Neue olympische Disziplin
aus highTech 6/1991
Wenn Abfahrtsläufer, Biathleten und Bobfahrer im nächsten Februar in Albertville um Goldmedaillen kämpfen, hat ein anderes Team bereits eine extreme sportliche Prüfung bestanden: die Softwaremannschaft des Organisationskomitees.
Ein wenig Phantasie gehört schon dazu, sich vorzustellen, welche Mutationen dieses unscheinbare Tal in den französischen Alpen in den wenigen Monaten bis zum nächsten Winter noch durchlaufen wird. Von Lyon bis Chambéry ging es ja noch zügig voran auf der Autobahn, aber hier auf der schmalen Chaussee, die entlang der Isère in die verschlafene Kleinstadt Albertville führt, quält sich die Fahrzeugschlange mühselig nordostwärts. Kaum auszudenken, dass sich im nächsten Februar eine Million Besucher aus aller Welt in dieser abgelegenen Region drängeln werden, dazu Heerscharen von Menschen, die den Publikumsmassen zu Diensten sein sollen – im Rahmen bis ins letzte Detail durchorganisierter Olympischer Winterspiele.
Für die Planer in Albertville, dem Hauptort und Namensgeber der Spiele, ist die notorisch unzureichende Infrastruktur ihrer Heimat längst kein Thema mehr. Ohne jeden Zweifel wird es den Straßenbauern gelingen, lange vor dem Eintreffen des Olympischen Feuers die vierspurige Autobahn jenseits der Isère fertig zu stellen. Parallel dazu wird die Zahl der verfügbaren Hotelbetten sprunghaft steigen. Dass ferner der (einer Stadt wie Lyon kaum würdige) Provinzflughafen „Satolas“ ebenso pünktlich wie der Albertviller Bahnhof ans Streckennetz des Superschnellzugs TGV angeschlossen wird, steht außer Frage, obwohl ein knappes Jahr vor den Spielen noch nicht einmal sämtliche Schienen verlegt waren.
Während also die Bautrupps im Eiltempo das nachholen, was die Region Savoyen in puncto Verkehrserschließung in den vergangenen zwanzig Jahren versäumt hat, plant Benoît de Chassey bereits die ordnungsgemäße Liquidation seines noch florierenden Unternehmens. Als Direktor auf Zeit ist der agile Endvierziger beim Organisationskomitee der 16. Olympischen Winterspiele verantwortlich für das weit verzweigte Informationssystem, ohne das während der zwei olympischen Wochen an allen Wettkampfplätzen das nackte Chaos ausbrechen würde.
Sein Job habe „no future“, kokettiert das Komiteemitglied mit schelmischem Grinsen, nach der Abschlussfeier am Abend des 23. Februar 1992 sei alles vorbei. Bis dahin jedoch müssen de Chassey, ehemals Inhaber eines eigenen Softwarehauses, und seine Mitarbeiter noch ein volles Programm absolvieren, wobei sie nicht minder unter Zeitdruck stehen als ihre Kollegen auf der Straße. „Eine Mondrakete können Sie auch noch einen Tag später abschießen“, kaspert der Chef der olympischen Software-Équipe, „wir dagegen können uns nicht einen Tag Verspätung erlauben.“
Doch Chasseys Leute liegen bisher hervorragend im Plan – nicht nur zeitlich, sondern auch finanziell haben sie dank ihrer disziplinierten Arbeit sogar noch ein bisschen Luft. Und das gilt in der Computerbranche als mindestens so sensationell wie die termingerechte Ablieferung eines tadellosen Programms. Allerdings ist eine Softwareentwicklung für das comité d’organisation des Jeux Olympiques (Cojo) auch nicht zu vergleichen mit einem Allerweltsauftrag in der Industrie. So wächst nicht nur mit einem solchen Ziel vor Augen der Ehrgeiz aller Beteiligten. Auch um die nötigen Ressourcen an Hardware und Entwicklungswerkzeugen braucht sich das Cojo-Team keine Sorgen zu machen.
Willkommene Schützenhilfe leistet unter anderem der amerikanische Rechnerriese IBM, dessen Manager es wieder einmal meisterhaft verstanden, der einheimischen Konkurrenz einen grandiosen Prestigeauftrag vor der Nase wegzuschnappen. So fehlt der verlustgeplagte Pariser Staatskonzern Bull, der die olympische Werbewirkung noch viel nötiger gehabt hätte als Big Blue, auf der Liste der Sponsoren, die dem edlen „Club Coubertin“ beitreten durften.
Lediglich als „Offizieller Lieferant“, dafür aber mit einem weitaus größeren Einfluss auf das Gelingen des Vorhabens, ist ein zweites amerikanisches Unternehmen mit von der Partie: Andersen Consulting. Der Informatik-Ableger des Wirtschaftsprüfungsmultis Arthur Andersen & Co. nutzt das Olympia-Informationssystem als Demonstrationsobjekt für seine Software-Entwicklungsumgebung „Foundation“. Erstaunlich genug: Obwohl es sich um ein völlig neues Produkt handelt, das erst in Albertville seine Qualitäten auf dem Gebiet des Computer-Aided Software Engineering (Case) beweisen kann, stach Andersen so renommierte französische Rivalen wie Cap Gemini, Sligos oder Sema aus.
Mit dem geballten Know-how des US-Duos im Rücken entwickelt der Stab von Benoît de Chassey seit März 1989 sukzessive ausgeklügelte Computerprogramme für alle denkbaren Einsatzgebiete. Der Bedarf an Softwarelösungen innerhalb des Cojo war zeitweise so groß, dass bis zu acht Teilprojekte parallel bearbeitet werden mussten, jedes davon in einem anderen Stadium zwischen dem theoretischen Funktionsentwurf und der Generalprobe des fertigen Produkts.
Dass die Olympia-Planer unbedingt ihre eigene Software maßschneidern lassen mussten, statt beispielsweise den Programmcode der vorigen Spiele in Calgary wiederzuwenden, hängt mit einem Umstand zusammen, der auch den Verkehrsplanern die größten Kopfschmerzen bereitet hat: Nie zuvor verteilten sich olympische Wettkämpfe über so viele weit auseinander liegende Sportstätten. Val d’Isère etwa, Austragungsort des Abfahrtslaufs der Männer, ist 85 Kilometer von Albertville entfernt. Hinzu kommen Pisten, Loipen, Rodelbahnen und Eisplätze in Les Arcs, Courchevel, Val Thorens, Meribel, La Plagne, Pralognam-La Vanone, Les Saisieres und Tignes.
Ein lückenloses Computernetz soll deshalb dafür sorgen, dass alle Beteiligten von Sportlern und Reportern über Zuschauer bis zu V.I.P.s schnellstmöglich die Schauplätze erreichen und auch wieder verlassen können – unbehindert von jeglichem Individualverkehr. Der Cojo-Rechner dirigiert Hunderte von Pressetaxis, disponiert die kostenlosen Pendelbusse fürs Publikum und simuliert mit Hilfe von Computer-aided Design die zu erwartenden Fußgänger- und Fahrzeugströme. Dieselbe Technik dient dazu, bereits im Vorfeld der Veranstaltungen die optimalen Standorte der Fernsehkameras zu eruieren.
Damit nicht genug. Von Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand einmal abgesehen, kommt in Savoyen kein Mensch ohne Akkreditierung auf ein olympisches Areal. Deshalb müssen sich 25000 Hilfskräfte vom Ordner bis zur Kellnerin, 8000 Ehrengäste, 7000 Journalisten und natürlich die 3000 Sportler an einem der insgesamt 1500 Terminals registrieren lassen, die zu 200 lokalen Netzen zusammengefasst sind. Um mit dieser Prozedur nicht den gesamten Betrieb ins Stocken zu bringen, musste das Akkreditierungssystem so narrensicher ausgelegt werden, dass jede Aushilfskraft nach fünf Minuten Training fehlerfrei damit umgehen kann.
Fernsehreporter wiederum profitieren von einem technischen Trick, der ihnen einen ungewöhnlichen Informationsvorsprung verschafft: Wenn das Bild eines Skiläufers auf den Sender geht, ist es bereits 30 Sekunden alt. Während dieser Zeitspanne hat der Zentralcomputer den Kommentator mit aktuellen Daten wie Zwischenzeit und Platzierung versorgt, so dass dieser sich in Ruhe überlegen kann, was er eigentlich sagen will. Sportfans, denen die Berichte in Radio und TV trotzdem noch zu fad sind, können sich derweil im Bildschirmtext-System Minitel absolut zeitgleich über die Ergebnisse informieren.
So durchdacht das DV-Konzept ist, so abhängig ist die olympische Gemeinde vom Funktionieren des Systems. Ob der Olympia-Gast eine Eintrittskarte kaufen oder ein Hotelzimmer buchen will, ob ein Funktionär per elektronischer Post eine Nachricht an einen Reporter absetzt oder jemand einen Arzt braucht, ohne das Cojo-Computernetz geht nichts. Doch selbst für einen Ausfall des Zentralrechners haben de Chassey und sein für die Hardware zuständiger Partner Philippe Verveer vorgesorgt. „Was auch immer passiert“, prahlt de Chassey, „nach spätestens fünf Minuten sind wir wieder da.“
Die schon heute vorzeigbaren Leistungen des Albertviller Teams haben inzwischen auch bei anderen Mitgliedern der olympischen Familie Eindruck gemacht. Das Organisationskomitee der 17. Winterspiele, die bereits 1994 im norwegischen Lillehammer stattfinden, übernimmt die Software der Franzosen.
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