Das Monopol der Telekom ist Geschichte, der Postminister geht in Pension. Die Stärken und Schwächen aus alten Behördenzeiten haben mehr Bestand. Wie lange der Ex-Monopolist allerdings seinen Vorsprung verteidigen kann, hängt davon ab, ob das Team um Ron Sommer es schafft, mit innovativen Ideen in die Offensive zu wechseln. Eine GLOBAL-ONLlNE-Bestandsaufnahme.
Von Ulf J. Froitzheim, Roland Keller und Eckhard Rahlenbeck
DIE ZUKUNFT BEGINNT in Gievenbeck-Südwest. Wenn im Frühjahr 1998 die ersten Familien mit dem Möbelwagen anrücken und das neue Stadtviertel im Nordwesten von Münster einweihen, wird sich zeigen, wie fit die Deutsche Telekom tatsächlich für den freien Wettbewerb ist, der par ordre de Brüssel am 1. Januar auf dem deutschen Fernmeldemarkt ausbricht.
Während im Rest der Republik das Gesetz der trägen Masse gilt – jeder, der nichts unternimmt, bleibt Telekom-Kunde – schreiten die Gievenbecker unfreiwillig zur Abstimmung. Wer dort telefonieren, faxen oder im Web surfen will, muß sich entscheiden, ob er seine TAE-Dose an die Glasfasern des lokalen Netzbetreibers Citykom Münster anschließen läßt oder wie gewohnt ans T-Net – erstmals liegen zwei separate Kabelstränge unter dem Pflaster. Gewinnen kann die Telekom nur, wenn sie die Zuzügler überzeugt, daß sie den besseren Service bietet: An der Preisfront hat sie mit ihren bundeseinheitlichen Tarifen keine Chance. Thomas Gläßer, Leiter Marketing und Vertrieb der Citykom, freut sich aufs Duell: „Wir werden um einen zweistelligen Prozentsatz billiger sein.“
Die Blicke der Branche richten sich nicht zuletzt deshalb auf die Westfalen-Metropole, weil die Generaldirektion der Telekom Gievenbeck-Südwest zur Chefsache erklärt hat. Der Ortsteil hätte Chancen gehabt, in die Annalen einzugehen als Deutschlands erste Siedlung, deren Infrastruktur vollständig in den Händen eines neuen Netzbetreibers liegt.
Tatsächlich schien es den Managern der Stadtwerke-Tochter Citykom anfangs so, als stehe die örtliche Telekom-Niederlassung einem Interconnection-Vertrag mit umgekehrtem Vorzeichen aufgeschlossen gegenüber. Die Bonner hätten als Untermieter die „Letzte Meile“ der Münsteraner mitbenutzen dürfen, die Investition hätte sich in der halben Zeit amortisiert. Doch dann kam das offizielle Nein – ohne Zweifel auf Anweisung von oben. Der Marktführer will nirgendwo die zweite Geige spielen, nicht einmal an der Peripherie einer Provinzstadt.
EIN RISKANTES SPIEL: Während sich die Telekom in Münster hinter ihrer jahrzehntelangen Erfahrung und der starken Marke mit dem Magenta-T verschanzt, reizt Gläßer mit der Trumpfkarte Internet: Als offizieller Service Provider der Universitätsstadt ist Citykom der Lokalmatador. Es gilt als sicher, daß der Tarif einen Bonus für Kunden enthalten wird, die mit dem Telefon zugleich einen WWW-Zugang buchen.
Auf Ex-Sonyboy Ron Sommer, dessen Lockenschopf nach 32 Monaten Telekom fast mehr grau denn meliert wirkt, warten im neuen Jahr freilich Herausforderungen ganz anderen Kalibers, als in Neubaugebieten peinliche Schlappen zu vermeiden. Wenn der Vorstandsvorsitzende von Europas größter Telefongesellschaft seinen Laden als „Innovationsmotor auf dem Weg in das Multimedia-Zeitalter“ apostrophiert, verraten seine Redenschreiber zwischen den Zeilen sein größtes Problem: Das Konzernungetüm aus über 200.000 Beamten und Angestellten ist noch lange nicht zu jenem siegessicheren „Team Telekom“ mutiert, das sich der Boß zum 1. Januar 1998 gewünscht hatte. Wenn der Innovationsmotor rund laufen und alle Passagiere ins Multimedia-Zeitalter befördern soll, so Sommers sublime Botschaft, müssen Stars und Wasserträger im Gleichtakt strampeln.
Von diesem Ziel ist die börsennotierte Behörde noch ebensoweit entfernt wie von einem Personalstand, der heutigen Vorstellungen von einem schlanken Unternehmen nahekommt. Weil Postgewerkschaft und bundespostalische Sozialverpflichtungen die Telekom daran hindern, überzählige Mitarbeiter einfach auf die Straße zu setzen, ist der massive Stellenabbau teuer: Im ersten Halbjahr strich der Konzern zwar 6,9 Prozent der Jobs; die Personalkosten sanken in dieser Zeit aber nur um 2,1 Prozent.
Obwohl längst auf allen Hierarchieebenen Manager und Mitarbeiter zu finden sind, die den Eindruck vermitteln, sie interessierten sich für die Bedürfnisse der Kunden, ist das alte Beamtendenken noch tief im Unternehmen verwurzelt. Während der eine Teil der Belegschaft sich redlich müht, liefert der andere den Rohstoff für den Running Gag in „Wie bitte?!“. Daß der Normalzuschauer beim Stichwort „Doof“ nicht mehr „Dick“ assoziiert, sondern einen belämmert dreinblickenden Telekomiker – Zerrbild eines Beamten im einfachen Dienst – paßt für Kenner des Konzerns ins Bild.
Schließlich hat die T-AG in Bonn einen Hauptaktionär, der die Vorstandschefs seiner Firmen so behandelt, als seien sie politische Beamte – ungeachtet der Frage, ob dies deren Glaubwürdigkeit im eigenen Hause untergräbt.
DER UMBAU DER TELEKOM zum marktfähigen Privatunternehmen macht trotzdem Fortschritte. Wenn es selbst Insidern bisweilen schwerfällt, sich im Dickicht aus immer mehr selbständigen Gesellschaften mit immer neuen T-Namen zurechtzufinden, so liegt dies nicht zuletzt an der unerwarteten Flexibilität, die der teilentstaatlichte Koloß an den Tag legt.
Zeigt sich irgendwo ein potentieller neuer Markt, ist die Telekom im Handumdrehen mit einer passenden Tochterfirma zur Stelle. So üppig füttert der Vorstand seine Hydra, daß ihr nach Ansicht von Kritikern schon mal ein überzähliger Kopf wächst. Beispielsweise schickte das neue Systemhaus der Telekom soeben in Kooperation mit Microsoft „Global Healthcare“ gegen den medizinischen Online-Dienst „Multimedica“ ins Rennen; dabei hatten sich dessen Gesellschafter – Burda, Bertelsmann und der wissenschaftliche Springer-Verlag Heidelberg – gerade deshalb zusammengetan, weil sich ihre getrennten Aktivitäten mit „Health Online“ und „bsmedic“ als nicht tragfähig erwiesen hatten. Das Rennen ist gleichwohl offen: Systemhaus-Leiter Lutz Völker überzeugte Springer, auch Multimedica mit Inhalt zu versorgen.
Marktforscher aller Couleur sind sich einig, daß die telekommunikativen Ableger der Großkonzerne Mannesmann, RWE, Veba und Viag gegen diese Telekom auf absehbare Zeit einen schweren Stand haben werden. Selbst optimistische Langfrist-Schätzungen gehen über 40 Prozent Gesamt-Marktanteil für die Neulinge nicht hinaus. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Vertriebsvorstand Detlev Buchal jeden Monat mit minimalem Aufwand den Kontakt zu seinen 44 Millionen Privat- und Geschäftskunden pflegen kann – indem er beispielsweise in bewährter Manier den Telefonrechnungen Reklame in eigener Sache beilegen läßt.
Die Rivalen müssen für viel Geld erst einmal den „Lead“ erzeugen, sprich: Adressen ernsthafter Interessenten auftreiben. Und wenn diese nicht in einer neuen Siedlung wie Gievenbeck wohnen, behält Konkurrent Buchal auch den Fuß in der Tür als Lieferant von Ortsgesprächen und damit auch den meisten Online-Wählverbindungen.
Weil die großen Herausforderer zunächst lieber in die lukrativ scheinenden Rennstrecken zwischen den großen Ballungsräumen investieren, behält die Telekom auf der „letzten Meile“ fast allerorten ihr Netzmonopol. Vorerst jedenfalls. Die Arbeitsteilung der wichtigsten Vorstandsmitglieder funktion iert bisher nicht schlecht. Vorne im Rampenlicht spielt der smarte Sommer, dessen zu Sony-Zeiten perfektionierte Marketing-Qualitäten auch Rivalen respektieren, sein Talent als Vorwärtsverteidiger aus. Je nach Bedarf gibt er sich als Vorkämpfer für den Shareholder Value der T-Aktionäre oder als Sanitäter, der dem angeschlagenen Standort D aufhelfen will. Sommer beschwört die zentrale Rolle der Telekommunikation in der postindustriellen, globalen Informationsgesellschaft und schwärmt vom „Telekom Valley“, seiner Vision von einem deutschen Innovationsbrutplatz unter den breiten Fittichen seiner Firma. Und weil ein bißchen Glamour nie schaden kann, bramarbasiert er auch schon mal ungeniert von futuristischen Spielereien seiner Ingenieure, etwa dreidimensionalen Videokonferenzen.
Im Hintergrund wacht derweil der eher blasse Gerd Tenzer über das wertvollste Gut der Telekom: ihre gigantische Kupfermine. 7.500 Tonnen des roten Metalls, verteilt auf 1,5 Millionen Strippenkilometer Doppelader-Kabel, haben die Reichspost und ihre Nachfolgerinnen in diesem Jahrhundert in ganz Deutschland verbuddelt. Nachdem es Ende der siebziger Jahre so ausgesehen hatte, als würden Glasfaser und Satellit bald das Ende der Kupferzeit in der Telekommunikation einläuten, ist die Telekom heute heilfroh um diesen Bodenschatz. Denn die Ingenieure sind mittlerweile in der Lage, auf der gewachsenen Infrastruktur bis zum Hundertfachen jener Informationsmenge zu übertragen, die man vor 20 jahren für realistisch hielt. Plötzlich scheint es nicht mehr illusorisch, ein Massenpublikum mit Multimedia-Angeboten zu versorgen, ohne groß in die technische Infrastruktur zu investieren.
DAS ERSTE ETAPPENZIEL auf dem Weg zu diesem Kommunikationsnetz der Zukunft hat Vorstandsmitglied Tenzer jetzt erreicht. Pünktlich zum Ende des Monopols (und neun Jahre früher als zu Amtszeiten geplant) wird das Netz einschließlich aller 5.200 Ortsvermittlungsstellen auf Digitaltechnik umgerüstet sein. Gesamtkosten des Tunings: zwölf Milliarden Mark. Der Fortschritt der Nachrichtentechnik hat indes im Laufe der Mammutaktion ein „Produkt“ überrollt, in das die Telekom viel Geld und Energie investiert hatte: ISDN. Als es erfunden wurde, galten 64 Kilobaud als Breitband-Übertragung. Es war die Zeit, als die Btx-Klotzlettern mit 1200 Baud auf den Fernsehschirm tuckerten.
Heute verfügt die Telekom über das dichteste ISDN-Netz auf dem Globus – aufgrund ihres offensiven Marketings: Allein 1996 konnte sie die Zahl der sogenannten Basisanschlüsse mit je zwei Kanälen auf 1,9 Millionen mehr als verdoppeln. Heute sind sieben Millionen Kanäle geschaltet; vor zwei Jahren gab es erst 2,7 Millionen. Was die Neukunden dieser beiden Jahre erhalten haben, ist jedoch ein Auslaufmodell. War die Zusammenführung von Sprache, Datenübertragung und diversen Komfortfunktionen ursprünglich als Premium-Service gedacht, sind die Unterschiede zum normalen Telefonnetz heute nur noch mit der Lupe zu finden. Immer mehr Extras sind mit neueren Analog-Endgeräten auch im einfachen T-Net nutzbar. Selbst das Bündeln bei der ISDN-Kanäle zu einer 128-Kilobit-Datenpipeline verliert seinen Reiz: Diamond Multimedia hat ein Modem angekündigt, das zwei analoge Telefonleitungen parallel schaltet und damit 112 Kilobit pro Sekunde durchläßt.
Ein weiteres Indiz dafür, daß ISDN in den letzten Zügen liegt, ist die soeben angelaufene Werbekampagne des Quartetts Advance Bank, AOL, Telekom und Teles, die an die Usancen im Mobilfunkgeschäft erinnert: Die Hardware wird massiv subventioniert, weil man an den Verbindungsgebühren verdienen will. So kosten eine ISDN-Karte für den PC, ein ISDN-Telefon und Software zusammen nicht einmal 50 Mark; zusätzlich gibt es eine Gutschrift für drei Monate Grundgebühr, so daß der angehende Homebanker unter dem Strich fast noch einen Hunderter geschenkt bekommt.
DAS NEUE SPITZENPRODUKT im Netz der Telekom ist schon in Sicht. Um aus seiner Kupfermine auch in Zukunft schöne Erträge schürfen zu können, läßt Cheftuner Gerd Tenzer seit einem Jahr in Nürnberg und demnächst auch in Köln, Bann, Düsseldorf und Münster das Breitbandverfahren „Asymmetrical Digital Subscriber Line“ (ADSL) testen. Sofern die nächste Vermittlungsstelle nicht allzu weit weg ist, lassen die neuen Modems (die mittels prozessorgesteuerter Signalfilterung das Leitungsrauschen unterdrücken) bis zu acht Megabit pro Sekunde durch eine normale Telefonleitung flitzen. Gegenüber der von Otelo erprobten Nutzung der Kabelfernsehnetze hat ADSL klare Vorteile: Erstens ist die erreichbare Kundschaft größer, weil jeder mitmachen kann, auch wenn er sein TV-Programm via Antenne oder Satellitenschüssel bezieht; zweitens muß nicht erst ein als Einbahnstraße auslegtes System mit teurer Vermittlungstechnik für den Daten-Gegenverkehr fit gemacht werden.
Die Erfahrungen aus ADSL-Feldversuchen in England und Frankreich lassen zwar nicht erwarten, daß in der Praxis immer volle acht Megabit zu realisieren sind. Für Multimedia-Anwendungen wie Bildtelefonieren, Video-on-demand oder Teleheimarbeit würden aber bereits zwei Megabit genügen. Die britische Marktforschungsfirma Ovum glaubt, daß ADSL und ähnliche, unter xDSL subsumierte Techniken sich sehr schnell durchsetzen werden. Bis zum Jahr 2003 erwarten die Analysten weltweit schon 19 Millionen Anschlüsse.
DIE AUSSICHT, ADSL als erster Netzbetreiber serienreif zu haben, stellt die Sommer-Crew vor eine schwierige Entscheidung: Positionieren sie die Neuheit lieber als hochpreisigen Service für Profi-Nutzer oder als Billigdienst für ein Massenpublikum? Und womit provoziert die Telekom ihre Konkurrenz eher, auch ADSL zu installieren: indem sie die Turbo-Connection populär macht und so die anderen aufs Trittbrett lockt, oder indem sie es ihnen mit hohen Tarifen leicht macht, billiger zu sein? Tatsache ist, daß Sommers Unterhändler im Streit um die „Letzte Meile“ bis zuletzt versucht haben, den Wettbewerbern den Zugriff auf den „blanken Draht“ der Telekom zu verwehren. Nach geltendem Recht darf jeder lizensierte Netzbetreiber seine eigene Vermittlungstechnik nutzen – und damit auch ADSL-Router einsetzen.
So weit ist es freilich noch nicht. Um sich dem breiten Publikum überhaupt erst bekannt zu machen, stürzen sich die meisten New Entries auf das Volumengeschäft mit normalen Ferngesprächen – die datenhungrige Klientel kommt später dran. Mit einer Tarifvielfalt wie bei Handies treten ab Januar Dutzende von Anbietern an. Die meisten sind „Reseller“, simple Wiederverkäufer von Telefonminuten – die Telekom mutiert zum Zulieferer ihrer schärfsten Konkurrenten.
In diese Lage geriet der Telekom-Vorstand nicht ganz unverschuldet: Durch seine Totalopposition gegen die Zwänge des Telekommunikationsgesetzes (TKG) hatte er Postminister Wolfgang Bötsch keine Wahl gelassen, als kraft Amtes einen Minutenpreis für diese Durchleitung (Interconnection) zu verfügen. Die mageren 2,7 Pfennig, die der brave CSU-Mann für ausreichend hielt, untertrafen alle Prognosen und sogar die kühnsten Hoffnungen künftiger Discount-Anbieter. Ein echter Run auf Lizenzen für unterschiedliche Dienste setzte ein: Fünfzig seien bereits erteilt, weitere fünfzig beantragt worden, bestätigte Ron Sommer vor Managern in Köln.
DIESE ABSEHBARE ENTWICKLUNG hat die Telekom nicht davon abgehalten, ihre Infrastruktur aufzurüsten. Im Gegenteil: Durch massive Investitionen in volldigitale Vermittlungstechnik und neue Übertragungsstandards wie ATM (asynchroner Transfermodus) hat der Konzern seinen Status als Platzhirsch ausgebaut. Wo immer sich Konkurrenz hervortat, griff Tenzer tief ins Säckel und investierte in die prohibitive Aufrüstung. So sind mittlerweile in 28 deutschen Regionen Telekom-eigene Highspeed-Citynetze entstanden, die untereinander über ATM verbunden sind. Wenn es sein muß, ist dasselbe Unternehmen, das eben noch Privathaushalte und Selbständige monatelang auf die Montage simpler Hausanschlüsse warten ließ, in der Lage, einem Kunden wie der Reuters AG sein eigenes City-Netz auszulegen.
Um das hochkomplexe Leitungssystem rationell steuern zu können, eröffnete die Telekom im Februar in Bamberg ein sogenanntes Net Management Center für den gesamten deutschen Telekommunikationsverkehr. Bei Bedarf können die Bit-Ströme innerhalb des aus 125.000 Kilometern Glasfaserkabel bestehenden T-Net-Backbones umgeleitet werden.
DIE SCHALTZENTRALE kann eins nicht verhindern: dass der oft belächelte Onlinedienst der Telekom an seinem eigenen Erfolg fast erstickt. T-Online ist heute die größte Verkehrsquelle im europäischen Teil des Web; da kommt es vor, daß die Zugangsnummer 0191011 zu Spitzenzeiten besetzt ist.
Schaut man auf die Zahlen der Betreiberfirma Online-Pro Dienste, könnte sich deren Geschäftsführer Wolfang Keuntje eigentlich stolz zurücklehnen. Wenn nichts dazwischenkommt, kann er noch vor Silvester mit seinen Kollegen Eric Danke (Technik) und Christian Höning (Finanzen) auf den zweimillionsten Kunden anstoßen. Der Umsatz mit über Btx bestellten Waren wird den stattlichen Vorjahreswert von einer Milliarde Mark klar übertreffen. Auch wenn der miese Ruf von Bildschirmtext noch so zählebig ist: Die Telekom ist die unangefochtene Nummer eins im deutschen Onlinegeschäft; eine Wachstumsrate von mehr als 30 Prozent sichert souverän den Vorsprung.
Trotzdem kann sich Keuntje Laissez-faire nicht leisten. Denn aus Vorstandssicht hat T-Online erst zwei Millionen Teilnehmer; ohne eine 15jährige Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen könnten es viele mehr sein. Die Meßlatte ist Frankreich, wo das technisch weit unterlegene Minitel sieben Millionen treue Abonnenten bei der Stange hält, obwohl das Land ein Drittel weniger Einwohner hat als Deutschland.
Unter dem 40jährigen Seiteneinsteiger Keuntje – er kam 1994 von Alcatel zur Telekom – steuert T-Online nun endgültig in Richtung Internet. Für den geschlossenen Dienst, den sein Geschäftsführerkollege Eric Danke als beamteter Online-Pionier aufgebaut hatte, sieht er keine Zukunft mehr.
DIE NEUE LINIE ist die Reaktion auf den Markt. So begann der große Zulauf zu T-Online erst, nachdem die Agentur 1&1 Marketing den Dienst 1995 als Internet-Provider für den kleinen Geldbeutel positioniert hatte (mit dem leicht bauernfängerischen Slogan „ab 8 Mark im Monat“). Der hauseigene Layout-Standard KIT, mit dem „Mr. Btx“ Eric Danke damals den Konkurrenten Compuserve, AOL und MSN Paroli bieten wollte, ging in der anrollenden WWW-Welle unter. Die Anbieter von Btx-Seiten interessierten sich nicht sonderlich für die überzüchtete „Kernsoftware für Intelligente Terminals“, denn alle Welt drängte zu den Internet-Gateways, den engen Gängen zwischen Btx und dem Surfparadies Internet.
Seither kämpft T-Online regelmäßig mit dem Problem, Kapazitätsengpässe rechtzeitig zu prognostizieren. Immer wieder strandeten gebührenzahlende Internet-Interessenten im Ulmer Btx-Rechenzentrum. Im Sommer 1997 tat die Telekom das Richtige: Sie öffnete den T-Online-Mitgliedern via PPP-Verbindung den Direktzugang ins Internet. Doch erneut wurde der rosa Riese vom eigenen Erfolg kalt erwischt.
Hatte das Verkehrsvolumen im April bei sechs Terabyte gelegen, waren es im August plötzlich sechzig: die Datenmenge von 90.000 randvollen CD-ROMs. Weil niemand zuvor einen solchen Ansturm simuliert hatte, war nicht zu verhindern, daß die Vermittlungsrechner in die Knie gingen.
SELBST DIESE PANNE hat T-Online ohne bleibenden Schaden überstanden. Jetzt gilt es, die Zweiteilung zu überwinden. Frei nach der Devise „best of two worlds“ versucht Keuntje, bewährte Btx-Funktionen in die Internet-Welt zu transponieren. Beim Homebanking will er den 1.500 Geldinstituten helfen, auf eine sichere Internet-Kontoführung umzustellen. Auch die bequeme Zahlung von Kleinbeträgen bis 9,99 Mark mit Abbuchung über die Telefonrechnung möchte der T-Mann aufs Internet ausdehnen. 1996 summierte sich dieses Inkasso auf 100 Millionen Mark.
Von eigenen Informations- oder Unterhaltungsprogrammen hält der Online-Pro-Stratege indes nichts: „Aus dem Content-Geschäft halten wir uns raus.“ Das Ziel sei, den Kunden mittels „Channels“ das Navigieren durch die Angebote des Internet zu erleichtern. In Vorbereitung sind beispielsweise virtuelle Shoppingcenters für bestimmte Zielgruppen; hierzu hat sich die Telekom mit dem deutsch-kalifornischen Softwarehaus Intershop Communications verbündet.
Geschäftskunden will sich T-Online laut Keuntje als vollwertiger Internet-Provider empfehlen: Geplant sind Komplettlösungen für die passive und aktive Nutzung des Internets, von der Beratung bis zum Marketing des Auftritts und vom Web-Hosting bis hin zum Internet/lntranet-Servicepaket.
Unterstützung findet Keuntje unter anderem bei Lutz Völker, dem Leiter des soeben gegründeten Multimedia-Systemhauses der Telekom. Der Ex-SAP-Mann soll Tempo in das Internet- und Multimediageschäft der Telekom bringen. Zu seinem Beritt gehört alles, was moderne Netze künftig bieten sollen: Telelearning, -working und -medizin, Web Publishing, E-Commerce.
Eines wird Online-Pro auch künftig von anderen Providern unterscheiden: Aus dem Reizthema Internet-Telefonieren hält sich Online Pro heraus; das ist Sache der Mutter. Und die geht in die Offensive, damit ihr nicht eines Tages ein Discount-Anbieter die Butter vom Brot nimmt: Seit Juli testet die Telekom die Technik gemeinsam mit 1000 Firmenkunden im Feldversuch, und beim Pionier auf diesem Sektor, der israelischen VocalTec Ltd., kaufte sie sich mit 21 Prozent ein.
So gefährlich, wie manchmal kolportiert wird, werden die spottbilligen Auslandstelefonate für den Umsatz übrigens kaum sein. Der Ausbau der trans-atlantischen Glasfaserkapazitäten ist nicht deshalb nötig, weil immer mehr telefoniert wird, sondern weil der Datenverkehr fast exponentiell wächst. Stefan Hischer, Geschäftsführer von Worldcom in Frankfurt, schätzt den Datenanteil auf Auslandsrouten auf 20 Prozent. „In wenigen Jahren“, so Hischer, „werden es 80 Prozent sein.
Die Aussicht auf drastisch steigende Datenmengen (etwa durch Abrufe digitalisierter Songs oder Videos) weckt auch die Begehrlichkeit der großen Energieversorger, die in der Telekommunikation bisher vor allem eine Gelegenheit sahen, ihre Monopolgewinne zu reinvestieren. Unabhängig von ihrem Engagement bei Otelo prüft die RWE in Essen, ob sie bald vielleicht größere Bitmengen durch ihre Stromkabel „funken“ kann. Denn „Powerline“, eine bisher nur für Minidateien wie Zählerstände genutzte Technik, macht Fortschritte.
FALLS ALLES OPTIMAL läuft, startet die RWE-Tochter Tele-Lev in Leverkusen Mitte nächsten Jahres ein Pilotprojekt. Das echte Problem kommt erst, wenn auch dies gelingt. Dann müssten die E-Werke bei jedem Verbraucher den Verteilerkasten umbauen. Wollen sie sich den Aufwand sparen, könnte man die „Intelligenz“ fürs Erkennen der Signale auch in die Telefone, Faxgeräte und Computer einbauen: Nur noch den Stecker in die Dose, einschalten, loslegen – der Chip holt die Bits aus dem Stromkabel.
Auch diese Variante hat einen Haken: Die Hersteller der Geräte müssten von jedem Produkt zwei völlig unterschiedliche Typen konstruieren – eine Telekom- und eine E-Werk-Version. Wie lautete doch Ron Sommers Ceterum censeo? „Ich freue mich auf den Wettbewerb!“
Telekom & Co. KG
Von wegen Bürokratenverein – über Probleme mit der Telekom klagen nur Konkurrenten oder Kunden. Wenn gute Geschäfte locken, ist der T-Vorstand sehr kooperativ. Die Liste der Partner liest sich wie ein Who is Who der Software- und Technologiefirmen.
France Télécom/Sprint
Mit ihrem französischen Pendant unterhält die Telekom in Brüssel das Joint-venture Atlas, das als Holding für die Beteiligung am Dreierbündnis Global One dient. Dritter im Bunde ist Sprint, an dem beide je 10 Prozent besitzen.
IBM Deutschland
Gemeinsam mit dem Computerkonzern betreibt die Telekom das bargeldlose Zahlungssystem TeleCash, über dessen 30.000 POS-Terminals monatlich mehr als eine Milliarde Mark fließt.
Netscape
Die Telekom ist nicht parteiisch, wenn sich’s vermeiden läßt. Darum liefert sie T-Online-Decoder mit dem Navigator aus und kooperiert mit Netscape bei Intranet-Komplett-Lösungen.
Microsoft
Mit der Gates-Firma unterzeichneten die Bonner 1994 ein Memorandum of Understanding. Seither verständigte man sich über Multimedia-Dienste, Telesicherheit, Smartcards, Telemedizin, das Microsoft Commercial Intranet System (MClS) für Internet- und Intranet-Anwendungen und Web-TV.
Intel
Der zweiten Hälfte von Wintel hilft die Telekom beim Versuch, ihr Videokonferenzsystem ProShare populär zu machen. Siemens-Nixdorf half den beiden wiederum, Computer, ISDN-Modul und Konferenztechnik in ein Komplettsystem zu integrieren. Inside ist Intel auch bei Online-PCs von Compaq und SNI, die es im T-Punkt gibt.
SAP
Mit dem Börsenliebling zeugte der Telefonriese die SAP Solutions. Die soll R/ 3-Software an Telekom-Bedürfnisse anpassen und die dabei entstehende Branchenlösung weltweit vermarkten.
Compaq, Canon, Vobis
Deren defekte Faxe und Computer setzt der T-Service wieder instand.
ESM European Satellite Multimedia
Mit Intel und dem Astra-Betreiber SES, an dem sie ebenfalls beteiligt ist, betreibt die Telekom diesen orbitalen Datensender: Per T-lntra-400-Cast kommen Multimedia-Inhalte und Updates.
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