Dieser Text über das damalige Trendthema Fuzzy Logic erschien im ersten von drei highTech-Specials, die die WiWo im Vorlauf der Cebit 1992 publizierte.
INTELLIGENTE NETZE: Auftrieb für die unscharfe Logik
Selbstlemende Systeme mit neuartiger Software schließen eine Lücke in der Automatisierungstechnik.
Als der Neurophysiologe Hans Geiger am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie vor neun Jahren seine Doktorarbeit über das raffinierte Sehsystem der Katze schrieb, dachte er nicht einmal im Traum daran, daß er sich eines Tages beruflich mit Marmelade befassen würde. Genauer gesagt: mit den Problemen ihrer Hersteller. „Was die Lebensmittelindustrie jedes Jahr an Ausschuß wegschmeißt, ist einfach ungeheuerlich“, schimpft Geiger, der heute für die Kratzer Automatisierung GmbH in Unterschleißheim forscht. „Da gehen Millionenwerte verloren.“ Eine marginale Fehldosierung bei den Zutaten, ein kleiner Patzer bei der Temperaturführung, und schon landet eine ganze Charge Kirschkonfitüre, Brechbohnen oder Sahnejoghurt auf der Mülldeponie.
Der klebrige Brotaufstrich dient Geiger freilich nur als Exempel fürs Prinzip. Der Nahrungsmittelhersteller, in dessen Auftrag die Kratzer-Experten derzeit an einer ausschußmindernden Computerlösung arbeiten, will sich nicht in die Karten gucken lassen. Denn das neue Verfahren, das in diesem Jahr in verschiedenen Branchen auf seine industrielle Praxistauglichkeit überprüft wird, ist in doppelter Hinsicht unkonventionell: Zum einen kommt Fuzzy Logic zum Einsatz, die vor allem aus den neuen Anti-Verwackel-Kameras bekannte unscharfe Logik, zum anderen künstliche neuronale Netze, eine Art selbstlernende Software.
Die Kombination der zwei innovativen Technologien, die jede für sich in der Fachwelt der Informatiker und Ingenieure noch sehr umstritten sind, ist zweifelsohne ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Diese Unberechenbarkeit liegt freilich schon in der Natur der Sache, ahmen beide doch im Prinzip menschliche Verhaltensmuster nach. Sehr vieles spricht allerdings dafür, daß sich neuronale Netze und Fuzzy Logic in der Steuerung und Regelung hochkomplexer Prozesse in geradezu idealer Weise ergänzen. „Fuzzy Logic bietet die besten Chancen, die Schwierigkeiten zu beheben, die wir heute noch mit den neuronalen Netzen haben“, behauptet etwa Professor Edgar Körner von der Technischen Hochschule Ilmenau, „während die Netze genau die Fehlstellen von Fuzzy abdecken.“
Der Thüringer Neuroinformatiker gilt als führender Fachmann auf diesem Gebiet – ein Ruf, der nicht zuletzt auf Körners intime Kenntnisse der japanischen Aktivitäten auf diesem Sektor zurückzuführen ist. Von der damaligen DDR-Führung hatte er die Erlaubnis erhalten, von 1984 bis 1987 an einem großangelegten Computer-Forschungsprojekt des japanischen Industrieministeriums Miti in Tokio teilzunehmen. Abgesehen von einem Schweden, war Körner der einzige Ausländer im Team – ein Pfund, mit dem er heute trefflich wuchern kann.
Seinen glänzenden Nippon-Kontakten verdankt Körner auch die Erkenntnis, daß die Theorie der unscharfen Logik beim praktischen Einsatz neuronaler Netze recht nützlich sein kann. Kei Yamaguchi, Projektleiter beim Laboratory for International Fuzzy Engineering Research (Life) in Yokohama, löste den entscheidenden Geistesblitz bei seinem deutschen Kollegen aus. Fuzzy Logic, erkannte Körner, versetzt den Anwender in die Lage, die von einem neuronalen Netz analysierten Datenmuster, beispielsweise Meßwertreihen, zu interpretieren und sogar Regeln aus ihnen abzuleiten. Mit Hilfe dieser Aussagen wiederum läßt sich eine sogenannte Fuzzy-Control-Steuerung entwickeln, die sich von einer herkömmlichen Steuerung dadurch unterscheidet, daß sie neben Ein/Aus oder Auf/Zu auch Zwischenstufen zuläßt wie „ein bißchen weiter öffnen“.
Das Spektrum möglicher Anwendungen in der Industrie ist riesig. Dem Marmeladenkocher aus Geigers Beispiel könnte die Neuro-Fuzzy-Liaison helfen, seinen Ausschuß zu minimieren: Das Netz wird als „passiver Beobachter“ ständig mit allen technischen Parametern gefüttert – wie Mengen der einzelnen Zutaten, Prozeßtemperatur und Zeit. Nach jeder Charge wird das Urteil des – menschlichen – Qualitätsprüfers eingegeben. Weil Fuzzy-Logic-Systeme keine exakten quantitativen Angaben benötigen, kann der Vorkoster fast umgangssprachlich unscharf formulieren, daß der Brotaufstrich „ein wenig zu flüssig“ oder „viel zu süß“ ist.
Nach etlichen Dutzend Durchläufen hat die Software ihre interne Statistik komplett. Der Computer weiß, wie bei drohenden Mißgeschicken gegengesteuert werden muß, und kann als automatisches Frühwarnsystem eingreifen, bevor Tonnen von Ware verdorben sind. Im Gegensatz zum herkömmlichen Expertensystem muß auch kein Fachmann versuchen, seine Erfahrung mühsam in mathematisch formulierte Regeln zu pressen. Nicht nur Geiger und sein Team diskutieren zur Zeit mit Kunden über die Realisierung von Neuro-Fuzzy-Lösungen.
Auch Ideenlieferant Edgar Körner, der inzwischen mit Starthilfe der Firma Kratzer in Ilmenau die Neurocontrol GmbH gegründet hat, verhandelt mit mehreren Interessenten. So will der Professor ein neuartiges Analyseinstrument für die Gaschromatographie weiterentwickeln – „ein sehr problematischer Fall von Mustererkennung“. In der Kombination mit klassischen Bildverarbeitungsmethoden sollen neuronale Methoden und Fuzzy eine automatische Klassifikation von Chromatogrammen ermöglichen; Anwendungen sieht Körner unter anderem in der Umweltforschung. Ein Autokonzern wiederum erwägt den Einsatz dieser Technik in der Qualitätskontrolle zur Analyse von Störgeräuschen.
Auch die führenden Hersteller von Fuzzy-Logic-Software haben die großen Marktchancen der Neuro-Kombination voll erkannt. Der kalifornische Branchenpionier Togai Infralogic Inc. offeriert jetzt eine derartige Software namens Tilgen, die in Deutschland von der Heidelberger GTS Kristof GmbH vertrieben wird. Und der deutsche Fuzzy-Marktführer Inform GmbH in Aachen liefert als Pendant dazu sein „Fuzzy-Tech-Neurofuzzy-Modul“, das in ein umfassenderes Entwicklungssystem eingebunden werden kann.
Die potentiellen Anwender sind so neugierig geworden, daß sich die Basler Marktforschungsgesellschaft Prognos AG entschlossen hat, in ihrer für Anfang Mai angekündigten Studie über den Einsatz der „Querschnittstechnologie“ Fuzzy Control in der Meß- und Regeltechnik auch das Thema Neuro-Fuzzy abzuhandeln.
Allerdings halten sich selbst die Hersteller noch mit allzu großen Versprechungen zurück. „Bei bestimmten Aufgabenstellungen“, relativiert Constantin von Altrock, Leiter des Inform-Geschäftsbereichs Fuzzy Systems in Aachen, „bietet unser Modul eine Verkürzung der Entwicklungszeiten.“ Auch die Neuroinformatiker scheuen sich, ihre Neuro-Fuzzy-Konzepte als Wundermittel gegen ungelöste technische Probleme zu propagieren. „Ein neuronaler Regler kann höchstens so gut sein wie der bestoptimierte algorithmische“, konstatiert Hans Geiger bescheiden. Den Vorteil der Netze sieht er allein in ihrer hohen Anpassungsfähigkeit an dynamische Systeme, die sich nur sehr schwer oder gar nicht mit Formeln beschreiben lassen. Und auch Edgar Körner postuliert weise Selbstbeschränkung: „Nur dort, wo ich durch eine scharfe Beschreibung falsche Genauigkeit vortäuschen würde, muß ich Fuzzy nehmen.“
Was die langfristigen Perspektiven der neuen Technologie angeht, kommen dieselben Wissenschaftler jedoch ins Schwärmen. Ex-Hirnforscher Geiger würde gerne hochqualifizierte Leute, die heute noch in der Qualitätskontrolle stupide Routinearbeiten erledigen müssen, für kreativere Jobs freistellen. Japan-Kenner Körner träumt sogar von Computern, Geräten und Maschinen, die jeder Mitarbeiter intuitiv bedienen kann, ohne eine Betriebsanleitung studieren zu müssen.
ULF J. FROITZHEIM
Fuzzy: Ohne Regeln
Für einen Programmierer ist es schwer zu akzeptieren, was da neuerdings auf dem Computermarkt Furore macht – Programme, die sich selber schreiben. Künstliche neuronale Netze sind eine Software, die scheinbar alle Gesetze der Datenverarbeitung auf den Kopf stellt: Kein Pflichtenheft definiert die Soll-Funktionen. Keine Befehlsketten oder Codezeilen sagen dem Computer, was er tun soll. Und doch kommt etwas Sinnvolles zustande.
Der Rechner lernt aus dem Input, was er können soll. Der Mensch muß ihn nur tadeln und loben. Cleveren Informatikern ist es damit gelungen, den Lernvorgang zu simulieren, der im menschlichen Gehirn abläuft. Die Software ist dabei analog zu dem Geflecht aus Nervenzellen (Neuronen) strukturiert, in dem sich das gesamte Denken des Menschen abspielt – vom Erinnern bis zum Entscheiden.
Das Handikap: Die synthetischen Neuronennetze sind sehr einseitig. Bei einer Aufgabe, auf die sie einmal gedrillt worden sind – etwa ein bestimmtes Symbol wiederzuerkennen –, arbeiten sie perfekt, bei einem andersgearteten Auftrag erweisen sie sich plötzlich als äußerst beschränkt. Hat der menschliche „Trainer“ das neuronale Netz dann doch so weit gebracht, daß es sich anpaßt, hat es wahrscheinlich den ersten Job wieder verlernt. Und weil es sich nicht an feste Regeln halten kann, sondern nur an statistisch gewonnene Erfahrung, gleicht es einer Blackbox. Sein Output läßt sich nie mit mathematischer Präzision vorhersagen – (aber: je länger das Training, desto enger die Toleranzgrenzen.
Bei der Fuzzy Logic hingegen, der sogenannten unscharfen Logik, werden keine physiologischen, sondern psychologische Abläufe imitiert. Grundlage dieser Theorie ist die Annahme, daß der Mensch sich deshalb in der Welt zurechtfindet, weil er nicht in absoluten, sondern in relativen Kategorien denkt: Er sagt nicht: 80 Prozent der maximalen Dunkelheit waren erreicht, sondern schlicht, es war ziemlich dunkel. Die Geschwindigkeit eines Autos nennt er sehr schnell, wenn es mit 40 Kilometern pro Stunde auf einen Fußgängerüberweg zufährt. Ein Auto, das mit dem gleichen Tempo über eine freie Autobahn rollt, würde er dagegen als sehr langsam bezeichnen.
Der Mensch berücksichtigt in seiner unscharfen Logik die Randbedingungen – ebenso wie Fuzzy Logic, die allerdings eine Schwäche hat: Sie ist bisher nicht lernfähig. Diesen Mangel sollen neuronale Netze beheben. Von allem in Japan wird auf diesem Sektor intensiv gearbeitet. UJF
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