Mehr bunte Vögel als schwarze Schafe

Mit „Multi-LeveL-Marketing“ gehen immer mehr Direktvertreiber neue Wege. Von Gegnern wird MLM als legale Variante der kriminellen Schneeballsysteme abgeLehnt, Anhänger verweisen auf den guten Ruf der Branche in anderen Ländern.

clodia„Clódia, ici! Clódia! Iciiiiiii!“ Nur die Zurufe aus der Meute der Boulevardfotografen übertönen noch das Klicken der Kameras. Nicht einmal beim Diner kann sich Claudia Schiffer in Ruhe mit ihren Tischnachbarn unterhalten. Die Nikon-Schwadron hat Glück: Weil das Top-Model dem vollgehäuften, leicht abgestandenen Vorspeisenteller nichts abgewinnen kann und an diesem Abend ohnehin als wandelnder Schmuckständer gebucht ist, stellt sie sich geduldig ins Blitzlichtgewitter.

Unter Claudias Klunkern ist lediglich der angebliche Verlobungsring von David Copperfield ein exklusives Einzelstück. Der Rest ist echte Massenware. Allein auf dieser Party im Schloß Ferrières bei Paris ist mindestens jede zweite Dame (und so mancher Herr) mit Produkten aus ein und derselben Kollektion behängt. Das Unternehmen, das Claudia gechartert hat, ist nämlich ein absoluter Senkrechtstarter in Europas Modeschmuckszene: Cabouchon Ltd. Erst 1990 gegründet, meldete die Firma bereits 1993 einen Jahresumsatz von 73 Millionen Mark. Und mit Claudia als Dekor feierte die englische Gesellschaft mit französischem Namen vor 1500 illustren Gästen die Eröffnung ihrer Pariser Dependance.

Firmengründerin Petra Döring, 34, verdankt ihren blitzartigen Aufstieg einem Absatzkonzept, das weithin als „Amway-Masche“ bekannt ist: Direktvertrieb über ein ständig wucherndes Netzwerk von selbständigen haupt- und nebenberuflichen Vertretern.

Die vor Jahrzehnten in den USA entwickelte Vertriebsform – mal Multi-Level-Marketing (MLM), mal Network-Marketing oder Strukturvertrieb genannt – ist auch in Deutschland wieder auf dem Vormarsch. Die Zeiten scheinen vergessen, in denen kriminelle Schneeballsysteme und Verkaufspyramiden die gesamte MLM-Szene in Mißkredit brachten. Während der klassische Direktvertrieb (typische Beispiele: Avon, Bertelsmann, Vorwerk oder Tupperware) kaum noch Nachahmer findet, schießen neue MLM-Unternehmen wie Pilze aus dem Boden.

Weil die Kundenberater selbst weitere „Vertriebspartner“ anwerben können, expandieren die Mitarbeiterstäbe im ICE-Tempo. Robert Howitt, Marketingdirektor der auf den Handel mit einschlägiger Fachliteratur spezialisierten MLM International GmbH in Konstanz, schätzt, daß allein in Deutschland 350.000 bis 400.000 Menschen für rund 20 umsatzstarke und gut 40 kleinere Anbieter tätig sind. Genauere Zahlen kennt allerdings niemand, denn einen offiziellen Verband gibt es nicht.

Anders als in Großbritannien, wo sich neben der Beratergilde Network Marketing Association (NMA) auch der Branchenverband Direct Selling Association (DSA) für die MLM-Szene zuständig fühlt, haben die Multi-Level-Verkäufer in Deutschland keine Lobby. Der zuständige Arbeitskreis „Gut beraten – zu Hause gekauft“, ein dünkelhafter Zirkel von gerade 25 Direktvertreibern, müht sich nach Kräften, die Konkurrenten auf Distanz zu halten.

Wie wenig die Parteien einander zu sagen haben, zeigen die Erfahrungen des Mainzer Unternehmensberaters Karlheinz Ossig, dessen Consulting Management Institute (CMI) für diverse MLM-Anbieter tätig ist: „Wir stehen beim Arbeitskreis vor verschlossenen Türen.“ Durch seine Abschottung nehme sich der „Gut beraten“-Verein die Chance, als Selbstkontrollorgan der gesamten Direktvertriebsbranche aufzutreten. Der Kunde unterscheide nämlich nicht „zwischen dem ,guten alten Direktvertrieb‘ und dem ,bösen‘ Multi-Level Markering“. De facto, so Branchenkenner, führt die Verweigerungshaltung des Arbeitskreises dazu, daß der von den Dachverbänden Federation of the European Direct Selling Associations (FEDSA) und World Federation of the Direct Selling Associations (WFDSA) vereinbarre Verhaltenskodex für Direktvertriebsunternehmen für deutsche Multi-Level-Anbieter nicht verbindlich ist. Diese Grundsätze jedoch, so der Münchener Fachanwalt Jost Seytter, würden „den Freibeutern das Leben schwer oder gar unmöglich machen“. Daß aber ein Schutzmechanismus nötig ist, steht für den Juristen, der einst als Justitiar von Avon zu den Gründern des Arbeitskreises zählte, außer Frage: „Alle erfolgreichen Marketing-Methoden“, so Seytter, „ziehen Geschäftemacher an, die an einem dauerhaften Erfolg gar nicht interessiert sind, sondern nur auf die schnelle Mark aus sind.“

Trotz anhaltender Skepsis werden immer mehr junge Unternehmensgründer von MLM angezogen. So erkannte auch Petra Döring, als sie durch Zufall auf eine MLM-Parfümfirma stieß, welche Chance deren Absatzform ihr bot. Nach schlechten Erfahrungen mit einem Kompagnon wollte die Jungunternehmerin mit britischem MBA-Diplom damals ihr eigenes Unternehmen aufbauen. Nachdem sie vergeblich nach wissenschaftlicher Fachliteratur gefahndet hatte, klapperte sie mit deutscher Gründlichkeit alle möglichen MLM-Unternehmen ab, studierte deren Beraterunterlagen. besuchte Seminare, analysierte den Markt und fand im Modeschmuck schließlich das Produkt mit den idealen Eigenschaften: preiswert, haltbar, für Impulskäufe geeignet, problemlos zu verschicken. Inzwischen bringt der Erfolg ihrer Cabouchon Ltd. selbst schon wieder Leute auf die Idee, sich mittels Network Marketing selbständig zu machen. Die Deutsche gilt in Europa heute als Musterbeispiel für die neue MLM-Generation.

Vom Boom der Branche profitieren selbst die amerikanischen Veteranen. Der Waschmittel- und Kosmetikkonzern Amway, dessen deutsche GmbH in den achtzigerJahren von Sektenangehörigen und dubiosen Geschäftemachern an den Rand des Ruins gewirtschaftet worden war, schaffte nach dem Fall der Mauer sein Comeback in Germany. Das neue Management beackerte den ostdeutschen Markt so erfolgreich, daß das Unternehmen in den neuen Bundesländern heute bekannter ist als in den alten. Der Umsatz explodierte 1991 von 86 auf 180 Millionen Mark, für das laufende Geschäftsjahr werden 230 Millionen erwartet. Neben der eigenen Produktpalette verkaufen die Amerikaner inzwischen auch Markenartikel – etwa Elektrogeräte von Bosch und Philips.

Darüber, welche Produkte sich für die Vermarktung über MLM eignen, gehen die Meinungen auseinander. Richard Berry, Director des britischen Direktvertriebsverbands DSA, empfiehlt, sich auf den Massenmarkt zu stürzen: „Es sollten nur Produkte sein, die jeder verwenden kann.“ Solche, die auf kleine Zielgruppen wie etwa Vorschulkinder oder Pferdebesitzer beschränkt seien, hätten keine Chance.

Für Tom Schreiter, Gründer einer mitgliederstarken US-Vertriebsorganisation namens Nutrition for Life und Autor auflagenstarker Anleitungsfibeln für angehende MLM-Profis, gelten andere Kriterien: „Am besten funktioniert es bei Produkten, die sonst ein hohes Budget für Werbung und Promotion verschlingen – typischerweise bei Neuheiten, die erst bekannt gemacht werden müssen.“ Zum Leidwesen der Werber überlassen die MLM-Firmen es nämlich ihrer selbständigen Verkäufertruppe, die Kundschaft mit den Produkten vertraut zu machen. Fernsehspots und Anzeigenseiten, so Branchen-Guru Schreiter, seien zu teuer.

Immer wieder gelingt es auch Unternehmen, die es nach den gängigen Rastern eigentlich falsch machen, mit den Marketing-Netzwerken Geld zu verdienen. Die Innova 2000 GmbH etwa aus Sauerlach im Landkreis München floriert mit einem Produkt, das wirklich nicht jeder braucht, das bereits an jeder Ecke zum Sonderpreis zu haben ist und zudem stark beworben wird: Mobilfunk-Handys.

Zu ihrer Firma kamen die beiden Innova-Gründer, der Elektrotechniker Vjeran Bronic, 34, und der Physiktechniker Tarek Kirschen, 33, durch Zufall: Der eine verhökerte gebrauchte Edelkarossen, mit denen seine Yuppie-Kunden dann vor dem Szene-Café des anderen vorfuhren. Während beide Berufsumsteiger sich mühten, auf einen grünen Zweig zu kommen, ärgerten sie sich, daß schon „23jährige Rotzbubis Ferrari fuhren“ und sie nicht.
Die MLM-Karriere des Duos begann, als ein Vertreter des amerikanischen Diätkonzerns Herbalife in Kirschens Kneipe mit seiner neuen Einnahmequelle prahlte. Schwergewicht Bronic mußte als Versuchskaninchen herhalten, nahm mit den „Formulas“ nach eigener Aussage binnen sechs Monaten 40 Kilogramm ab. Eine Zeitlang bot das Duo mit mäßigem Erfolg die schlankmachenden Pülverchen selbst an, dann stiegen sie auf High-Tech-Kloschüsseln um. Nachdem auch dieses MLM-Geschäft in die Hose gegangen war, entdeckten sie Ende 1992 endlich das passende Produkt: das Handy.
Den Inhaber des D-Netz-Serviceproviders Mobilcom, Gerhard Schmid, schockten sie: „Wir machen 500 Karten im Monat.“ Im ersten Monat waren es zwar nur acht Kunden,die ein Funktelefon samt Freischaltung orderten, im zweiten 42, doch im Dezember 1993 erreichte Innova laut Bronic die magische Marke von 1000 D-Netz-Karten und durfte sich zu den aktivsten Mobilfunk-Händlern im Lande zählen. Am Jahresende hanen sie 2,5 Millionen Mark umgesetzt.

Inzwischen hat sich Innova von Mobi1com gelöst und einen neuen Partner gefunden: Talkline. Ambitionierter Slogan: „Wir werden weltweit die Nummer I im Handy-Direktvertrieb.“ Daß es Innova an kreativer Wortgewalt nicht mangelt, bewiesen Kirschen und Bronic auch in der Auseinandersetzung mit Ex-Partner Mobilcom. Den unteren Chargen ihrer Organisation versprachen sie eine „gigamische Pressekampagne in 465 Tages- und Wochenzeitungen sowie der Fachpresse“.
Um ein gutes Verhältnis zu Redaktionen bemühen sich viele MLM-Unternehmen: Sie wollen mit ihrer PR zum einen vermitteln, daß sie seriös sind und nichts zu verbergen haben, zum anderen gehört die Präsenz auf den redaktionellen Seiten zur festen Marketingstralegie. „Wir machen kein Advertising“, sagt Petra Döring. „Wir unterstützen unsere Berater durch PR.“ Und weil Prominenz in diesem Genre die beste Reklame ist, nutzt die hessische Bäckerstochter dabei liebend gern die exzellenten gesellschaftlichen Kontakte ihrer Freundin und engen Mitarbeiterin Chiquita Dumont (Mutter des Schauspielers Sky Dumont).

Beliebte Maßnahmen zur Imagepflege sind auch gemeinnützige Aktivitäten. Amway fördert deshalb seit letztem Jahr im Rahmen ihrer Initiative „SpielArt“ beispielhafte Kinder- und Jugendarbeit in den neuen Bundesländern. Den Auftrag für diese Kombination von Kultur- und Soziosponsoring konnte die Werbeagentur Kienow & Partner, Frankfurt/Main, an Land ziehen.

Anzeigenverkäufer hingegen gehen bei den Multi-Level-Marketiers meist leer aus. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel. Ganz entgegen dem Branchen-Usus schaltete Amway unlängst Printwerbung für den Relaunch ihrer Kosmetiklinie Artistry. Auch für das Nahrungsergänzungsprogramm Nutrilite und neue Waschmittel-Höchstkonzentrate sind ab September Werbekampagnen geplant.

Fast immer ist below the line etwas zu holen: Werbegeschenke sind beliebt, vor allem Buttons mit Kalauern wie „Handy hoch!“ oder dem banalen Bekenntnis „Ich liebe Herbalife“. Zum Rüstzeug der Branche gehören ferner Hochglanzbroschüren, die den oft hohen Preis der Produkte rechtfertigen sollen.

Diesen Text – Titelgeschichte der Ausgabe 31/1994 der w&v werben & verkaufen – habe ich gemeinsam mit meiner Frau Angela recherchiert und geschrieben, die bis zur Geburt unserer Tochter Mitarbeiterin meines Redaktionsbüros war.

 

        Struktur der Veteranen

Nicht nur Talmi oder Schlankheitsmittel werden über MLM vertrieben. Auch Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer ist Multi-Level-Mann.
Neben Versicherungen setzen vor allem unabhängige Allfinanz-Gesellschaften auf den kostengünstigen Strukturvertrieb. Seit über 20 Jahren schicken Unternehmen wie die Bonnfinanz AG oder die OVB Allfinanzvermittlungs GmbH & Co. KG ihre Berater unters Volk, um in der guten Stube den Kunden Sparverträge, Wertpapiere, Immobilien oder Policen anzudrehen.
Die Großbanken, früher eher heimlich mit den Multi-Vertriebspartnern liiert, sichern sich den billigen Vertriebsweg zunehmend durch Beteiligungen. So gehört die Bonnfinanz als Tochter des Deutschen Herold mittelbar der Deutschen Bank. Der größte Anbieter, die Deutsche Vermögensberatungs AG, gehört zu 50 Prozent der Aachener und Münchener Beteiligungs-AG. Und an der Kötner OVB sind mit dem Deutschen Ring und der Volksfürsorge gleich zwei Versicherungen beteiligt.
Um das durch unseriöse Akquise einiger Anbieter entstandene Drücker-Image abzuschütteln, haben sich die großen Finanz-Strukturvertriebe im September 1992 im Deutschen Unternehmensverband Finanzdienstleistungen e.V., Bad Godesberg, zusammengeschlossen.
Ein Gründungsmitglied, der Allgemeine Wirtschaftsdienst (AWD) des Hannoveraners Karsten Maschmeyer, vertritt allerdings inzwischen selbst nicht mehr die reine Lehre des MLM. Dem AWD, der nach eigenen Angaben inzwischen 160 Verkaufsbüros mit rund 5000 Mitarbeitern beschäftigt, wurde es im Strukturvenrieb wohl zu bunt, denn jüngst stellte er das Geschäft auf Franchising um. Grund: Seine Verkäufer, die Franchise-Nehmer, müssen nun etwaige Forderungen unzufriedener Kunden selbst begleichen – der AWD behält eine weiße Weste.
Ulf J. Froitzheim/fl

 

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