Nicht ganz bei allen Sinnen

Sehen und fühlen? Immer. Hören und riechen? Kommt drauf an. Schmecken? Eher selten. Über die Schwierigkeit, den Menschen auf sämtlichen Wahrnehmungskanälen zu erreichen.

2015_02-dr1Nur bei Pringles klingelt‘s. Die Kartoffelchips sind das einzige bekannte Beispiel dafür, dass es Produktdesignern gelungen ist, die Sinne der Verbraucher wirklich rundum anzusprechen. Sie haben eine charakteristische Form, die man selbst mit geschlossenen Augen erkennt. Sie sind so knackig, dass das Knuspergeräusch das Ohr von innen und außen erreicht, verströmen ein appetitliches Aroma und reizen auf der Zunge die Rezeptoren für Salziges. In der scharfen Variante kitzeln sie sogar die Nerven im Mund auf eine Weise, die der Laie für Geschmack hält, obwohl sie streng genommen ins Reich der Haptik gehört. Die Schärfe der Capsicum-Schoten setzt einen Schmerzreiz. Paprikachips sind die Maso-Variante unter den Snacks, Produkte für den sechsten Sinn.

Ansonsten sieht es mau aus mit Beispielen für das, was man omnisensuelles oder omnisensorisches Design nennen könnte, also eine Gestaltung, die aus dem Vollen schöpft, die alle Register zieht, die den Menschen ganzheitlich herausfordert. Keksbäcker, die letztlich ähnliches leisten wie die Pringles-Erfinder, verstehen sich eher nicht als Designer, und der Wortschatz ihrer Formensprache ist so begrenzt, dass in ihren Backöfen kaum je etwas so Unverwechselbares entsteht, dass ein Antrag auf Gebrauchsmusterschutz Sinn hätte. Viele hübsche Leckerbissen wiederum haben akustisch nichts zu bieten.

Nun ist Design jenseits der Lebensmittelindustrie ohnehin keine Frage des Geschmacks. Deshalb bleibt das Prädikat „multisensuell“ oder „multisensorisch“ das höchste der Gefühle. Dann bekommen außer dem Sehnerv und dem Tastsinn auch Gehör und Nase etwas geboten – etwa wenn man sich in ein neues Auto setzt, das nach frisch gegerbtem Leder duftet, und die Tür mit einem unaufdringlich-satten Plopp meldet: „Ich bin zu.“ Bei maximal vier adressierbaren Wahrnehmungskanälen klingt allerdings selbst das Präfix „multi“ ein wenig großmäulig. Eins, zwei, drei, viele. Indes hat sich der Begriff „Multimedia“ fest etabliert, obwohl es dabei auch nur um Audiovisuelles geht.

Wer als klassisch ausgebildeter Gestalter damit liebäugelt, die vertrauten Grenzen des Visuellen und Haptischen zu überschreiten und sich aufs Terrain der Akustik und Olfaktorik zu wagen, wird zwar jede Menge Spannendes entdecken. Er wird aber auch schnell feststellen, warum er an seiner Akademie nicht viel über Klang- und Duftdesign gelernt hat – wenn er nicht gerade Teilnehmer jenes Modellversuchs auf der Burg Giebichenstein in Halle war, mit dem der Kunsthochschulprofessor und Querdenker Peter Luckner um die Jahrtausendwende interdisziplinäres Denken anregen wollte. Der Grund ist der gleiche, aus dem allenfalls mal ein Augenoptiker eine Zusatzqualifikation als Hörgeräteakustiker erwirbt, aber der Hals-Nasen-Ohren-Arzt niemals Brillen verordnet und in Hollywood ganz bestimmt kein Kameramann den Oscar für die besten Sound-Effekte bekommt. Die physikalischen Grundlagen des Hörens und Sehens kann man büffeln. Wer wirklich in die Tiefe gehen und kreativ sein will, muss sich entscheiden. Zwei Sinnesorgane gleichzeitig zu verwöhnen – das Auge und die Haut, die die Oberfläche eines Werkstücks abtastet – ist bereits eine reife Leistung. Den Rest kann man getrost anderen überlassen, so wie es in der Industrie auch Praxis ist.

Die Sphären der Töne und Gerüche unterscheiden sich grundlegend von dem, worum sich klassische Industriedesigner bemühen. Die Form eines Autos, eines Handys oder einer Bohrmaschine ist immer sichtbar und greifbar, auch in ausgeschaltetem Zustand. Sie hat Bestand über die gesamte Lebensdauer des Produkts, sie interpretiert die Marke immer wieder neu. Auch wenn ein Mercedes oder BMW des Baujahres 2015 Elemente von Vorgängermodellen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts zitiert, spiegelt er doch den heutigen Zeitgeist. Das sichtbare Design ist Ausdruck eigener Kreativität und Bekenntnis zum Fortschritt. Das hörbare und riechbare Design ist fast immer das glatte Gegenteil dessen: Unbehandelt klänge ein heutiger Porsche völlig anders als der Ur-Neunelfer des alten Ferdinand, allein schon weil der Motor ganz anders gebaut ist. Heute sind die Autohersteller aber in der Lage, ganzen Motorenpaletten einen markentypischen Klang zu verleihen, selbst wenn Diesel darunter sind. Harley-Davidson hat sich in den USA sogar das kernige Röhren seiner Maschinen markenrechtlich schützen lassen. Der Job besteht nicht darin, Neues zu erschaffen, sondern das Neue zu kaschieren und das Alte zu simulieren. Deshalb machen ihn auch keine ausgebildeten Tongestalter – die gehen lieber zum Film oder in die Computerspiele-Industrie – sondern Ingenieure.

Das gleiche Arbeitsprinzip bestimmt den Alltag in Olfaktorik-Abteilungen. Der erste Job der Geruchsspezialisten einer Automarke besteht darin, die vom Designer ausgewählten Materialien auf ihre Ausdünstungen zu untersuchen. Der unterschwellig im Langzeitgedächtnis der Kunden verankerte „Neugeruch“, ursprünglich eine unvermeidliche, aber eher unerwünschte Begleiterscheinung des Einsatzes von Polymeren mit ihren Weichmachern, kann zwar noch zart zitiert werden, aber der Wagen darf keinesfalls so stinken, dass der Käufer sich belästigt fühlt oder glaubt, er werde krank davon. Design ist also hier eine Kombination aus Vermeidung, Retusche (über so genannte Geruchsmaskierung) und dem Setzen dezenter Duftmarken. Klar ist bei langlebigen Konsumgütern aber auch, dass sich die mitgelieferten Geruchsmoleküle über kurz oder lang verflüchtigen und der Gegenstand dann vor allem nach seinem Besitzer riecht. Sollten sich die zugesetzten Moleküle nicht verflüchtigen, hat der Parfümeur überdosiert. Und das goutiert der Kunde gar nicht, wie die Erfahrung mancher Hotels und Handelsgeschäfte zeigt, die ihrer Corporate Identity durch die Begasung ihrer Räumlichkeiten mit zum Markenduft vermischten ätherischen Ölen etwas zuviel Nachdruck verleihen wollten.

Die Zielgruppe buchstäblich an der Nase herumführen zu wollen, ist also unklug. Evolutionsgeschichtlich hatte das Riechorgan nicht nur die Aufgabe, aromatische Nahrung zu wittern, sondern auch vor Gefahr zu warnen. Ein allzu aufdringliches olfaktorisches Signal weckt eher die Angst, es werde etwas Gefährliches überdeckt, als dass es die Menschen anlocken würde. Deshalb ist es für jeden Designer, der mit neuen Werkstoffen hantiert, hoch spannend, sich zumindest passiv mit Gerüchen zu befassen. Peter Luckner betrieb auf der Burg seinerzeit ein kleines Riechlabor, das er schließlich einpacken durfte, weil sein Nachfolger kein Interesse daran hatte. Wer in das Thema mehr als nur hineinschnuppern möchte, wäre wohl bei Sissel Tolaas an der richtigen Adresse. Die in Berlin lebende norwegische Forscherin, Künstlerin und Beraterin gilt als Besitzerin der wahrscheinlich weltweit breitesten Sammlung an Wohl- und Übelgerüchen – und sie schreckt vor keinem Experiment zurück. In einem Interview erzählte Tolaas einmal, sie habe Bakterien aus David Beckhams Fußballschuhen geschabt und damit einen Rohmilchkäse angesetzt. Ihre Philosophie lässt sich in etwa so zusammenfassen: Es gibt keinen „schlechten“ Geruch; ob etwas duftet oder stinkt, ist ganz und gar subjektiv.

Wer Produkte entwirft, die sich gut verkaufen müssen, ist dann vielleicht doch gut beraten, sich auf die Grundtugenden der klassischen Ästhetik zu beschränken und auf empfindliche Nasen und Ohren Rücksicht zu nehmen. Es ist ja keine Kleinigkeit, etwas so zu gestalten, dass alle finden: Das Produkt sieht gut aus und fühlt sich gut an.

 

Erschienen im designreport 2/2015

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