MULTIMEDIA FÜR DIE STRASSE. Der nächste Stau kann kommen: Mit dem Monitor im Armaturenbrett kommt so schnell keine Langeweile auf. Doch kluge Käufer warten noch.
Kauft den noch jemand, einen Passat mit elf Jahren und 180000 Kilometern auf dem Buckel? Zum Verschrotten ist er viel zu schade. »250000«, konstatiert Michael Siebert, Kfz-Meister in München, »sind doch für einen VW-Motor heute kein Problem mehr.« Wenn der weiße Kombi seinen finalen Tachostand erreicht, ist er15 jahre alt – und hat zehn PC-Generationen überlebt.
Auto und Computer – das waren bisher zwei Welten, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten. jede hatte ihren eigenen Rhythmus, ihre eigenen Werte: hier Langlebigkeit, da ex-und-hopp. Als der Passat im Werk Emden vom Band lief, fassten Festplatten keine 20 Gigabyte, nur 20 Megabyte. Es gab keine Handys, keine Flachbildschirme, kein World Wide Web. Das informationstechnische Mittelalter liegt nicht einmal ein Autoleben zurück.
Plötzlich gelten die alten Regeln nicht mehr. Ganz so, als verliefen die Innovationen der beiden Branchen ab sofort im Gleichtakt, verwandeln die Autohersteller ihre Produkte in rollende Multimedia-Spielzeuge: Mercedes-Benz kooperiert mit T-Online. BMW präsentiert eine Edelkarosse, deren futuristische Instrumente eine deutliche Affinität ihrer Konstrukteure zu Konsolenspielen verraten. VW umwirbt die E-Generation mit einem Golf-Sondermodell und entwickelt eine Internet-Version des gewaltig übermotorisierten Passat-Achtzylinders. Jeder Hersteller, der etwas auf sich hält, integriert farbige TFT-Monitore in Armaturenbrett und Kopfstützen – als AIIround-Display für Navigationssystem, Videos, Fernsehen, E-Mails und das unvermeidliche hauseigene mobile Internet-Portal.
Bei einer Probefahrt im stehenden Wagen – alles andere wäre lebens- und gemeingefährlich – entpuppen sich die meisten Auto-Gadgets allerdings als das, was in der Software-Zunft Release 1.0 heißt: Produkte, deren Macken sich nur absolute Technik-Freaks antun, weil es schick ist, immer das Neueste zu besitzen. Erst das Release 3.0, also die dritte Version, gilt gemeinhin als so ausgereift, dass sie einem Laien zugemutet werden kann.
Extrem gewöhnungsbedürftig ist zum Beispiel der von BMW als Sensation gefeierte Allzweck-Steuerknauf iDrive im neuen Siebener. Gewiss, das in der Mittelkonsole montierte Teil ist durch sein raffiniertes Zusammenspiel aus Software und Elektromechanik ein Wunderwerk der Technik. Je nachdem, welche Funktion der Fahrer gerade steuert – Telefon, Navigation, E-Mail, Stereo- oder Klimaanlage – gibt dieser Zwitter aus Puck und Joystick ein unterschiedliches Force-Feedback: Dreht man ihn, rastet er mal ein, mal federt er zurück, mal leistet er der Hand viel Widerstand und mal wenig. Doch mit dem Drehen ist es nicht getan. Für manche Funktionen muss der I-Drive nach unten oder in eine von acht Himmelsrichtungen gedrückt werden. Und weil sich bei 700 Optionen niemand die Sequenzen aus Schieben, Drehen und Runterdrücken einprägen kann, geht nichts oh ne konzentrierten Blick aufs Display. Unvorstellbar, während der Fahrt auch nur das Radioprogramm zu ändern, ohne dies zuvor in intensiven Trockenübungen trainiert zu haben. Die von Wall-Street-Online ins Auto gelieferten Börsenkurse sind ebenfalls entbehrlich: Wer mehr als 150000 Mark für sein Gefährt hinlegen kann, hat auch eine Sekretärin, die bei dramatischen Neuigkeiten sofort anruft.
Eine wahre Erholung ist das – auf den ersten Blick dem Münchner Erzeugnis sehr ähnliche – Multi-Media-lnterface (MMI), das Audi dem Avantissimo implantiert hat, einem AB Kombi-Prototypen. Beim MMI muss der Fahrer den Knopf bloß drehen oder auf ihn drücken. Für die dritte Bedienebene sind vier Tasten vorgesehen, die ergonomisch korrekt links und rechts angeordnet sind. Aber auch das Audi-Konzept vereinigt sehr viele Funktionen – solche, für die es bisher eigene Tasten und Schalter im Cockpit gab, und noch mehr neue. Der Auto-User darf also in eine Menge Staus geraten, bevor es ihm langweilig wird, weil er alle sinnvollen und sinnlosen Neuheiten durchprobiert hat.
Besonders originell ist die Eingabe von Rufnummern ins integrierte Autotelefon: Auf dem LCD-Schirm erscheint eine Wählscheibe; für jede Ziffer muss der Fahrer einmal drehen und einmal drücken. Zum Glück muss dieses Spielzeug niemand nutzen – Autos dieser Preislage hören dank ausgeklügelter Spracheingabesysteme und guter Schallisolierung recht zuverlässig aufs Wort.
Einen harten Kontrast zu den eleganten Festeinbauten beim BMW und beim Konzept-Audi bildet die handgestrickt anmutende Konstruktion, für die sich VW (Golf) und Mercedes (Smart, A-Klasse) entschieden haben. Die bei den Branchenriesen montieren einen handelsüblichen Organizer(Jornada, Ipaq) nahe dem Knie des Beifahrers unter das Armaturenbrett; hinzu kommen ein ebenso alltägliches Handy wie das schnelle Nokia 6210 (in der Mittelkonsole) und ein auf Autofahrers Bedürfnisse zugeschnittener Online-Infodienst. Das sieht nicht schön aus, ist aber zweckmäßig: Der Kunde bleibt flexibel für den Fall, dass die IT-Industrie im kommenden Jahrzehnt doch die eine oder andere Geld werte Innovation zu Stande bringt. Er kann die Einzelteile auch außerhalb des Autos nutzen, was nicht nur Geld spart, sondern auch den Zeitaufwand fürs Synchronisieren der Datenspeicher – und für die Einarbeitung in eine weitere Bedienungsanleitung. Zudem fallen einem Autoknacker keine Daten in die Hände.
Alle Online-Autos des Modelljahrs 2002 haben dennoch zwei Dinge gemeinsam: den Charme des Vorläufigen und einen saftigen Preis. Denn die nächste Generation der Bord-Elektronik, fällig beim nächsten Modellwechsel, wird mit Sicherheit schneller, komfortabler und billiger sein. Mit viel Glück bekommt die Industrie sogar eine Norm zu Stande: Dann könnte sich der Autofahrer den besten Online-Dienst aussuchen – statt an den seiner Marke gebunden zu sein.
Erschienen in BIZZ 11/2001.
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