Zu alt: Datenjournalist will mir das Wahlrecht nehmen

Der Berliner Kollege Lorenz Matzat hat den Datenjournalismus nicht erfunden, aber es geschickt geschafft, sich auf diesem Gebiet zur Marke zu machen. Jetzt dreht er allerdings frei und propagiert eine ganz eigene Form des Gerrymanderings: Menschen ab 60 sollen bei jeder zweiten Wahl aussetzen – oder das Wahlrecht soll nur 14- bis 70-Jährigen zustehen.

Republikanische Politiker in vielen Bundesstaaten der USA lassen nichts unversucht, um Wählergruppen, die erfahrungsgemäß die Demokraten wählen, von den Urnen fernzuhalten. Anhand demografischer Analysen schneiden sie Stimmbezirke so zu, dass die Wege zu den Wahllokalen absurd weit sind, oder ziehen künstliche Grenzen quer durch gewachsene Stadtviertel, um den Kandidaten der „Grand Old Party“ in möglichst vielen Bezirken komfortable Mehrheiten zu sichern. Diese Tricksereien nennt man „Gerrymandering“.

Wer solche Machenschaften für ein amerikanisches Problem hält, das uns nicht tangiert, sollte vorsichtig sein. Auch bei uns gibt es Menschen, die bestimmte soziodemografische Gruppen, bei denen sie ein unerwünschtes Wahlverhalten befürchten, an der Wahl hindern wollen. Sie gehen sogar noch weiter als die Gerrymanderer, die das Wählen „nur“ erschweren oder vor dem Hintergrund des US-Mehrheitswahlrechts faktisch sinnlos machen: Suspekten oder verachteten Wählergruppen wollen sie das Wahlrecht gleich ganz entziehen. Einer der beiden Menschen, die in jüngerer Zeit offensiv mit derlei Gedanken an die Öffentlichkeit gegangen sind, kommt von ganz rechts: Es ist der Goldverkäufer Markus Krall, der am liebsten allen Empfängern von Subventionen und staatlich garantierten Transferleistungen – im Klartext: Hartz-IV-Beziehern und Aufstockern, alleinerziehenden Müttern, eigentlich allen Eltern (Kindergeld!), Landwirten und natürlich Schwerbehinderten – das Wählen verbieten würde. Der andere verortet sich scheinbar auf der gegenüber liegenden Seite des politischen Spektrums: Lorenz Matzat (@lorz), Datenjournalist aus Berlin. Er meint es fraglos gut, denn er glaubt, mit seinen antidemokratischen Anwandlungen etwas für den Klimaschutz zu können oder müssen.

Konkret schlägt Kollege @lorz vor, das Wahlrecht bereits 14-Jährigen zu gewähren und es im Gegenzug den Über-70-Jährigen wegzunehmen (s. Screenshot oben). „Zu alt: Datenjournalist will mir das Wahlrecht nehmen“ weiterlesen

Nicht-Flugtaxi: Lilium-Märchen wird immer abstruser

Wenn man denkt, der Gipfel der Absurdität müsste langsam überschritten sein, geht der Steigflug plötzlich weiter. So ist es beim Nicht-Flugtaxi „Lilium Jet“ – und der Berichterstattung über einen Unternehmer, bei dem das Jahr 403 Tage hat.

Kürzlich hatte ich hier schon am Beispiel eines Beitrags aus der „Welt“ die vollkommen weltfremden Behauptungen des Weßlinger Flugzeug-Nichtherstellers Lilium auseinandergenommen, die es trotz ihres eklatanten Mangels an Plausibilität in die Presse geschafft hatten. Heute legte die Zeitung aus dem Springer-Verlag noch einmal nach und bewies damit, dass PR- und IR-Manager mit der nötigen Chuzpe manchen Kollegen – und Investoren – wirklich die abstrusesten Zahlen vorlegen können, ohne dass diese endlich mal sagen: „Ja, spinnt Ihr denn jetzt endgültig?“

Schon die Überschrift des Beitrags anlässlich des jetzt vorgestellten Börsenprospekts ist eine reinrassige Ente. Lilium wolle für 1,16 Euro je Kilometer fliegen, heißt es unter der – ebenso entenhaften – Dachzeile „Flugtaxi-Start-Up“. Es wird sich allein schon deshalb niemand für 1,16 Euro pro Kilometer ein Flugtaxi kommen lassen können, weil niemand Flugtaxis bauen will, sondern den „ICE der Lüfte“.

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Besuch im Altenheim ohne Schnelltest

Das Bayerische Ministerium für Gesundheit und Pflege ist auch unter dem neuen Minister Klaus Holetschek noch kein Ausbund an Bürgernähe. Vielleicht wäre das auch zuviel verlangt gewesen. Dass Besuche in Bayerns Altenheimen jetzt wieder ohne Schnelltest möglich sind, hätte man jedenfalls klarer kommunizieren können.

Die Pressestelle des Landratsamts war mal wieder schneller als der Dienstweg: Dass Angehörige von Heimbewohnern mit Beginn dieser Woche keinen frischen Negativbefund mehr vorweisen müssen, war auf der Corona-Landingpage des Amts schon am Wochenende zu lesen. Das Problem war nur: Die Rechtsgrundlage war im Bayerischen Ministerialblatt keineswegs so eindeutig dargestellt, im Gegenteil: Die 13. BayIfSMV (Dreizehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung) legt in § 11 nach wie vor fest, dass ein negativer Test vorzulegen sei, verweist allerdings darauf, dieser Test unterliege den Maßgaben von § 4, der die Testpflichten regelt. Das ist ein Widerspruch in sich, denn laut § 4 sind die Testpflichten grundsätzlich inzidenzabhängig, wobei der jeweilige Landrat im eigenen Ermessen striktere Anweisungen erlassen darf. Dass ein Test bei niedriger Inzidenz in Wahrheit unnötig ist, kann man sich zwar denken oder zusammenreimen, aber es steht so nicht drin in der Verordnung. Denn dem Wortlaut nach hat ein Test definitiv stattzufinden, nur eben gemäß einer Regel, die an anderer Stelle steht. Das Ob wäre folglich nicht die Frage, nur das Wie.

Dass ein Test, der gar nicht gemacht wird, weil er nicht gemacht werden muss, als Test im Sinne des Gesetzes anzusehen ist, darauf muss man als Nichtjurist und Nichtbürokrat erst mal kommen. (Vielleicht liegt hier ein Schrödinger’scher Dualismus vor, Sie wissen schon, das mit der Katze, „Besuch im Altenheim ohne Schnelltest“ weiterlesen

Augsburger allgemeine Dramaqueen (m/w/d)

Ein Begriff, dessen sich die Genderexpert:innen dringend annehmen sollten, ist die Dramaqueen. Allzu oft, eigentlich allermeistens, sind es schließlich Männer, die Dinge dramatisieren und sich in Selbstmitleid ergehen. Daher ist es unfair, dass der populärste Begriff dafür ein generisches Femininum ist, die Dramakönigin. Ein Exemplar dieser Gattung ist Matthias Z., ein Journalist, der mich durch seinen Aufmacher in der Augsburger Allgemeinen (Foto oben) dazu getrieben hat, meine alten Kollegenschelte-Rubriken „Ja, liest denn keiner mehr gegen?“ und „Ja, rechnet denn keiner mehr nach?“ gleichzeitig zu reaktivieren.

 

Ein paar Fakten vorweg: Redakteur Z. ist Arbeitnehmer, ein „abhängig“ Beschäftigter, ein sozialversicherungspflichtiger Angestellter. Ein Mann in den besten Jahren, der laut Tarifvertrag pro Jahr 67.513,50 Euro ohne die im Tageszeitungsgewerbe sporadisch anfallenden Sonntags- und Feiertagszuschläge verdient. Wenn er gut verhandelt hat, verdient er mehr. Er hat Anspruch auf 32 Urlaubstage pro Jahr, und seine tarifliche Arbeitszeit beträgt 36,5 Stunden pro Woche beziehungsweise sieben Stunden und 18 Minuten pro Arbeitstag. Natürlich steht ein Redakteur nicht auf und geht, wenn die Sieben-Stunden-und-neunzehnte-Minute beginnt. Wahrscheinlich muss der Kollege nicht nur Überminuten, sondern sogar Überstunden schieben, die er nicht vollständig in Form freier Tage abfeiern kann. Je nachdem, ob es ein arbeitnehmer- oder arbeitgeberfreundliches Jahr ist, muss jemand wie er zwischen 213 und 221 Tage arbeiten, im Durchschnitt gut 217 Tage. An 144 bis 152 Tagen hat er frei. Das Verhältnis von Arbeitstagen zu freien Tagen beträgt 6:4.

„Genaue Zahlen fehlen“

Diese Informationen sind wichtig, um sich zumindest ein ungefähres Bild davon machen zu können, von welcher Warte aus ein Mann wie er die Welt sieht. Schließlich geht es in seinem zerpflückenswerten Text ja ums Geld und die Leiden des deutschen Arbeitnehmers in Zeiten von Corona. Um die „Zeche“, die so einer dafür zahlt, nicht ins Büro fahren zu dürfen. „Augsburger allgemeine Dramaqueen (m/w/d)“ weiterlesen

Mini-Serie 1 Jahr Covid (3): Das Kreuz mit den Wasserstandsmeldungen

Vor gut einem Jahr kam ein Kauferinger als erster deutscher Patient mit Covid-19-Diagnose ins Krankenhaus. Die Impfungen laufen, der Lockdown wird wegen der Mutationen sicherlich verlängert. Wie geht es weiter? Die Fortsetzung meiner Mini-Serie. Diesmal im Blick: die fatalen Schwächen der Zählung von Infektionen und Todesfällen – und warum die Wasserstandsmeldungen in den Nachrichten oft in die Irre führen.

Täglich irrt das Murmeltier

Ich könnte schier verzweifeln an der Unfähigkeit meiner Kollegen in manchen Radioredaktionen, korrekt mit den Wasserstandsmeldungen aus dem Robert-Koch-Institut umzugehen und Nachrichten zu verlesen, nach denen man sich richten kann. Die scheinen zu denken, nur weil es das Internet gibt, seien präzise aussehende Daten (also z.B. „24.358“ statt „irgendwas zwischen 23.000 und 26.000“) grundsätzlich auch exakte Echtzeitdaten.

Das ist aber nicht der Fall. Die Gesundheitsämter sind weder gescheit durchdigitalisiert noch always online. „Nur 151 der insgesamt 376 Ämter sind bisher an das digitale System SORMAS („Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System“) angeschlossen“, schreibt die Wirtschaftswoche. Dem Vernehmen nach sind Faxe und Papierformulare noch längst nicht ausgerottet, es gibt also zeitraubende Medienbrüche. Deshalb ist es immer, wenn man hört, es habe in Deutschland „binnen 24 Stunden“ soundsoviele Neuinfektionen und soundsoviele „Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19“ gegeben, schlicht und ergreifend Unsinn. Viren arbeiten im Gegensatz zu Gesundheitsämtern sieben Tage pro Woche. „Mini-Serie 1 Jahr Covid (3): Das Kreuz mit den Wasserstandsmeldungen“ weiterlesen