Titelgeschichte der mit “Silber” beim Best of Corporate Publishing Award 2006 prämierten Ausgabe des Kundenmagazins m&it (Menschen und Informationstechnik), Herausgeber: sd&m AG, München.
Der Mensch hasst die Ungewissheit. Er will wissen, was auf ihn zukommt: Er geht zu Wahrsagern, hört Horoskope im Radio, bemüht selbst ernannte Zukunftsforscher. Aber weder Geist noch Natur und Technik entwickeln sich linear. Die Extrapolation der jüngeren Vergangenheit in Richtung Zukunft ist so unzuverlässig wie langfristige Wetterprognosen.
Herman Kahn war ein hochgescheiter Mann. „Highest IQ on record“ lautet eine typische Würdigung – auch wenn nirgends verlässlich dokumentiert ist, ob der New Yorker seinen Intelligenzquotienten überhaupt je hat wissenschaftlich messen lassen. Kahn (1922–1983) war der Urtyp jener Sorte Experten, ohne die die heutige Mediengesellschaft kaum mehr vorstellbar ist: eloquente Berufsbesserwisser, die der schnöden Wirklichkeit gedanklich immer einige Schritte voraus sind. Seine Lebensaufgabe fand der frühere Wunderknabe der Air-Force-Denkfabrik RAND Corporation darin, mit seinem eigenen Think-Tank Hudson Institute die USA des jungen Computerzeitalters auf das vorzubereiten, was ihnen in naher, mittlerer und etwas fernerer Zukunft blühte: militärisch, politisch, technisch, ökonomisch – vom Atomkrieg bis zum Wirtschaftswunder.
Zukunft als Forschungsobjekt
Mit seinem privatwirtschaftlichen Denkinstitut kam Kahn, der Nachwuchs-Clausewitz in Diensten des Pentagons, genau zur richtigen Zeit auf den Markt: Aufgeschreckt durch den Sputnik-Schock, griffen die USA nach Mond und Sternen. Software-Pioniere theoretisierten über künstliche Intelligenz. Nichts war unmöglich, Future das Zauberwort, two thousand die magische Zahl. Die Menschheit der Sechzigerjahre – oder zumindest ihr industrialisierter Teil – war infiziert vom Fortschrittsfieber und verschlang begierig alles, was es über Technik und Innovation zu lesen bekam.
1967 wagte sich der Systemtheoretiker an ein Buch, in dem er über die Welt im Jahr 2000 spekulierte. Bald hatte das kapitänsbärtige intellektuelle Schwergewicht – das auf dem Gipfel des Kalten Kriegs eiskalt berechnet hatte, wie Amerika einen Atomkrieg führen und überleben könnte – sein neues Etikett weg: „Futurologist“. Und Kahn, Stanley Kubricks Bomben liebender Doktor Seltsam, füllte sie wahrlich aus, die Rolle des Propheten einer von stetem Fortschritt vergoldeten Zukunft. Das Publikum war sehr empfänglich für die Verheißungen des Gelehrten, lasen sie sich doch sehr viel angenehmer als die düsteren Szenarien des Club-of-Rome-Vordenkers Dennis Meadows.
Mittlerweile ist das Jahr 2000 Vergangenheit, und man sollte annehmen, die Menschheit sei ein wenig klüger, gelassener, nüchterner geworden. Schließlich ist es weder so schlimm gekommen, wie Meadows dies in den „Grenzen des Wachstums“ prophezeit hatte, noch ist die Kahn’sche Zukunft je Gegenwart geworden. An der Vorhersage der Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts ist der vermeintlich klügste Kopf der Welt gescheitert: Hätte er Recht behalten, würden uns schon seit 15 Jahren Serviceroboter mit dem IQ eines Nobelpreisträgers im Haushalt helfen; herausgekommen sind sündhaft teure autonome Akku-Staubsauger, die wegen ihres runden Gehäuses nicht in die Ecken kommen. Wir würden Wissen zwar nicht mit Löffeln essen, aber in Pillenform einnehmen, und unsere Träume könnten wir selber programmieren.
Que sera, sera?
Wenn aber selbst Superhirne der Breite und Tiefe des relevanten Wissens nicht gewachsen sind: Müssten sich einsichtige Menschen dann nicht damit abfinden, dass Kahns Generationsgenossin Doris Day völlig Recht hatte, als sie ihren neugierigen Film-Kindern beruhigend vorsang, „que sera, sera, whatever will be, will be“? Wohl nicht, denn nach dem Ableben des prominenten Futurologen – der auch die fatalen Folgen seines eklatanten Übergewichts falsch taxiert hatte – kam die Vorhersageindustrie erst richtig in Schwung. Je mehr die Natur- und Sozialwissenschaftler über bislang ignorierte Wirkungsketten zu Tage förderten, desto dringender verlangten Firmenchefs und Politiker nach Prognosen, auf die sie sich bei ihren Entscheidungen stützen konnten. Den Lauf der Dinge abzuwarten und sich einfach in sein Schicksal zu fügen, ist für „Entscheider“ nun einmal keine Option.
So verdienen heute Heerscharen von Kahn-Epigonen ihr Geld damit, dass verunsicherte Auftraggeber ihnen eine Mixtur aus überragender Fachkompetenz und hellseherischer Gabe zuschreiben. Sie selbst nennen ihre Arbeit Forschung und sitzen in Unternehmen, die als „Institute“ firmieren. Sie denken sich mehr oder minder komplexe Modelle aus, setzen Hypothesen und multiplizieren selbst ermittelte Faktoren mit dem Status quo. Ihr Wort hat Gewicht: Kaum ein hochwertiges Produkt wird produziert, ohne dass Marktforscher eine Vorhersage über die verkäufliche Stückzahl abgeliefert hätten. Das Bedürfnis nach Zahlen und Expertisen ist, scheint es, so ungebrochen wie die Bereitschaft, seinem Auftragspropheten zu vertrauen, der einem ein hohes Maß an „Planungssicherheit“ verspricht.
Prognosen und Sicherheit – ein Widerspruch in sich
Der Haken an der Sache: So wie das ABS-lose Auto bei einer Vollbremsung nicht mehr auf die Lenkung reagiert, garantiert der Versuch, sich mit Gewalt hundertprozentige Sicherheit zu verschaffen, lediglich eines: null Prozent Fortschritt. Um voranzukommen – und einen Crash zu vermeiden – muss man schon die Bremse lockern. Aber wohin soll man steuern? Es ist paradox: Wir wollen die Zukunft kennen, um sie nach unseren Wünschen zu verändern. Ängstlich richten wir vor der Bundestagswahl unsere Augen auf die Wahlumfragen – und zwingen dadurch letztlich die Politiker in Koalitionen, die weder sie noch wir uns gewünscht haben. Denn je stärker wir unser Verhalten auf Basis der Prognose ändern, desto weiter entfernt sich die Realität von der antizipierten Zukunft.
Obwohl nicht viel dazugehört, zu dieser ernüchternden Erkenntnis zu gelangen, finden absurd deterministische Prognosen immer noch ihren Markt: Fachzeitschriften drucken ohne Bedenken Fünfjahresprognosen, in denen Marktforscher den Absatz bestimmter Produkte in absoluten Zahlen vorhersagen – ohne Fehlermarge. Die Chuzpe mancher IT-Auguren ging zeitweise so weit, dass sie sich sogar die Mühe sparten, ihre abenteuerlichen Zahlen wenigstens zu runden, um zu kaschieren, dass sie lediglich in einer Excel-Tabelle den Status quo mit einer Pi-mal-Daumen-Wachstumsrate multipliziert hatten.
Nun mal langsam mit den jungen Technologien
Wer seine Abwehrkräfte gegen Prognosen aus der High-Tech-Branche stärken will, braucht nur den „Zukunftskatalog“ von Malcolm Abrams und Harriet Bernstein durchzublättern. In dem 1989 erschienenen Buch lassen sich die amerikanischen Autoren auf gut 400 Seiten über „250 sensationelle, neue, praktische, zeitbringende, reizvolle, aus, „die Sie noch vor dem Jahr 2000 kaufen können“. Stolz verweist das Duo auf die Zuarbeit des Media Lab am Massachusetts Institute of Technology, der NASA und diverser Unis von Princeton bis Stanford. Binnen der ersten zwei Jahre nach Erscheinen ihres Werks – also bis 1991 – erwarteten Abrams und Bernstein…
| das elektronische Buch, das als Rocket E-Book 1996 zum Gespött der Öffentlichkeit wurde,
| das Haustürschloss VoiceKey mit Stimmerkennung, das bis Juni 2005 auf sich warten ließ,
| das auf die Windschutzscheibe projizierte virtuelle Armaturenbrett (beim 5er BMW seit 2004 als Option),
| schließlich das Senkrechtstarter-Flugauto „Moller Skycar M400“: Das knattrige Fliewatüüt, das längst die Verkehrsprobleme der großstädtischen Neureichen hätte lösen sollen, wartet bis heute auf seine Verkehrszulassung wie Wladimir und Estragon auf Godot.
Nicht viel besser war die Trefferquote beim hochauflösenden Fernsehen (HDTV, wird statt 1994 zur Fußball-WM 2006 Realität), bei TV-Flachbildschirmen (um zehn Jahre verschätzt) und bei der Selbstbedienungskasse für den Supermarkt, die – sieht man von Pilotprojekten ab – seit 1995 überfällig ist.
Der Realitäts-Check lässt sich fast beliebig fortsetzen. Wer hätte Anfang der Neunzigerjahre geglaubt, dass auch Anfang 2006 noch alle Radiosender analoge UKW-Signale ausstrahlen und nicht das digitale DAB? Wer hat kommen sehen, dass die Mobilfunk-Firmen eines Tages das meiste Geld mit SMS-Kurznachrichten und Klingeltönen verdienen würden und dass UMTS zum Milliardengrab werden würde? Wer in der Musikindustrie hatte die Phantasie, sich Herausforderungen wie Napster, Kazaa und iTunes auszumalen? Und, und, und.
Dass immer wieder viel Geld in die falschen Dinge investiert wurde, hängt wenigstens partiell damit zusammen, dass sich Entscheider auf die „Auguren“ verlassen haben – ein Wort, dessen verräterische Bedeutung den wenigsten bewusst ist: Im alten Rom versuchte diese Spielart der Wahrsager am Flug der Vögel die Zukunft abzulesen. Wer anno 2000 seinen Verstand benutzte, konnte sich ausrechnen, dass mit UMTS nicht so viel zusätzlicher Umsatz zu erzielen sein würde, dass nach Ablieferung milliardenschwerer Lizenzgebühren noch ein nennenswerter Return on Investment verbliebe. Doch die euphorischen Visionen einer Anytime-anywhere-online-Zukunft trieben die Chefs der Netzbetreiber bei der Auktion der Frequenzen in einen schier grenzenlosen 3-2-1-meins-Wahn. Dass ein paar preiswerte WLAN-Hotspots an den richtigen Stellen dem tatsächlichen Bedarf vielleicht viel besser gerecht würden, hatte in ihrer Vorstellungswelt keinen Platz.
Die Zukunft war absehbar, allein das Datum offen
Auch wenn sich viele Menschen schwer tun, die Unschärfe im Wesen der Prognose zu akzeptieren: Die intensive Auseinandersetzung mit der ungewissen Zukunft motiviert Menschen, Entwicklungen weiter voranzutreiben, zu verhindern oder eine Alternative zu suchen. Genau das – und nicht die möglichst realitätsgetreue und zeitlich treffsichere Vorwegnahme künftiger Entwicklungen – könnte denn auch die wahre Daseinsberechtigung der Futurologie sein. Das gilt im Mikrokosmos einer Firma, die Marktchancen bewerten will, genauso wie im Makrokosmos der Gesellschaft. Ob und wann Wirbelsturm oder Erdbeben eine Großstadt unbewohnbar macht, kann niemand vorhersehen. Aber was mit New Orleans geschehen würde, wenn das wild gewordene Klima denn tatsächlich an dieser Stelle zuschlägt, hatten Forscher in ihren Computern realistisch simuliert, bevor Katrina die Stadt unter Wasser setzte. Die Zukunft war absehbar, allein das Datum war offen.
Das Traurige ist, dass die Warnungen das Bewusstsein der Öffentlichkeit erst erreichten, als alles zu spät war. Auch in der Mediengesellschaft haben die Kassandras eben keinen leichten Stand. Vielleicht hätten die Katastrophenschützer das Risiko ernster genommen, wenn ein weithin anerkannter Zweckoptimist wie Herman Kahn sie aufgeschreckt hätte. Der hätte wohl ganz lapidar verkündet, angesichts des Klimawandels werde die Jazz-Metropole eher früher als später in den Fluten versinken, aber das sei natürlich noch lange nicht der Untergang der USA. Schließlich gebe es ja in diesem tollen, weiten Land noch genug Platz, um bessere, neue Städte zu bauen. Das mag zynisch klingen, aber vielleicht wäre es klüger gewesen, als bis zum Tag der Katastrophe so zu tun, als könne alles weitergehen wie bisher.
Wie man es auch dreht und wendet: Wie die Zukunft wirklich aussieht, erkennen wir immer erst dann, wenn sie schon wieder Vergangenheit ist. Das geeignete Instrument, mit dem wir nach vorne blicken können, bleibt deshalb ein wacher und offener Geist. Kahns Maxime aus dem Kalten Krieg ist insofern auch heute nicht falsch: „Denke das Undenkbare.“
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