Viele Davids gegen Goliath

Food. Versandriese Otto verschickt jetzt auch Lebensmittel. Lokale Anbieter haben jedoch Vorteile.

 

Feierabend irgendwo in der deutschen Provinz, kurz vor Beginn der Tagesschau: Ein hellblauer Kleinlaster fährt vor – der Otto-Bote Hermes. Aber er bringt keine Klamotten, sondern Speis und Trank: Ölsardinen, Cornflakes, Rotkäppchen-Sekt, Apfelsaft, alle bequem bestellt über Internet.

Neu ist die Idee nicht, die Versandhauschef Michael Otto kürzlich als „Supermarkt-Service“ in die Tat umgesetzt hat. Im vergangenen Jahr hatte das Augsburger Startup Direktkauf mit einem ähnlichen Sortiment aus haltbaren, abgepackten Markenprodukten versucht, das Lebensmittel-Homeshopping auf dem flachen Land populär zu machen. Inzwischen sind von dem Unternehmen nur noch Myriaden toter Links in Suchmaschinen übrig: Homepage-Adressen unbedarfter Nebenerwerbs-Online-Händler, die auf das dubiose Strukturvertriebsmodell von Direktkauf-Gründer Thomas Reichart hereingefallen waren.

Im Test erfolgreich

Den Großversender Otto ficht die Pleite des waghalsigen Mittelständlers nicht an. Die Nachfrage nach Lebensmittel-Heimdiensten sei vielversprechend, befand die Konzernzentrale nach einem mehrmonatigen Pilotprojekt in Hamburg. Darum beliefert der Otto Supermarkt-Service – ein Joint-Venture mit dem Gastro-Spezialisten Citti Handelsgesellschaft – seit Ende September Kunden in der gesamten Bundesrepublik. Auf dem Testmarkt hat schon die zweite Phase begonnen: In der Hamburger Innenstadt liefert Otto neuerdings auch Frischware – Molkereiprodukte, Wurst, Fleisch, Obst und Gemüse.

Auch Oliver Cordt, Marketingleiter und Mitgründer der rheinischen Firma Netconsum ist überzeugt, dass sich mit Kunden, die den Gang zum Supermarkt für lästig halten, Geld verdienen lässt. Allerdings setzt er auf Tempo: Er verspricht, sieben Tage die Woche binnen zwei Stunden die Ware zuzustellen. Da geht es bei Otto gemächlicher zu: Wer Hermes auch nur am seIben Tag erwartet, muss einen Express-Zuschlag zahlen. Noch ist Netconsum aber keine Konkurrenz; geliefert wird nämlich nur im Raum Köln/Bonn. Die Chancen für die geplante Expansion, die zunächst in Ruhrgebiet und dann in andere Ballungsräume führen soll, stehen nicht schlecht. Branchenbeobachter wie Nikolaus Weber-Henschel, Retail-Experte bei Roland Berger & Partner, halten den deutschen Markt für reif. Exakte Prognosen seien angesichts der Dynamik des Geschäft schwierig, aber: „In wenigen Jahren wird der Umsatzanteil der Food-Versender fünf Prozent überschreiten.“ Wer darin eine bescheidene Größenordnung sieht, dem hält Weber-Henschel entgegen, dass ein Umsatzrückgang um fünf Prozent für viele Supermarktstandorte, die heute an der Grenze ihrer Flächenrentabilität stehen, das Aus bedeuten kann (siehe Interview).

> Online-Supermärkte scheitern oft an der komplexen Logistik.

> Der Otto-Versand greift mit einem bundesweiten Convenience Store an – und drückt sich um die Frischware.

> Die lokalen Anbieter haben sehr gute Chancen.

Das Sortiment ist klein

Bis es soweit kommt, müssen die Food-Versender allerdings noch viel Überzeugungsarbeit leisten – etwa dem Kunden seine LiebIingsmarke, an die ihn der Markenartikler mit viel Aufwand gewöhnt hat, wieder ausreden. Denn mit einem realen Supermarkt können es die virtuellen Shops noch lange nicht aufnehmen. Otto bietet gerade einmal 2500 Artikel, Netconsum wirbt immerhin mit 4000 Produkten. Von den fünfstelligen Sortimenten der stationären Konkurrenz lassen die Onliner rigoros alles weg, was sich nicht schnell genug dreht – und damit all jene Produkte, die dem Konsumenten im richtigen Leben erst das Gefühl geben, ein Geschäft sei „gut sortiert“. Im Klartext: Die Sortimente sind leidlich breit, doch ziemlich flach. Nischen- und sogar Premiummarken fallen durch den Rost. Die gedruckten Kataloge, die zumindest heute noch zum Online-Versand dazugehören, würden sonst zu dick, die Websites zu unübersichtlich. „Eine Auswahl wie bei Metro ist nicht unser Ziel“, wehrt Cordt ab, „die Zeitersparnis ist für den Kunden so überzeugend, dass er auch die Joghurt-Marke wechselt.“

Otto-Supermarkt-Chef Helmuth Lüchau positioniert seine Firma, dem Namen zum Trotz, eher als virtuellen Convenience Store amerikanischer Prägung denn als klassischen Vollsortimenter. Das Konzept „kleine Auswahl, großer Service“ hat auch in der Branche nicht nur Befürworter. Holger Beiter, geschäftsführender Gesellschafter des Edeka-Partners „Flauers Lieferservice“ in Erftstadt bei Köln, liefert an seine Bestellkunden alles, was sein Supermarkt hergibt. Auch die Tiefkühlkost hat er ins Internet gestellt. Die Kühlkette wahrt er mittels Trockeneis.

Umstrittenes Konzept

Zu den Vollsortimentern, die zumindest Frischprodukte online anbieten, gehören auch „Onkel Emma“ aus Stuttgart sowie die Berliner Anbieter Otto Reichelt AG und Spar-Markt Carl. Sie alle sind keine Web-Pureplays, sondern nehmen seit Jahren Bestellungen telefonisch oder per Fax entgegen. Selbst für den Internet-Pionier Onkel Emma ist das Telefon lebenswichtig: „Der Anteil der Bestellungen aus dem Netz ist von fünf auf 15 bis 20 Prozent gestiegen“, sagt Christian Töllner, der vor fünf Jahren die Marktnische Lebensmittel-Zustellhandel entdeckt hat. Reich geworden ist er mit Onkel Emma noch nicht, aber „mein Bruder und ich können davon leben“. Der Köln-Bonner Lieferdienst Netconsum will schon ab dem nächsten Frühjahr rentabel arbeiten. Laut Oliver Cordt gehen am Tag durchschnittlich 100 Aufträge ein. Lokalrivale Holger Beiter, der seit Februar mit einem durchaus überzeugenden Auftritt online ist, mag das nicht glauben: „Die Zahlen können nicht stimmen. Wir tun uns schwer, an einem Montag fünf Bestellungen zu kriegen.“

Die Läden brauchen Kunden, die pro Bestellung einen dreisteIligen Betrag ausgeben, damit sich der Logistikaufwand lohnt. Erfolgsmeldungen sind für Netconsum sehr wichtig. Nicht nur, weil die Expansion der Aktiengesellschaft, die unter dem Dach einer Consultingflrma entstanden ist, externes Kapital erfordert. In direkter Nachbarschaft hat sich noch ein weiterer Start-up niedergelassen: die Deutschland-Filiale des Schweizer Online-Food-Vorreiters Leshop. Der Herausforderer setzt auf Frischware, auch Biokost – und überlässt die Auslieferung der Deutschen Post. Anders als Otto bieten die Statthalter der Eidgenossen werktäglich mehrere zweistündige Zeitfenster zwischen 14 und 22 Uhr.

Gut möglich, dass die gelben Postautos gleichzeitig Kühlboxen eines anderes Absenders transportieren: Franz-Josef Grenzebach, mit „Nur Natur“ einst der erste erfolgreiche Biokost-Versender im Web, hat inzwischen die United Nature AG gegründet, die ebenfalls mit Hilfe des gelben Logistik-Riesen biologisch-dynamische Frischware versendet. Die potenzielle Kundschaft ist freilich noch skeptisch, ob mit der Deutschen Post die Kühlkette tatsächlich aufrechterhalten werden kann. Im Heise-Online-Forum granteln Ökokost-Freunde über die unökologisch weiten Transportwege, die beispielsweise der Andechser Joghurt im Pfandglas zurücklegt.

Ein überregionaler Online-Händler, der sich beim Thema Pfandgebinde auf die Umwelt-Debatte einlässt, hat einen schweren Stand. Otto-Mann Lüchau, der derzeit noch ganz Süddeutschland über ein einziges Citti-Lager in Zusmarshausen bei Augsburg bedienen muss, lässt die Kunden ihre leeren Saftflaschen lieber zum Container schleppen; von hartnäckigen Mehrweg-Freaks kassiert er pro Pfandkiste eine Zusatzgebühr von zwei Mark für die Wiederabholung. Die Lokalmatadore hingegen haben ein treffliches Instrument zur Kundenbindung: Wir bringen’s hin und wir holen’s ab, und zwar ohne Strafzuschlag.

Auch die großen Food-Onliner wissen, dass zentralistische Lösungen allenfalls für die Startphase diskutabel sind. Auf Dauer führt an einem dichten Netz kundennaher Auslieferungslager kein Weg vorbei. Die britische Supermarktkette Tesco ist so zum beherrschenden Lebensmittel-Bringdienst der Insel geworden: Die Kommissionierung der Ware erfolgt in den Filialen. Eine Zusammenarbeit der Zentralen mit den regionalen Disponenten täte auch den Web-Auftritten mancher Handelsketten gut. Bei der Gruppe Kaisers/Tengelmann, die in einigen Städten Bringdienste unterhält, gilt zum Beispiel bundesweit der Mülheimer Ruhrpott-Jargon. Ein Münchner Kunde, der Blaukraut sucht, hat zu wissen, dass er „Rotkohl“ eintippen muss. Beim rheinischen Newcomer Netconsum heißt der Sauerrahm „Schmand“. Und die Reichelt AG aus der deutschen Hauptstadt käme niemals auf die Idee, „Berliner“ anzubieten.

Nachgefragt bei…

Nikolaus Weber-Henschel, Associate Partner bei Roland Berger & Partner, München

 

Die wenigsten Lebensmittel-Dienste im Internet bieten das volle Supermarkt-Sortiment. Wird ein Kompakt-Sortiment im Stil amerikanischer Convenience Stores nicht schnell langweilig?

Nikolaus Weber-Henschel: Mancher ist froh, wenn er sich nicht durch ein Riesen-Sortiment quälen muss. Wichtig ist, dass man für seine Zielgruppe das richtige Angebot hat und dass der Kunde die Produkte schnell findet.

Gibt es typische Zielgruppen für Online-Lebensmittelläden?

Weber-Henschel: Angesprochen sind Personen mit knappem Zeitbudget, die sich den Einkaufsstress nicht antun wollen. Man sollte in der jetzigen Phase nach Zielgruppen mit unterdurchschnittlicher Preissensibilität suchen.

Hat der überregionale Ansatz im Lieferservice überhaupt eine Zukunft?

Weber-Henschel: Wer nur auf den operativen Profit schaut, verschenkt den First-Mover-Vorteil. Wenn das Konzept stimmt, ist es oft besser, in die Marktführerschaft zu investieren und die Gewinnzone drei Jahre später anzupeilen.

Was sind die Erfolgsfaktoren für einen Online-Lebensmittelshop?

Weber-Henschel: Aus meiner Sicht: Markenbekanntheit, Kompetenz im Bereich Sortiment, funktionierende Logistik-Strukturen, Einkaufsmacht und fortlaufende Innovationskraft.

Die etablierten Filialisten erfüllen viele der Kriterien. Trotzdem tut sich bei ihnen nicht viel in Sachen Lieferdienst.

Weber-Henschel: Aktivitäten kleiner lokaler Anbieter sind schneller umsetzbar und erregen früher Aufmerksamkeit. Bei den Großen befindet sich derzeit sicher wesentlich mehr in der Entwicklung, als wir schon kennen.

Bei Tesco in Großbritannien bearbeiten die örtlichen Supermärkte die Online-Bestellungen. Ist das ein Vorbild für deutsche Ketten?

Weber-Henschel: Das ist als Einstieg vernünftig, als Dauerlösung aber nicht. Filialen stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn die Nachfrage steigt. Und man darf nicht vergessen: Wenn im Online-Geschäft ein Artikel nicht verfügbar ist, so ist das viel schlimmer als im realen Supermarkt, weil sich der Kunde keinen Ersatzartikel nehmen kann.

Tut sich nicht zu wenig im Bereich Kundenbindung? Online-Anbieter liefern zum Beispiel bevorzugt Einweggebinde, während klassische Getränke-Heimdienste die Leergut-Entsorgung an die nächste Lieferung koppeln.

Weber-Henschel: Kundenbindungsinstrumente werden schon bald an Bedeutung gewinnen, weil die Kundenakquisition im Internet teuer ist. Außerdem ist der Kunde viel wertvoller als im stationären Laden, weil man über ihn Informationen hat.

Werden künftig die großen Filialisten oder die Newcomer den Markt beherrschen?

Weber-Henschel: Vor einem Jahr hatten die Startups klar die Nase vorn. Doch die Großen holen auf. Klar ist: Die Schnelleren und Innovativeren werden gewinnen.

Aus <e>MARKET 41/2000.

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