Mini-Serie 1 Jahr Covid (3): Das Kreuz mit den Wasserstandsmeldungen

Vor gut einem Jahr kam ein Kauferinger als erster deutscher Patient mit Covid-19-Diagnose ins Krankenhaus. Die Impfungen laufen, der Lockdown wird wegen der Mutationen sicherlich verlängert. Wie geht es weiter? Die Fortsetzung meiner Mini-Serie. Diesmal im Blick: die fatalen Schwächen der Zählung von Infektionen und Todesfällen – und warum die Wasserstandsmeldungen in den Nachrichten oft in die Irre führen.

Täglich irrt das Murmeltier

Ich könnte schier verzweifeln an der Unfähigkeit meiner Kollegen in manchen Radioredaktionen, korrekt mit den Wasserstandsmeldungen aus dem Robert-Koch-Institut umzugehen und Nachrichten zu verlesen, nach denen man sich richten kann. Die scheinen zu denken, nur weil es das Internet gibt, seien präzise aussehende Daten (also z.B. „24.358“ statt „irgendwas zwischen 23.000 und 26.000“) grundsätzlich auch exakte Echtzeitdaten.

Das ist aber nicht der Fall. Die Gesundheitsämter sind weder gescheit durchdigitalisiert noch always online. „Nur 151 der insgesamt 376 Ämter sind bisher an das digitale System SORMAS („Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System“) angeschlossen“, schreibt die Wirtschaftswoche. Dem Vernehmen nach sind Faxe und Papierformulare noch längst nicht ausgerottet, es gibt also zeitraubende Medienbrüche. Deshalb ist es immer, wenn man hört, es habe in Deutschland „binnen 24 Stunden“ soundsoviele Neuinfektionen und soundsoviele „Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19“ gegeben, schlicht und ergreifend Unsinn. Viren arbeiten im Gegensatz zu Gesundheitsämtern sieben Tage pro Woche. Dass im RKI am Wochende Leute Dienst schieben und Daten einfließen lassen, die aus Regionen kommen, in denen ebenfalls an Samtagen und Sonntagen gearbeitet wird, ist gut gemeint und daher löblich. Es heißt aber nicht, dass die Daten vollständig wären. Nochmal: Sie sind es nicht. Kein Landrat und kein Oberbürgermeister ist verpflichet, seine Beamten am Wochenende antanzen zu lassen, nur damit wir valide Zahlen bekommen. Vor allem wird am Wochende auch nur wenig getestet; in der Weihnachtswoche war unsere Teststation vom 23. bis 27. Dezember zu. Fünf Tage am Stück! Lieber belässt man die Dienstpläne, wie sie sind, meldet Datenmüll, treibt mal eine Woche lang die Dunkelziffer hoch. Was für eine Arroganz, was für eine Ignoranz, was für eine Unkollegialität gegenüber den medizinischen Beschäftigten in den Kliniken oder den Pflegekräften in den Heimen, für die Wechselschichten und Wochenendarbeiten Alltag sind. Die durften auch über Weihnachten rackern. Der öffentliche Dienst ist eine Zweiklassengesellschaft.

Und wie weltfremd sind meine Nachrichten-Kolleg:innen („das sind 1000 mehr/weniger als am vorigen Montag“)? Kennen die denn bis heute niemanden, der schon mal einen PCR-Test oder Schnelltest machen lassen musste oder wollte? Wenn man täglich darüber berichtet, sollte man sich doch mal eine Vorstellung machen von den praktischen Abläufen und was diese für die Aussagekraft von „aktuellen“ Zahlen bedeuten, oder?

Mit dem Opa im Testzentrum

Also gut. Dann plaudere ich eben mal aus dem Nähkästchen, wie es einem da ergehen kann mit der behäbig-zähen bayerischen Gesundheitsbürokratie – und wie die Zahlen einzuordnen sind. Es war an einem Freitagabend im Herbst. Meine Frau bekam einen Anruf von einer Covid-Erkrankten, die gerade ihr positives Testergebnis erfahren hatte. Neun Tage zuvor, also an einem Mittwoch, war sie bei meinem Schwiegervater zu Besuch gewesen und hatte ihm ein bisschen im Haushalt geholfen. Zwei Tage danach bekam sie die ersten Erkältungssymptome, dachte sich aber in der ihr eigenen Unbekümmertheit noch nichts. Als es nach dem Wochenende nicht besser wurde, ging sie schließlich zum Arzt, wurde getestet, und drei Tage später wusste sie endlich Bescheid, dass es wirklich „Corona“ war – geschätzte zwei Wochen, nachdem sie sich eine Ladung Sars-CoV2-Viren eingefangen hatte.

Zwar ist Schwiegervaters Wohnung geräumig und immer gut gelüftet, und die beiden waren sich nicht dicht auf die Pelle gerückt. Dem alten Herrn, der täglich zum Mittagessen zu uns kommt, ging auch nach wie vor prima. Aber man weiß ja nie. Jedenfalls habe sie vergessen, beim Gesundheitsamt meinen Schwiegervater als Kontaktperson anzugeben, sagte die vom Erreger (kräftig, aber nicht bedrohlich) gebeutelte Frau betreten. Und jetzt habe das Amt zu.

Ja, Mist. Wir müssen Opa testen lassen, und uns wahrscheinlich auch! Schließlich können auch alte Menschen symptomfreie Überträger sein.

Was also tun? Das Testzentrum in Penzing ist am Wochenende geschlossen, doch die Corona-Hotline des Landratsamts ist besetzt. Am Samstagvormittag ruft meine Frau also dort an und schildert den Fall. Die junge Frau, die ihren ersten Arbeitstag hat, sagt ihr, wir könnten am Montag ins Testzentrum kommen, dieses sei allerdings erst ab 14 Uhr offen. Deshalb scheint das Hausärztezentrum Kaufering die sinnvollere Option zu sein, denn es öffnet schon in der Früh. Am Montagmorgen ruft meine Frau dort an, schildert erneut den Fall. Tja: Die Sprechstundenhilfe verweist sie zurück ans Testzentrum, da wir alle drei keine Krankheitssymptome zeigen. Erneuter Anruf bei der Hotline des Testzentrums, ein junger Mann ist am Apparat. Meine Frau erzählt die ganze Story zum dritten Mal von vorn. Der junge Mann rät ihr, wir sollten keine Zeit verlieren und uns alle drei testen lassen, sicher ist sicher. Theoretisch könnten wir uns alle in der Inkubationszeit befinden und nur noch nichts merken.

Ein paar Stunden später stehen wir mit dem Auto in einer kleinen Warteschlange vor dem Testzentrum auf dem Gelände des früheren Fliegerhorsts der Bundesluftwaffe. An einer Art Spargelhäuschen müssen wir uns anmelden. Die Mitarbeiterin, die uns durchs geöffnete Autofenster ausfragt, bevor wir zum Abstrich in den Hangar weiterfahren dürfen, findet uns nicht in der Liste, obwohl wir uns telefonisch angemeldet haben und alle korrekten Daten anhand des Autokennzeichens in ihrem Computer zu finden sein sollten. Es stellt sich heraus: Sie hat nach L-LF 1234 gesucht statt nach LL-F 1234. Als führen wir in Landsberg mit einer Leipziger Nummer herum! Aber Mitdenken ist bekanntlich Glückssache. Dann bringt die Dame auch noch unsere Handynummern durcheinander. Hoffentlich sind diejenigen, die später die Ergebnisse mitteilen, nicht auch so schusselig oder dusselig, denke ich mir.

Die verwirrendste Frage, die uns in Penzing gestellt wird: Ist der alte Herr eine Kontaktperson 1. Grades? Was das bedeuten soll, ist uns völlig unklar, das war am Telefon kein Thema gewesen. Da Opa den unmittelbaren Kontakt zu der Infizierten hatte, wir hingegen nur zu ihm, sagen wir Ja, und wir seien 2. Grad. Bald werden wir belehrt, dass dieser Terminus technicus im Jargon der Corona-Bürokratie eine ganz spezielle Bedeutung hat – aber nicht im Klartext, welche das ist. Es wird einfach vom Bürger erwartet, dass er weiß, dass damit nur Personen gemeint sind, „denen vom Gesundheitsamt mitgeteilt wurde, dass sie aufgrund eines engen Kontakts zu einem bestätigten Fall von COVID-19 nach den jeweils geltenden Kriterien des Robert Koch-Instituts Kontaktpersonen der Kategorie I sind“. Das Gesundheitsamt hatte uns aber gar nichts mitgeteilt. Merke: Wenn man Bürgern Fragen stellt, die sie nicht verstehen, bekommt man auch keine nützlichen oder nutzbaren Antworten.

Was zählt das RKI denn nun zur Kategorie 1 (übrigens arabisch 1, nicht römisch I), die ein „höheres Infektionsrisiko“ tragen?

„Kontaktpersonen werden bei folgenden Situationen der Kategorie 1 zugeordnet:
A. Enger Kontakt (<1,5 m, Nahfeld) länger als 15 Minuten ohne adäquaten Schutz (adäquater Schutz = Quellfall und Kontaktperson tragen durchgehend und korrekt MNS [Mund-Nasen-Schutz] oder MNB [Mund-Nasen-Bedeckung], siehe Anhang 2). B. Kontakt unabhängig vom Abstand mit wahrscheinlich hoher Konzentration infektiöser Aerosole im Raum > 30 Minuten

„Quellfall.“ Was für ein Unwort für einen Menschen!

Trotz der Irritationen, die unser Opa widerstandslos ertrug, ging alles gut. Den Dienstag benötigte noch das Labor für die Polymerase-Kettenreaktion und den Papierkram. Am Mittwochmorgen, also zwei Wochen nach der Risikobegegnung, hatten wir endlich das Ergebnis: alle negativ. Beim RKI dürften diese Tests vom Montag am Donnerstag in die Statistik eingeflossen sein. Soviel zu den 24 Stunden, von denen in den Nachrichten so gern die Rede ist. Es geht weder um Infektionen innerhalb eines Tages noch um Tests innerhalb eines Tages, sondern um die Meldungseingänge innerhalb eines Tages.

Meldungen sind dem Verlauf immer weit hinterher

Bei negativ verlaufenen Tests mag das egal sein. Aber es bleiben halt auch die positiven Tests und die Todesfälle für die Dauer X unbearbeitet. Zudem gibt es den allwöchentlichen Teststau, weil Patienten, die keine klinikpflichtige Symptomatik zeigen, sich mit der Fünf-Tage-Woche der testenden Arztpraxen und Testzentren abfinden müssen. Der Rückstau vom weitgehend tatenlosen Wochenende wirkt sich zwangsläufig auf das ganze System aus: auf den Andrang bei den Abstrichen, die Auslastung der Labore, das Abarbeiten der Befunde, die sich im Worst Case als Faxe in den Ämtern stapeln. Deshalb sind die Zahlen dienstags und mittwochs immer am höchsten, während die Zahlen donnerstags und freitags das realistischste Bild des aktuellen Infektionsgeschehens abgeben. Aber auch bei diesen Werten ist zu bedenken, dass sie keine Neuinfektionen beschreiben. Ist das jetzt angekommen?

Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass die Kollegen sich künftig darauf beschränken, einmal pro Woche, am besten am Samstag, die Summe oder den Durchschnitt der vergangenen sieben Tage zu melden. Diese Glättung auf rollierende 7-Tage-Daten ist ein Feature auf der Website Worldometers.info (von der auch die Infografiken im obigen Beitragsbild stammen). Der bloggende Statistikexperte Dirk Specht schrieb sich schon vor Monaten die Finger fusselig, um mathematischen Laien zu erklären, warum das nötig ist. (Leider sitzen in Nachrichtenredaktionen ziemlich viele Geisteswissenschaftler, die es mit Mathematik nicht so haben, was man an Formulierungen und Betonungen wie „es entstand ein Schaden in Mill-JOH-nenhöhe“ merkt. Schäden, die nicht in die Millionen gehen, haben eigentlich keinen Nachrichtenwert, aber dazu muss man zumindest eine grobe Vorstellung vom Unterschied zwischen Millionen und Milliarden haben.)

Auf Specht zu hören, ist sowieso der beste Rat, den ich geben kann. Er hat schon frühzeitig auf den Backlog bei der Auslastung der Intensivstationen und bei den Sterbeziffern hingewiesen: Am Trend der Inzidenz lässt sich abschätzen, wie schlimm es zwei bis vier Wochen später in den Kliniken aussehen wird – oder auch, ob sich die Lage entspannt. Die Kurve für den Januar zeigt tatsächlich deutlich nach unten. An Heiligabend überschritt die 7-Tage-Inzidenz bei rund 25.000 Meldungen pro Tag den Zenit, Mitte Januar lag sie noch bei 20.000, Anfang Februar sank sie unter die 10.000er-Marke. Sie hat sich also binnen drei Wochen halbiert. Inzwischen sterben auch nicht mehr über 900 Covid-Patient:innen am Tag, sondern „nur“ noch 600 (Stand: 8. Februar).

Der Lockdown wirkt also, wenn auch noch nicht stark genug. Immer noch ist es so, als würden täglich zwei größere Airbusse in der Luft miteinander kollidieren. Binnen drei Tagen sterben allein in Deutschland 20-mal so viele Menschen wie beim Lawinenabgang von Galtür plus doppelt so viele wie beim Tunnelbrand der Bergbahn Kitzsteingams in Kaprun plus genausoviele wie bei allen Erdbeben in Italien in den vergangenen 20 Jahren zusammengenommen. Oder: alle fünf Tage ein 11. September. Weltweit sind binnen eines Jahres mehr Menschen der Seuche zum Opfer gefallen, als Hamburg Einwohner hat: 2,3 Millionen.

Wenn wir jetzt nicht auf den täglichen Wasserstand schielen, sondern weiter diszipliniert bleiben, kriegen wir die Lage hoffentlich in absehbarer Zeit in den Griff. Wenn wir vorschnell auch für nicht Geimpfte alles öffnen, machen wir das Erreichte sehr schnell wieder zunichte. Denn die viel infektiöseren Mutationen* sind im Anmarsch.

* FAZ: Mutation durchkreuzt Impfpläne in Südafrika

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