Imagepolitur für den Weingeist: Ist er ein Schutzengel für lädierte Säufer?
Der alljährliche Härtetest für die Lebern und Nieren der Bayern, der Schwaben und ihrer Stammgäste aus Mailand, Melbourne und Minnesota ist absolviert, Oktoberfest und Cannstatter Wasen sind überstanden. Damit ist auch das zweitgrößte Gesundheitsrisiko vorerst gebannt, das einem Freund des Gerstensaftes auf solchen Events droht – nämlich mit seinem Zug um Zug dumpfer werdenden Schädel einem herrenlosen Maßkrug in die Flugbahn zu geraten. In München sind wir ja schon so weit gekommen, dass sich Angestellte, vom Chef zwecks Kundenbespaßung aufs Oktoberfest abgeordnet, nur noch Alkoholfreies in den Hals schütten, weil sie hoffen, mit nüchternem Kopf dem Hagel gläserner Flugobjekte besser ausweichen zu können.
Wenn dieses Jahr so mancher Wiesn- und Wasengänger wieder ein wenig entspannter vor einem Krug mit echtem Festbier gesessen haben sollte, dann wird er den Wissenschaftsteil oder ein Alcoblog gelesen haben. Just in time haben zum Herbstanfang kalifornische Forscherteams der Droge Alkohol pharmazeutische Nebenwirkungen bescheinigt, die Baldrian für ängstliche FestzeItbesucher sein dürften. Angetrunkene Patienten, berichtete der Mediziner Ali Salim vom Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles in der Septembernummer des Chirurgenfachblatts „Archives of Surgery„, kämen bei schweren Kopfverletzungen glimpflicher davon als nüchterne. Bei der Auswertung der Daten von 38000 Hirnverletzten habe sich herausgestellt, dass die Alkoholisierten nicht nur weniger Beatmung gebraucht und früher die Intensivstation verlassen hätten, es habe auch 20 Prozent weniger Todesfälle gegeben. Diese Zahl konnte Christian de Virgilio vom benachbarten Institut LA-Biomed der University of California Anfang Oktober lässig toppen: Von 100 nüchternen Patienten, die mit irgendeiner schweren Verletzung im Emergency Room landen, sterben sieben, von 100 betrunkenen nur einer.
Jetzt grübeln die Wissenschaftler, warum das so ist. Die wahrscheinlichste Erklärung: Das Nervengift Ethanol hält unsere Neurotransmitter davon ab, das Immunsystem in eine fatale Panik zu jagen. Also prophylaktisch saufen? „Auf keinen Fall!“, rufen die Doktoren, erschrocken über ihre eigenen Forschungsergebnisse. Allenfalls könne man nüchtern aufgefundenen Unfallopfern als erste Hilfe ein Schlückchen Schnaps einflößen, natürlich erst mal nur zu Forschungszwecken und unter ärztlicher Aufsicht. „Wer hat’s erfunden?“, tönt es da aus der Schweiz, dem Land, in dem seit jeher alle Lawinenhunde mit einem Fässchen Obstler am Halsband herumlaufen.
Wie, das macht in Wahrheit keiner, weil Alkohol die Gefäße weitet und das Lawinenopfer jämmerlich erfriert? Na gut, dann führen wir halt den Flachmann fürs Flachland ein. Fällt der Nachbar beim Obstpflücken von der Leiter, retten wir ihn mit Apfelkorn. Moniert der Schupo bei der Verkehrskontrolle unsere Bordration Bordeaux, halten wir ihm entgegen, das sei doch bloß Medizin. Der Weingeist als Schutzengel. Aufpassen müssen wir nur, wenn wir selbst mit gebrochenem Bein neben dem Fahrrad liegen, auf Polizei und Krankenwagen warten und der Unfallverursacher uns mit scheinheilig-schuldbewusstem Blick die Flasche unter die Nase hält.
ULF J. FROITZHEIM, freier Journalist im Bierland Bayern, trinkt Alkohol nur noch zu therapeutischen Zwecken. Ehrlich.
Aus der Technology Review 11/2009, Kolumne FROITZELEIEN
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