Entwarnung für Fachhändler: Der Einkaufsbummel in Internet, AOL & Co. läßt die Kundschaft bislang kalt. Grund: Push-Marketing zieht bei den Onlinern nicht.
Eberhard Schöneburg träumt von der Börse. Offenbar beflügelt vom Ansturm auf die T-Aktie, will der Fachhochschulprofessor aus Friedrichshafen schon in naher Zukunft selbst Anteilsscheine unters Volk bringen. Derzeit gehören ihm als Gründer der Neurotec Hochtechnologie GmbH in Oberursel zwar nur zehn Prozent seiner Firma; der Rest liegt zu gleichen Teilen bei der Berliner Elektroholding (BEH) und der Karstadt AG. Doch Schöneburg ist sich seines Erfolgs so sicher, daß er demnächst einen seiner Finanziers auskaufen will, um sodann mit frischem Kapital von der Börse auf Expansionskurs zu gehen.
Ob die Rechnung des ehrgeizigen Informatikers aufgeht, hängt in erster Linie von den deutschen Internet-Surfern ab: Nur wenn viele von ihnen oft genug die Web-Adresse www.my-world.de in ihren Browser tippen, kann Neurotec auf genügend Folgeaufträge bauen.
Karstadt glaubt an den Erfolg von „My World“
Wenn die imaginäre Einkaufsstadt mit der fremdartigen Architektur eine nennenswerte Stammkundschaft an sich bindet, muß Karstadt-Vorstand Klaus Eierhoff jenen 65 Millionen Mark nicht nachtrauern, die er im vergangenen Frühjahr für seinen Vorstoß in den Cyberspace bei Konzernchef Walter Deuss lockergemacht hat – „ohne Wirtschaftlichkeitsrechnung“, wie Schöneburg betont. „Keiner kann sagen, wann das in die schwarzen Zahlen kommt“, gesteht Softwarepionier und Negroponte-Fan Schöneburg, „das wäre unseriös.“
Die Wenns haben es in sich. Derzeit deutet alles darauf hin, daß My World alles andere als ein Volltreffer ist. Meldeten sich kurz nach dem Start im Oktober täglich bis zu 15.000 Onliner an, kam der Tageszähler im Weihnachtsgeschäft über die 10.000er-Marke nicht mehr hinaus. Und von 13.000 namentlich registrierten Besuchern Anfang November wuchs die Datenbank nur noch um 4.000 Interessenten an. Das von Neugierigen entfachte Strohfeuer verglimmt.
Ähnlich ernüchternde Erfahrungen machen zur Zeit Handelsunternehmen rund um den Globus. Kaum eine große Ladenkette, kaum eine Warenhausgruppe, die nicht im Internet oder in Online-Diensten Flagge zeigte – ob Macys oder Walmart in den USA, ob Obi-Baumärkte oder Kaufhof/Metro in Deutschland. Doch was Heerscharen von Screendesignern eine gute Auslastung sichert, spielt nur selten das investierte Geld durch online ergatterte Umsätze wieder ein.
Gemessen an der Realität wirken die jüngsten Prognosen zum Internet-Shopping geradezu absurd – etwa die nicht ganz uneigennützige Behauptung von IBM, daß im Jahr 2000 Waren im Wert von 165 Milliarden Dollar auf diesem Weg bestellt werden, davon für 45 Milliarden von Endverbrauchern.
Mit der Ignoranz der Kundschaft ist der dürftige Zuspruch allerdings kaum zu erklären. Eher schon damit, daß der Kunde die begehrte Ware nirgends findet, dafür aber allerlei Dinge, die er ganz gewiß nicht braucht. Viele Online-Malls gleichen noch Monate nach der Eröffnung Potemkinschen Dörfern, hinter deren bombastischen Schaufenstern leere Regale stehen.
Bestes Beispiel: World Avenue, das im Herbst mit großem Pomp annoncierte globale Einkaufszentrum von IBM. Wer auf der Homepage die Warengruppe „Kameras“ auswählt, kann zwar im nächsten Schritt anklicken, ob es etwa ein Fotoapparat, ein Objektiv oder ein Stativ sein soll und wieviel er dafür ausgeben will. Am Ende meldet der Computer jedoch bei fast allen Rubriken Fehlanzeige – und das, obwohl ein Link zur exzellenten Bestelldatenbank des Foto-Discount-Versenders Robert Waxman besteht.
Falsche Erwartungen weckt auch My World – zumindest beim unbedarften Verbraucher. Anknüpfend an die von vielen Medien verbreitete Illusion, das Internet sei ein Basar der unbegrenzten Möglichkeiten, tönen Karstadts Öffentlichkeitsarbeiter vom Zugriff auf 150.000 Produkte. In Wirklichkeit offeriert das digitale Versuchslabor von Karstadts Informatik-Direktor Ragnar Nilsson nur einen schmalen Ausschnitt aus dem breiten Warenhaus-Sortiment.
Die imposante Zahl von Artikeln ist allein dadurch zu erklären, daß die konzerninternen Reiseveranstalter (Marken: Karstadt und Neckermann) ebenso mit dem Netz-Shop verbunden sind wie eine virtuelle Buchhandlung. Der Rest sind Shop-in-Shop-Angebote von Spielwarenherstellern wie Nintendo und Sega, Elektronikkonzernen wie Sony und IBM sowie der RWE-Handy-Tochter Talkline.
Gute Online-Konzepte sind beim Handel Mangelware
Mit der Suche nach praktikablen Online-Konzepten tut sich der gesamte Handel schwer. Auf Kongressen und in Seminaren debattieren die Kaufleute über die künftige Dienstleistungsgesellschaft – und sie haben dabei weniger Visionen vor Augen als die akuten Sorgen des „stationären“, sprich: des traditionellen Einzelhandels.
Und der steckt tief in der Krise:
• Viele Marktsegmente sind gesättigt. Nur mit Müh‘ und Not halten viele Branchen ihre Umsätze halbwegs stabil.
• Innovative Produkte, die einen breiten Markt ansprechen, sind rar.
• Aggressiv auftretende Fachmärkte bringen mit Lockangeboten und billigen Auslaufmodellen teurer Marken das Preisgefüge aus dem Gleichgewicht. Folge: Regulär kalkulierte Ware läßt sich immer schwerer verkaufen.
• Grosszügig geplante bis überdimensionierte Einkaufszentren saugen massiv Kaufkraft aus den traditionellen Innenstadtlagen.
Einig sind sich die Verkaufsmanager nur in einem Punkt: Der Handel kann sich allein durch besseren Service profilieren – oder auf Kongreßdeutsch: durch kundenorientierte Dienstleistungsangebote.
Kaufhof setzt statt Internet auf Erlebniseinkauf
Für Georg Thaler, der sich in der Kölner Zentrale der Kaufhof-Holding über derlei Dinge den Kopf zerbricht, ist folgerichtig das Internet nur ein zweitrangiges Thema: „70 Prozent der Einkäufe im deutschen Einzelhandel werden von Frauen getätigt“, referiert der Pragmatiker, „aber nur zehn Prozent von ihnen sind heute online.“
Multimedia-Mann Thaler sucht Möglichkeiten, die neue Technik nutzbringend im stationären Handel einzusetzen – also in real existierenen Warenhäusern wie der 18.000 Quadratmeter großen „Galeria Kaufhof“ im neueröffneten Einkaufsmekka „Centro“. Diese amerikanisch inspirierte Mega-Mall in der Ruhrpott-Metropole Oberhausen bietet ihm den passenden Rahmen für einen Markttest zum Thema „Erlebniseinkauf der Zukunft“: Lassen sich die nicht mehr ganz so jugendlichen Stammkundinnen wieder öfter in den Laden locken, wenn sie dort am Computermonitor in virtueller Realität durchspielen dürfen, was sie mit dem schönen neuen Gardinenstoff ans Fenster zaubern könnten?
Die Folgen der weitgehenden Web-Abstinenz von Branchen-Schwergewichtlern wie Kaufhof sind bereits Thema wissenschaftlicher Betrachtungen. „Die deutschen Netsurfer kaufen nicht online ein“, rundet Kurt Monse vom Forschungsinstitut für Telekommunikation, Dortmund, das heutige Bißchen auf Null ab. Einen wesentlichen Grund sieht der Experte von der Ruhr darin, daß „die Angebote nicht attraktiv sind“. Die Schelte zielt indes nicht nur auf das „Goldene Kaufhof-Angebot“, das seit ein paar Monaten als digitale Wiedergeburt eines Siebziger-Jahre-Werbeslogans die Seiten der Konzern-Kusine Metronet ziert.
Monses vernichtendes Urteil gilt der gesamten Zunft: „Interaktives Teleshopping und Verkaufen am Bildschirm sind in Deutschland Worthülsen, die bei weitem nicht in sinnvolle Geschäftskonzepte umgesetzt werden.“
Was denn sinnvolle Konzepte sind, darüber gehen die Meinungen freilich auch unter jenen auseinander, die nicht alles aus der Warte des stationären Handels sehen. Aus der gegenwärtigen Diskussion kristallisieren sich jedoch einige Fakten heraus:
• Das im Kaufhaus bewährte Push-Marketing, das mit Sonderaufbauten und Wühltischen zu Impulskäufen anregt, funktioniert online nicht. Denn ein Kunde, der extra seinen Computer und sein Modem einschaltet, um die Seite eines Handelshauses anzuwählen, sucht etwas Konkretes.
• Produkte, deren Einkauf als Erlebnis empfunden wird, taugen nicht für den Internet-Vertrieb. Paradebeispiel sind Textilien. „Bei allem, was über die Levi’s 501 hinausgeht“, lästert Thomas Werz, Geschäftsführer des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels (HDE), über die 08/15-Hose der Bundesbürger, „werden sich Online-Anbieter auf lange Sicht äußerst schwertun.“ Als Gegenbeispiel gelten Musik-CDs: Die Songs sind aus dem Radio bekannt; was zählt, ist der Preis. Und der läßt sich im Internet bequem vergleichen.
• Markenartikel mit loyalem Kundenstamm bieten sich für den Online-Versandhandel an, vor allem wenn es sich um Verschleiß- oder Verbrauchsgüter handelt: Videokassetten, Staubsaugerbeutel oder Bratpfannen kauft man nicht aus Spaß nach, sondern weil man sie braucht. Diese Erkenntnis nutzen bereits mehrere Discount-Versender von Bürobedarf; deren potentielle Kunden sind durchweg computerisiert und können so den Einkauf von Stiften und Kopierpapier rationalisieren.
• Die Ausschaltung des Zwischenhandels durch Fabrikverkäufe an Endverbraucher erweist sich mehr und mehr als übertriebenes Horrorgemälde. Zumindest vorläufig ist die dazu nötige Logistik für die Produzenten schlicht zu teuer. Zudem denkt der Verbraucher zuerst an das Produkt und dann an die Marke – ein starkes Argument dafür, den Vertrieb auch im Netz den Handelsprofis zu überlassen.
• Das Schlagwort von der „Globalisierung“ der Warenströme füllt sich zunehmend mit Leben. So lauert die wohl größte Bedrohung für den Fachhandel hinter den Grenzen: Fotogeräte, Unterhaltungselektronik, Uhren oder Koffer sind in bestimmten Ländern viel billiger, so daß sich Online-Bestellungen und Selbstimport trotz Zoll und Einfuhr-Umsatzsteuer oft lohnen.
Die Gestaltung der Webseite wird dabei zur Nebensache – Hauptsache, der Online-Katalog ist aktuell und vollständig. Robert Waxman, Amerikas bekanntester Internet-Fotodiscounter, unterbietet bei hochwertigen Kameras und Objektiven nicht nur die Einkaufspreise deutscher Händler. Er re-exportiert sogar japanische Geräte nach Tokio und Osaka. Die Online-Technik erschließt Waxman dabei völlig neue Absatzchancen: Als Versender wie er noch auf Inserate in Printtiteln wie „Modern Photography“ angewiesen waren, mußten Kunden bei vielen Produkten erst anrufen, um Lieferzeit und aktuellen Preis zu erfragen. Jetzt führt nicht nur der Weg vom Lesen der Preisliste unmittelbar zum Bestellvorgang; der Kunde kann sogar auf Tastendruck detaillierte Produktinformationen einsehen.
Handelskonzerne haben Angst vor Preistransparenz
Wie wenig Deutschlands stationärer Handel hingegen auf die Entwicklung des Internets eingerichtet ist, zeigt der Versuch der großen Kaufhauskonzerne, mittels Cyberbars und Media Stations junge Kundschaft in die Häuser zu locken. Nun können sich die computerkundigen Kids nach Besichtigung der echten Ware sofort online informieren, wo sie diese billiger bekommen.
Dabei kann sich sogar herausstellen, daß sie sich gerade in einer teuren Filiale befinden. Denn bisher passen die Geschäftsführer der regionalen Niederlassungen ihre Preise dem örtlichen Konkurrenzumfeld an. Weil solche Flexibilität im Internet absurd wäre, haben sich die Karstadt-Manager auf eine gefährliche Strategie eingelassen: Produkte, die es sowohl in My World als auch in den Häusern gibt, werden online zum aktuell niedrigsten Karstadt-Preis geführt.
Wenn der Filialhandel seine regionalen Preise opfern muß, droht eine bundesweite Nivellierung am unteren Rand des Spektrums – und die selbständigen Fachhändler wären gezwungen, mitzuziehen.
Die Angst vor zuviel Transparenz halten Kenner der Materie denn auch für den wahren Grund, weshalb sich die Handelsriesen online nicht konsequenter engagieren. Eberhard Schöneburg denkt mit Auftraggeber und Teilhaber Nilsson allerdings bereits über Preisgestaltungsmodelle nach, die die traditionelle Schnäppchenjagd ad absurdum führen, aber eine große Zahl an Abrufen bringen würde. „Warum sollen wir nicht unterschiedliche Preise zu verschiedenen Tageszeiten haben?“, phantasiert der Professor. Herauszufinden, wann es am billigsten ist, wäre Aufgabe des surfenden Kunden.
Heute, im Jahr 2014, sind stundenaktuelle Preise längst Realität. Professor Schöneburg hat Leider nicht phantasiert, er war nur seiner Zeit voraus. schön ist das Tankstellengehabe bei Onlinehändlern jedenfalls nicht. UJF
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