein schönes Kompliment: Wer das unter den erschwerten Bedingungen mitten im Urwald schafft, der schafft es überall.

Erschienen in „Porsche Consulting – Das Magazin“, Ausgabe 15 (Oktober 2014)

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