Faktencheck zu Tempo 30

Die Freunde der Entschleunigung im Straßenverkehr lassen nicht locker hier bei uns in Kaufering. Ich unterstelle mal, dass diese Leute nicht absichtlich ihre Mitbürger ärgern wollen, wenn sie sagen, sie würden am liebsten den ganzen Ort zur flächendeckenden Tempo-30-Zone erklären. Wahrscheinlich glauben sie wirklich, dass sie die Verkehrssicherheit und den Umweltschutz fördern würden.

Was ist das beste Mittel gegen Aberglauben? Fakten. Man findet sogar im Internet zu unserem lokalpolitischen Aufregerthema Fakten, die nicht den alternativen Selbigen zuzurechnen sind.

Wohl denn. Werfen wir zuerst mal einen Blick auf die Argumente der radikalen 30-Befürworter, die gerne mal mit akademischen Titeln Autorität vortäuschen, obwohl sie nicht vom Fach sind. Pars pro toto greife ich Maria Limbourg heraus, Professorin am Fachbereich Bildungswissenschaften (!) der Uni Duisburg-Essen, wo man interessanterweise eine „AG Mobilität und Verkehr“ gegründet hat.

Das Thesenpapier dieser Arbeitsgruppe behauptet also Folgendes:

„Bei Tempo 30 ereignen sich weniger Unfälle“

Unter diesem Punkt wird im Kontext der Tatsache, dass Kinder fast ausschließlich bei Unfällen innerorts verletzt werden (was daran liegt, dass sie nicht auf Autobahnen fahren dürfen), behauptet, zu hohe Geschwindigkeiten seien die Hauptursache aller Unfälle mit Personenschäden. Daher erscheine es sinnvoll, „die Geschwindigkeit innerhalb von Ortschaften von Tempo 50 auf Tempo 30 zu reduzieren“. Eine Quelle für diese Behauptung ist in dem Brevier leider weder genannt noch verlinkt. Das gilt auch für die weiteren Aussagen, etwa dass „in Tempo 30-Zonen etwa 40 Prozent weniger Unfälle als in vergleichbaren Tempo 50-Bereichen passieren“, was wiederum monokausal den kürzeren Brems- und Anhaltewegen zugeschrieben wird. Die Logik des simplizistischen Erklärversuchs: Kinder rennen auf die Fahrbahn, und da ist es gut, wenn das Auto 15 Meter früher zum Stehen kommt.

Aber ist das im richtigen Leben wirklich das Problem? Ich traue bei solchen Fragen mehr dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) als Bildungsforschern, denn der beschäftigt Experten für Unfallforschung, die keine populistischen Thesen in den Raum stellen, sondern empirisch arbeiten. So hat die UDV (Unfallforschung der Versicherer) über einen Zeitraum von fünf Jahren (2006 bis 2010) die Verkehrsunfälle mit Personenschaden in Berlin ausgewertet, mit besonderem Augenmerk auf Unfallschwerpunkte. Und siehe da: Unangepasste Geschwindigkeit ist eine ausgesprochen seltene Unfallursache. Wenn Autofahrer Fußgänger oder Radfahrer verletzen, tun sie das in den allermeisten Fällen beim Abbiegen, sofern sie nicht beim Parken die Tür aufreißen, ohne sich vorher umzusehen, ob da ein Radler kommt.

Schauen wir uns die Ergebnisse mal näher an:

„Häufigste Unfallursachen von Kraftfahrzeugführern sind dabei unabhängig von der Hauptschuld: Fehler beim Abbiegen, falsches Verhalten beim Ein-/Aussteigen oder Be-/Ent- laden, das Nichtbeachten der Vorfahrt sowie Fehler beim Einfahren in den fließenden Verkehr.“

Dabei erwischt es doppelt so häufig Radler wie Fußgänger, die ihrerseits gerne mal die Fahrbahn überqueren, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten, plötzlich hinter Hindernissen hervortreten oder bei Rot rüberrennen. Wenn der Unfall mal auf gerade Strecke passiert – das betrifft nur jeden fünften Unfall – ist laut der Studie eine typische Situation, dass Schüler den Bus erwischen wollen, der auf der anderen Straßenseite die Haltestelle anfährt.

Um die Ergebnisse einordnen zu können, muss man das Risiko einschätzen können, dass überhaupt etwas passiert. Zum Glück werden gar nicht so oft Menschen totgefahren, wie viele Leute glauben. Es gibt Jahre, in denen kommt in ganz Berlin (3,5 Millionen Einwohner) kein einziger junger Fußgänger ums Leben; in einem „normalen“ Jahr ist es einer. Leider wird alle drei Tage einer schwer verletzt, was aber sehr viel damit zu tun hat, dass es in der Hauptstadt viele große und nicht unbedingt übersichtliche Kreuzungen von mehrspurigen Straßen gibt. Wo zweispurig abgebogen wird, verdeckt schon mal ein Auto die Sicht auf den Rad- und Fußweg.

Rechnet man die Zahl pi mal Daumen auf Kaufering um, sprechen wir von einem schweren Unfall alle drei Jahre. Dabei sind aber Ergebnisse aus dem Großstadtverkehr nicht 1:1 auf eine Marktgemeinde übertragbar, in der es die schlimmsten Gefahrenquellen, die man aus Berlin kennt, überhaupt nicht gibt. Vielleicht sollten unsere Tempo-30-Fans mal in den Archiven nachschauen, wann hier zum letzten Mal ein Fußgänger von einem Auto angefahren und schwer verletzt wurde und ob die Geschwindigkeit die Ursache war.

Werfen wir noch einen Blick auf Berlins 20 „Unfallhäufungsstellen“. Von 2006 bis 2010 ereigneten sich dort 328 Unfälle mit verletzten Fußgängern oder Radfahrern. Bei diesen Unfällen wurden insgesamt 111 Fußgänger und 219 Radfahrer verletzt. Ein Radfahrer und zwei Fußgänger wurden bei den Unfällen getötet (innerhalb von fünf Jahren wohlgemerkt). 82 Personen wurden schwer verletzt, also alle drei Wochen einer. In 60 Prozent der Fälle verletzte ein Autofahrer einen Radfahrer, in drei Viertel der Fälle war der Autofahrer schuld, und in 94 Prozent der Fälle passierte es beim Einbiegen oder Kreuzen. Das heißt: Selbst an den besonderen Gefahrenstellen Berlins ist es eine Seltenheit, dass ein Auto, das geradeaus fährt – und nur davon reden wir bei Tempo 30 vs. Tempo 50 – einen Unfall baut, bei dem ein Radler zu Schaden kam.

Bei Fußgängern sieht es etwas anders aus: In mehr als der Hälfte der Fälle laufen sie einem Fahrer, der geradeaus fährt, in den Wagen, und in vier von neun Fällen sind sie selbst schuld. Da aber Fußgänger viel seltener in Unfälle verwickelt sind als Radfahrer, hat diese Konstellation an den bekannten Unfallschwerpunkten einen Anteil von einem Sechstel aller Unfälle, und nur jeder elfte Unfall mit Verletzten entspricht dem Szenario, das als Begründung für Tempo 30 dient (Autofahrer passt nicht auf, fährt jemanden an). Ist denn wenigstens in diesen Fällen zu hohes Tempo der Knackpunkt? Nein. Bei den fünf häufigsten Ursachen fehlt es. Dies sind die Hauptfehler von Autofahrern an Berlins Unfallschwerpunkten:

– Fehler beim Abbiegen (Abbiegeunfall Kfz mit Radfahrer) 24 Prozent

– Nichtbeachten der Vorfahrt regelnden Verkehrszeichen 22 Prozent

– Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern an Fußgängerfurten 15 Prozent

– Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern beim Abbiegen 11 Prozent

– Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern an anderen Stellen 3 Prozent

Die Statistik passt leider nur zu gut zu meinen Erfahrungen als Radfahrer: Wenn ich gefährliche Begegnungen mit AutofahrerInnen habe, wie zuletzt vorgestern in Landsberg, dann passiert das fast ausschließlich, wenn das Auto abbiegt oder auf einen Parkplatz fährt bzw. herauskommt und dabei den Radweg überqueren muss. Die Leute schauen nicht, schon gar nicht, wenn man mit ihnen in derselben Richtung fährt, und halten dabei gerne mal ihr Handy ans Ohr. Da genügt auch ein Aufprall mit Tempo 20, und man fliegt durch die Gegend. 

Kurz noch zu anderen Punkten des Duisburger Thesenpapiers, die ich hier in Kaufering gelegentlich höre.

„Bei Tempo 30 haben Unfälle weniger schwere Folgen“

„Bei Tempo 30 können die Gefahren besser erkannt werden“

Das ist banal, aber man sollte mit dem Auto halt nie schneller fahren, als die Verkehrslage und die Übersichtlichkeit der Strecke es erlaubt. Beispiel Haidenbucherstraße: Wenn nicht gerade dichter Nebel herrscht, reicht der Blick so weit, dass zwischen Tankstelle und Pizzeria Tempo 30 lächerlich langsam ist. Bei uns in der Buchenstraße sollte aber bitte niemand 50 fahren, auch wenn es nicht verboten ist.

„Tempo 30 reduziert das motorisierte Verkehrsaufkommen“

Ein interessanter Punkt, denn darum geht es vielen: den Menschen das Autofahren zu verleiden. Leider glaubt die Duisburger Arbeitsgemeinschaft, dass die Menschen dann nicht nur mehr Rad fahren, sondern auch mehr öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Gerade die kommen bei Tempo 30 aber auch langsamer voran, werden also weniger attraktiv – von den höheren Kosten (mehr Busse und Personal für identische Verkehrsleistung) abgesehen. Will man, dass die Menschen nicht mehr so oft Auto fahren müssen, braucht es einen konkurrenzfähigen ÖPNV, also einen schnellen mit vielen Fahrten.

„Tempo 30 führt zu menschenfreundlichen Städten und Dörfern“

Angeblich bedeutet Tempo 30 „weniger Lärm, weniger Abgase und mehr Wohnumfeldqualität“, und es soll irgendwelche Untersuchungen geben, die auch niedrigere Schadstoffwerte bei Tempo 30 belegen. Die Realität sieht anders aus: Nicht die absolute Geschwindigkeit korreliert mit Lärm und Abgas, sondern die Flüssigkeit des Verkehrs und die Motordrehzahl. Wenn ich im 4. Gang mit Tempo 45 fahre, ohne bremsen zu müssen, mache ich weniger Gestank und Krach, als wenn ich an jeder Ecke anhalten und wieder anfahren muss. Wer mir nicht glaubt, lese es hier beim ADAC nach. In der Broschüre sind verschiedene Untersuchungen (mit Quelle!) genannt. Zitat:

„Eine Studie der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW)8 hat sich im Mai 2011 mit der Fragestellung befasst, ob eine Absenkung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit auf Hauptverkehrsstraßen von 50 km/h auf 30 km/h eine Verbesserung der Emissionssituation zur Folge hat. Das Ergebnis der Studie fiel dabei eindeutig aus: „30 km/h führte zu Verschlechterungen der Emissions- und Kraftstoffverbrauchssituation.““

Noch mal Duisburg:

„Tempo 30 erhöht die Fahrzeit nur unwesentlich“

Das mag ja für eine 500-Meter-Fahrt zutreffen, für die man sowieso das Fahrrad nehmen sollte. Wenn aber die Ideologen, die uns das Auto abgewöhnen wollen (und zwar nicht nur den Mineralölstinker, sondern zwangsläufig auch das Elektroauto!), sich überall im Land durchsetzen, verbringt jeder, der fahren muss, erheblich mehr Zeit hinter dem Steuer als jetzt, und voller wird es auf den Straßen auch, weil die Autos nicht so schnell wieder von der Fahrbahn weg sind. Entlarvend ist die rhetorische Frage: „Können Tote und Verletzte der Preis für diese zwei Minuten Zeitgewinn sein?“ Das ist die ganz dicke Moralkeule. Dabei fehlt der Argumentation der sachliche Unterbau.

„Tempo 30 muss mit psychologischer Unterstützung eingeführt und durchgesetzt werden“

Das ist der Nanny-Staat pur. Der dumme Bürger muss zu seinem vermeintlichen Glück gezwungen werden, und der Zweck der Bevormundung heiligt wohl das Mittel der Manipulation. Wer mag, kann das ja mal im Original nachlesen. Ich bin jedenfalls dafür, Bürger wie vernunftbegabte Wesen zu behandeln. Als Grundregel für Autofahrer genügt, dass sie nirgendwo schneller fahren dürfen, als sie verantworten können – und dass sie sich dafür auch jederzeit verantworten müssen. Ich kenne Straßen, in denen darf man 50 fahren, mehr als 40 geht aber eigentlich gar nicht. Auf anderen Strecken sind die roten Schilder mit der Zahl reine Schikane, etwa auf der A96, wo vor München Tempo 60 gilt, wenn mal die Mittelleitplanke vorübergehend abmontiert ist. Dann müsste ja auf jeder Bundesstraße mit Gegenverkehr Tempo 40 gelten.

Zur Selbstverantwortung gehört freilich auch, dass man nie, nie, nie am Steuer telefoniert, ohne einen Freisprecher zu benutzen. Das Quatschen und Simsen während der Fahrt ist im Gegensatz zu Tempo-30-Zonen ein akutes und echtes Sicherheitsproblem.

 

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