Augsburger allgemeine Dramaqueen (m/w/d)

Ein Begriff, dessen sich die Genderexpert:innen dringend annehmen sollten, ist die Dramaqueen. Allzu oft, eigentlich allermeistens, sind es schließlich Männer, die Dinge dramatisieren und sich in Selbstmitleid ergehen. Daher ist es unfair, dass der populärste Begriff dafür ein generisches Femininum ist, die Dramakönigin. Ein Exemplar dieser Gattung ist Matthias Z., ein Journalist, der mich durch seinen Aufmacher in der Augsburger Allgemeinen (Foto oben) dazu getrieben hat, meine alten Kollegenschelte-Rubriken „Ja, liest denn keiner mehr gegen?“ und „Ja, rechnet denn keiner mehr nach?“ gleichzeitig zu reaktivieren.

 

Ein paar Fakten vorweg: Redakteur Z. ist Arbeitnehmer, ein „abhängig“ Beschäftigter, ein sozialversicherungspflichtiger Angestellter. Ein Mann in den besten Jahren, der laut Tarifvertrag pro Jahr 67.513,50 Euro ohne die im Tageszeitungsgewerbe sporadisch anfallenden Sonntags- und Feiertagszuschläge verdient. Wenn er gut verhandelt hat, verdient er mehr. Er hat Anspruch auf 32 Urlaubstage pro Jahr, und seine tarifliche Arbeitszeit beträgt 36,5 Stunden pro Woche beziehungsweise sieben Stunden und 18 Minuten pro Arbeitstag. Natürlich steht ein Redakteur nicht auf und geht, wenn die Sieben-Stunden-und-neunzehnte-Minute beginnt. Wahrscheinlich muss der Kollege nicht nur Überminuten, sondern sogar Überstunden schieben, die er nicht vollständig in Form freier Tage abfeiern kann. Je nachdem, ob es ein arbeitnehmer- oder arbeitgeberfreundliches Jahr ist, muss jemand wie er zwischen 213 und 221 Tage arbeiten, im Durchschnitt gut 217 Tage. An 144 bis 152 Tagen hat er frei. Das Verhältnis von Arbeitstagen zu freien Tagen beträgt 6:4.

„Genaue Zahlen fehlen“

Diese Informationen sind wichtig, um sich zumindest ein ungefähres Bild davon machen zu können, von welcher Warte aus ein Mann wie er die Welt sieht. Schließlich geht es in seinem zerpflückenswerten Text ja ums Geld und die Leiden des deutschen Arbeitnehmers in Zeiten von Corona. Um die „Zeche“, die so einer dafür zahlt, nicht ins Büro fahren zu dürfen.

Schon im ersten Absatz widerspricht er seiner eigenen Überschrift, denn ob diese für seinen Text konstituierende Prämisse zutrifft, wird da zur Frage, die „ungeklärt bleibt“. Sodann schwurbelt er, es gelte als gesichert, dass der Stromverbrauch privater Haushalte 2020 gestiegen sei. Ja, was denn sonst, junger Padawan? Es wäre ein physikalisches Wunder, womöglich der Schlüssel zur Lösung all unserer Energieprobleme, wenn der Computer und die Schreibtischlampe zu Hause keinen Strom verbrauchten. Von nix kommt nix, und selbstverständlich läppern sich da ein paar lausige Kilowattstunden zusammen. Aber zur Sache: Wie dramatisch kann das denn jetzt sein, dass es einen Aufmacher mit so pathetischer Headline (s.o.) wert ist? Ja, das weiß der Gute leider selbst nicht: „Genaue Zahlen fehlen.“ Und zum wenigstens überschlägigen Selbst-Ausrechnen scheint es am mathematischen Rüstzeug und Technikwissen gefehlt zu haben.

Seine ungenauen Zahlen holte sich der Kollege daher von der gemeinnützigen Beratungsgesellschaft co2online, auf die er in einem Spiegel-Artikel gestoßen war. Die Berater seien anhand irgendwelcher Datensätze zu dem Ergebnis gekommen, jeder Haushalt habe 2020 im Schnitt 162 Kilowattstunden mehr verbraucht und dafür 50 zusätzlich Euro ausgeben müssen. Kollege Z. erwähnt korrekterweise, dass darin auch Stromverbraucher wie der Herd fürs häusliche Kochen statt des Kantinenbesuchs und das Notebook der Kinder beim Homeschooling enthalten sind. Aber dann kommt ein Satz, den man sich wirklich einrahmen oder an die Perlen des Lokaljournalismus“ schicken muss – allein schon als Paradebeispiel für den glücklosen Gebrauch der unausrottbaren Wichtigtuer-Vokabel „allein“ (aber natürlich auch für Betriebsblindheit nicht alltäglichen Ausmaßes):

„Allein für die Nutzung eines Computers geht co2online in einer Beispielrechnung davon aus, dass bei 335 Arbeitstagen aufs Jahr gesehen 21 Euro an Stromkosten anfallen.“

Weiter schreibt der Kollege, diese Berechnung beruhe auf einer Durchschnittsleistung von 50 Watt, vier Stunden pro Tag und 31,8 Cent pro Kilowattstunde. Bei diesem Stromkonsum seien zusätzliche Monitore oder Drucker noch nicht berücksichtigt. Und: „Die Nutzungszeit vieler Arbeitnehmer dürfte noch viel höher sein.“

Surfen ohne Sinn und Sachverstand

Au, Mann! Wo soll man da bloß mit dem Zerpflücken anfangen? Am besten bei den Arbeitstagen: Ist dem Herrn Redakteur bei den Recherchen (< bitte nicht französelnd aussprechen!) nicht aufgefallen, dass der vermeintliche Beispielarbeitnehmer umgerechnet elf Monate am Stück schuftet, allerdings nur halbtags, während er selbst lediglich sieben Monate arbeiten muss? Wohl nicht. So strickte der Kollege einen Artikel rund um Zahlen aus zweiter Hand, von denen er sogar selbst zugibt, dass sie die Nutzungszeit „vieler“ Arbeitnehmer gar nicht widerspiegeln. Tja, das können sie schon deshalb nicht, weil der Mann ohne Sinn und Sachverstand irgendwelche Fantasiezahlen zusammengegoogelt hat.

Aber woher genau stammt denn nun die Beispielrechnung? Im Spiegel-Originalbeitrag ist sie nicht zu finden. Nun, der Schreiber war von spiegel.de offenbar zu dessen Quelle co2online.de weitergesurft. Dort stehen zwar die oben genannten Zahlen, doch sie haben, wie man im Wachzustand auf den ersten Blick erkennt, nicht das Geringste mit Homeoffice zu tun. Vielmehr beziehen sie sich auf Heimcomputer. Es handelt sich um ein Rechenexempel für Privatleute, die an den 335 Tagen, an denen sie nicht im Urlaub sind, durchschnittlich vier Stunden vor der Kiste hocken und daddeln, surfen, ebayen, netflixen, youtuben und youpornen.

Garbage In, Garbage Out: Wer eine unpassende Datenquelle anzapft (hier co2online.de), produziert unbekömmliches Zahlengebräu.

 

Wir haben es demnach mit einem typischen Fall von GIGO zu tun, Garbage In – Garbage Out. Wenn der Input Murks ist (ungeeignete Quelle), ist auch der Output Murks (Artikel). So stimmt nicht nur die Nutzungsdauer nicht. Die 50 Watt in der ursprünglichen Rechnung von co2online beziehen sich, wie aus dem Zusammenhang klar wird, auf einen klassischen PC mit Bildschirm, der erheblich mehr Strom frisst als das typische Dienst-Notebook. Und selbst bei dem angenommenen Gamer-PC sind die Stromkosten mit 0,0636 Euro pro Tag (siehe oben im Screenshot) eine zu vernachlässigende Größe, gemessen am Energiehunger manchen Zubehörs: Technik-Nerds verheizen damit, wie das Exempel nahelegt, bis zu viermal so viel Strom wie mit dem Rechner selbst.

Rechnen wir mal korrekt und realistisch: Ich selbst habe ein MacBook Pro des Modelljahrgangs 2012, also beileibe nicht die neueste und effizienteste Technik. Dieses alte Schätzchen verbraucht, obwohl ich es bis zum Gehtnichtmehr aufgerüstet habe, gerade einmal 35 Watt. Nicht einmal zusammen mit meinem A3-Drucker im Standby-Modus, der LED-Schreibtischlampe, der DECT-Ladeschale und dem Fritz-Repeater überschreite ich eine Grundlast von 50 Watt. Wenn ich meinen 27-Zoll-Grafikerbildschirm dazuschalte, steigt mein Verbrauch auf gut 80 Watt.

Horrende Zeche von 13 Cent am Tag

Aber von was für Beträgen reden wir bei der zu zahlenden „Zeche“? Die besagten 21 Euro im Jahr entsprächen 10 Cent pro Tag, wenn man statt 335 realistische 210 Arbeitstage ansetzt (217 minus branchenübliche Krankheitstage). Legen wir meinen Stromverbrauch zugrunde, der im Mittel bei 70 Watt liegt, und unterstellen, unser Redakteur verbringe seine gesamte Tarifarbeitszeit von 7,3 Stunden täglich komplett hinter dem Bildschirm, summiert sich das auf eine halbe Kilowattstunde pro Tag. Eine kWh kostete 2020 allerdings bei weitem keine 31,8 Cent, sondern – bei mir als Ökostrom von den Stadtwerken München – 26 Cent. Denn rechnen darf man nur die Grenzkosten, also den Arbeitspreis ohne den Grundpreis, der sich durch Heimbüro-Nutzung ja nicht geändert hat.

Folglich liegt die Zeche, die der Redakteur als beispielhafter Heim-Arbeitnehmer anno 2020 bezahlte, bei horrenden – Trommelwirbel für den Dramakönig aus der Augsburger Puppenkiste! – 13 Cent am Tag. Umgerechnet auf ein Arbeitsjahr entspricht das 27,30 Euro. Was hätte noch mal eine Monatskarte gekostet oder der Sprit fürs Auto? Es ist Pi mal Daumen eine halbe Monatskarte oder der Gegenwert von 20 Litern Benzin, mit denen man vielleicht 315 Kilometer hätte fahren können. 1500 Meter pro Arbeitstag. 750 Meter Distanz, die man natürlich gut laufen könnte. Jeder, der es weiter zur Arbeit hat, sparte 2020 bares Geld durch Homeoffice, auch wenn ihm der geizige Arbeitgeber keinen Cent für den Strom zuschießen mochte.

Denkt man als freier Journalist noch einen kleinen Moment darüber nach, muss man an sich halten. Wer von uns Profi-Heimarbeitern im Corona-Jahr 2020 auch nur halb soviel Brutto-Umsatz* gemacht hat, wie der Kollege als Brutto-Gehalt überwiesen bekam**, kann sich glücklich schätzen.

Verrichtungen auf dem Dienstlokus als geldwerter Vorteil

Jetzt warte ich auf die nächste Titelgeschichte der einstmals geschätzten Augsburger Allgemeinen, in der es um die Zeche geht, die deutsche Heimarbeiter an die Wasserwerke und die Toilettenpapierhersteller abdrücken müssen, weil sie nicht mehr auf dem Dienstlokus ihre Geschäfte verrichten können: 210 mal Groß und 630 mal Klein sind an die vier Kubikmeter, plus Abwassergebühr, dazu mindestens zwei Packungen Dreilagiges à 16 Rollen, zwei Flaschen Cremeseife und 1680 Blatt Papierhandtücher.

Ach, halt: Zu Hause tut’s ja ein Frotteehandtuch.

* Davon zahlen wir auch die Kosten, die bei ihm der Arbeitgeber trägt. 

** Falls er nicht von Kurzarbeit betroffen war, ein Thema, das er dann aber wohl nicht vergessen hätte zu erwähnen

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