PRODUKTIVITÄT. Während die Computerbranche schwächelt, laufen die Anwender ihrer Produkte zur Höchstform auf. Fünf Beispiele, wie clevere IT-Manager deutsche Unternehmen voranbringen.
TEXT_ Ulf J. Froitzheim und Sascha Mattke
Thomas Jäger gaukelt seinem Chef gern Dinge vor. Er tut etwa so, als wäre das Interieur des neuesten Mercedes-Modells schon fertig, und lässt Pkw-Entwicklungsleiter Hans-]oachim Schöpf auf dem Fahrersitz des Autos Platz nehmen, von dem nicht einmal ein Holzmodell existiert. Solche fernsehreifen Illusionen gehören zu Jägers Alltag. Als Leiter des Virtual Reality Centers von DaimlerChrysler in Sindelfingen ist der 37-Jährige ein Virtuose der dreidimensionalen Live-Simulation: Sein Instrumentarium reicht von der Holo-Bench, einer virtuellen Werkbank zur Begutachtung geplanter Kfz-Teile, bis zur holografischen Bühne, die selbst ein S-Klasse-Fahrzeug fasst. Die gewaltigen Digitalprojektoren, mit denen die fast lebensechten Bilder in den Raum gebeamt werden, sind vernetzt mit Computern, wie sie schon Steven Spielberg beim Dreh von »Jurassic Park« eingesetzt hat.
Das High-Tech-Hauskino – es kostete fast acht Millionen Euro – macht sich bezahlt. »Wir können auf bis zu 20 Prozent unserer physischen Modelle verzichten«, verrät Daimler-Manager Schöpf. Der Stuttgarter Konzern spart nicht nur Kosten im Prototypenbau, sondern verkürzt auch die Zeit bis zur Markteinführung. Das erlaubt den Produktstrategen, technische Neuerungen schneller in Serienfahrzeuge zu integrieren.
Eine neue Ökonomie macht sich hier zu Lande breit: die digital vernetzte Wirtschaft. Nicht jene Märchenwelt, in der Start-up-Zwerge schläfrigen Konzernriesen die Butter vom Brot nehmen. Sondern die Realität der Internet-kundigen Pragmatiker. die mit dem Einsatz von Netztechnik die Nase vorn haben im Wettbewerb und ihre Firmen einen gewaltigen Schritt in Richtung Zukunft voranbringen.
Die neuen High-Tech-Pioniere beschleunigen den ebenso leisen wie dramatischen Wandel der Ökonomie. Sie nutzen, so die Unternehmensberatung Accenture, ihr »Potenzial ohne Spektakel«. Unbefangen arbeiten sie mit Equipment, das sich bis vor wenigen Jahren nur große Forschungseinrichtungen leisten konnten. Sie formieren sich bei Bedarf via Internet zu virtuellen Teams, die über beliebige Distanzen hinweg Produkt-Designs austüfteln – und brauchen sich dank des Webs nicht einmal teure Spezialsoftware anzuschaffen. Sie sammeln und filtern Wissen und Ideen aller Beteiligten in Info-Pools, schmieden am PC robuste Lieferketten und verwandeln per E-Mail empfangene Software in eisenharte Werkstücke, als verfügten sie über den Replikator des Raumschiffs Enterprise. Bei alledem verlassen sie sich nicht mehr nur auf das, was ihnen die IT-Industrie vorsetzt, sondern definieren ihre Ziele selbst: mehr Produktivität, Innovationstempo und Wettbewerbsfähigkeit.
Welchen Wandel der Einsatz von Netztechnologie in einer Branche auslösen kann, zeigt das Beispiel Wal-Mart. Während selbst ernannte IT-Vordenker unter Fortschritt verstanden, dass sich Kühlschränke via Web-Order selbst nachfüllen, perfektionierten die vermeintlichen Erbsenzähler des US-Handelsimperiums die Auswertung ihrer Scanner-Kassen-Daten. Der Effekt war frappierend, wie Berater aus dem Hause McKinsey herausfanden: Der Produktivitätsvorsprung von Wal-Mart gegenüber anderen SB-Märkten stieg zeitweise auf 48 Prozent, denn niemand wusste besser als die Wal-Mart-Manager, wer wann was kauft und an welcher Stelle in welcher Filiale welcher Artikel am besten läuft. Die Konkurrenz brauchte Jahre, um das Erfolgsmodell des voll vernetzten Marktführers nachzuahmen.
Computer nicht als Selbstzweck, sondern als Werkzeug zum optimalen Umgang mit dem Produktivfaktor Information: Diese Denkweise gilt auch bei der Andreae-Noris Zahn AG (Anzag), der Nummer drei unter Deutschlands Pharma-Grossisten. »Wir müssen nicht modern sein, sondern schnell und gut«, sagt Bernhard Müller, Leiter der Niederlassung in Frankfurt am Main. Dort spuckt ein meterhoher Drucker im Zehntelsekundentakt maschinell lesbare Laufzettel aus. Mit routinierten Handgriffen verteilt ein Arbeiter die Belege auf gelbe Plastikkisten, die auf einern Förderband an ihm vorbei defilieren – hinein in einen Dschungel aus Rollbändern und Weichen, vorbei an bemannten und unbemannten Packstellen, stets zielsicher dirigiert von Strichcode-Scannern. Höchstens 25 Minuten später stehen die Boxen gefüllt an der Rampe – fertig zum Verladen in einen der weißen Kombis, die mehrmals täglich die Apotheken im Rhein-Main-Gebiet ansteuern. Das System arbeitet nahezu perfekt: Die Fehlerquote liegt bei einem halben Promille.
Alle 23 Anzag-Standorte sind so miteinander vernetzt, dass sie wie ein einziges großes Deutschland-Lager funktionieren. Selbst Apotheker in entlegenen Dörfern haben online Zugriff auf 130.000 Medikamente. Ist ein Präparat nicht vorrätig, springt eine andere Filiale ein. Vorstandschef Horst Trimborn ist stolz auf seinen Logistikverbund: »Quasi über Nacht haben wir die Zahl der an jedem Standort verfügbaren Medikamente um 50 Prozent gesteigert.« Bevor Trimborn den Schalter auf Zukunft umlegen konnte, vergingen sieben lange Jahre des radikalen Umbaus von Organisation, Abläufen und Computersystemen.
Der Industrie-Designer Peter Spielhoff aus Dortmund karn rascher ans Ziel. »Das ist die Zukunft«, hatte der Vertreter des US-Software-Hauses PTC behauptet, als er ihm auf der Cebit im März eine Neuheit namens Windchill Projectlink präsentierte. Drei Jahre Nutzung, erfuhr der Chef von sieben Angestellten, sollten ihn eine glatte Million Mark kosten. Trotzdem ließ sich der Mittelständler überzeugen und bestellte die Software. In diesen Tagen startet der erste Einsatz. Damit ist Spielhoff ein Pionier auf dem Gebiet des Collaborative Product Development (CPD), der Online-Zusammenarbeit mehrer Partner bei der Produktentwicklung.
CPD, früher auch als Concurrent Engineering bekannt, ist gar keine so neue Idee. Doch ihre praktische Umsetzung lohnte sich bisher nur bei einer engen, dauerhaften Kooperation: Alle Beteiligten mussten das gleiche Konstruktionsprogramm installiert haben. Projectlink hingegen nutzt das Internet-Format XML als Basis. Nur noch das federführende Unternehmen muss teure Software kaufen oder mieten. Die Zuarbeiter benötigen lediglich ein Plug-in für ihren Browser und haben so Zugriff auf alle wichtigen Daten wie Abmessungen, Material und die Kompatibilität mit anderen Teilen. Das ist ideal für Spielhoff, dessen Team für seine Auftraggeber so unterschiedliche Dinge wie Lockendreher, Lichtschalter und Bagger entwirft und deshalb oft externe Spezialisten einbinden muss: Seine kleine Firma gestaltet nicht nur die äußere Hülle, sondern konstruiert das fertigungsreife Produkt.
Der erste Auftrag, bei dem Projectlink sich bewähren muss, kommt von einer Medizintechnikfirma: ein Massenspektrometer zur Analyse chemischer Substanzen. Etwa zehn Parteien sind in die Aufgabe involviert – von der Entwicklungsabteilung des Kunden bis zum Blechlieferanten. Spielhoff erwartet Einsparungen von bis zu zehn Prozent: »Bisher verschicken wir die Daten als E-Mails oder auf CDs an die Partner. Damit ist ein Mitarbeiter drei Tage in der Woche beschäftigt. Den können wir jetzt produktiv einsetzen.«
Noch vor der Kostensenkung rangiert für die meisten Anwender von CPD-Software der Vorteil, die Entwicklungszeit zu verkürzen, also neue Produkte früher in den Markt einführen zu können. Dies ergab eine noch unveröffentlichte Studie der Beratungsgesellschaft Accenture, in deren Rahmen Manager von 100 Firmen aus der europäischen Fertigungsindustrie befragt wurden. Mehr als drei Viertel von ihnen halten CPD für einen aussichtsreichen Ansatz. 14 Prozent räumen dem CPD-Projekt sogar Top-Priorität ein.
Deutlich exotischer als die Bildung virtueller Konstruktionsteams ist das Rapid Prototyping, das dreidimensionale Ausdrucken von digitalen technischen Zeichnungen, das ebenfalls auf kürzere Entwicklungszyklen abzielt. Die Verwandlung von Software in Hardware klingt wie Hokuspokus, ist aber keineswegs Science-fiction. Seit Jahren gibt es bereits 3-D-Printer, durch deren Düsen heißes Wachs oder flüssiger Kunststoff gepresst werden, wobei langsam, Schicht um Schicht, ein weiches 1:1-Abbild des gewünschten Bauteils in die Höhe wächst.
Neu ist, dass die Methode mit Metallpulver funktioniert. Dirk Hennigs, Forscher am Bremer Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und angewandte Materialforschung (IFAM), kann mit Europas erstem 3-D-Metallprinter beliebig geformte Bauteile bis zu einer Abmessung von 30 mal 30 mal 25 Zentimetern erzeugen, ohne ein Werkzeug anfertigen zu müssen. Alles, was er dafür benötigt, ist eine E-Mail mit der angehängten Produktdatei eines CAD-Programms.
Auf solche Hardcopys haben IFAM-Auftraggeber wie Siemens, DaimlerChrysler, MAN oder Bosch seit langem gewartet: Dank der Prometal-Technik, die von dem US-Maschinenbauer Extrude Hone stammt, bekommen die Konstrukteure das Ergebnis ihrer Arbeit jetzt innerhalb weniger Tage zu fassen. Nach ausgiebigen Versuchen mit diversen Metall-Legierungen traut Hennigs der Technik zu, dass sie über den Bau von Prototypen hinauswächst: »Der Trend geht zum Rapid Manufacturing – der werkzeuglosen Bauteilherstellung in größeren Stückzahlen.«
Produktivitätsoffensiven laufen nicht nur in Labors und Fabriken. Zunehmend rückt das Büro ins Blickfeld der Optimierer. Denn die Wissensarbeiter leiden unter zu viel Input: »Nach einem zweiwöchigen Urlaub hat man mindestens 400 E-Mails«, klagt Klaus Büttner, Innovationsmanager bei BMW in München. Von Relevanz sei nicht einmal ein Drittel. Büttners Rezept gegen die Info-Sintflut heißt Wissensmanagement: Eine Software, die ohne Programmierkenntnisse bedient werden kann, hilft beim Strukturieren des eigenen Outputs und bei der Informationssuche in den firmeninternen Datenbanken.
Sie verknüpft Arbeitsabläufe mit den dazugehörigen Dokumenten. Wer im BMW-Forschungs- und Innovationszentrum über den Fortschritt eines Projekts auf dem Laufenden bleiben muss, braucht mit der Computermaus nur das Symbol »Auge« auf das Dokument zu setzen. »Dann meldet sich das System, sobald sich etwas ändert.«
Programme für Wissensmanagement können nicht nur Informationen preisgeben, sondern auch Herrschaftswissen und Betriebsgeheimnisse vor naseweisen Mitarbeitern verbergen. Das System des Grazer Software-Hauses Hyperwave zeigt Dokumente in einem Browser an, wie man es vom Internet kennt – mit Hyperlinks, die per Mausklick zu weiteren Infos führen. Mit einem Unterschied. »Diese Links sehen nur die Nutzer, die eine Zugriffsberechtigung haben«, beteuert Hyperwave-Chefentwickler Frank Kappe. »Wir arbeiten schließlich auch für Geheimdienste und Banken.«
Erschienen in BIZZ 1/2002.
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