Im Future Store in Rheinberg testet die METRO Group technologische Innovationen für den Handel von morgen – unter realen Bedingungen
Auf den ersten Blick ist der Future Store ein ganz normaler Supermarkt: Hier tätigen Kunden aus Rheinberg, einer Kleinstadt bei Duisburg, ihren alltäglichen Einkauf – ob Hausfrauen mit Kindern oder das ältere Ehepaar von nebenan. Von Laboratmosphäre keine Spur. Doch der Extra-Markt der Metro Group hat es in sich. Das fällt schon im Eingangsbereich auf: In der Nische neben der Information sind keine Schließfächer untergebracht, sondern Ladestationen mit Dutzenden tragbarer Touchscreen-Computer. Über den Stirnseiten der Gondeln preisen keine Papp-Plakate die Sonderangebote an, sondern Flachbildschirme; an den Regalen zeigen elektronische Etiketten den aktuellen Preis an. Wer durch die Gänge streift, passiert immer wieder Infoterminals, die ihn als elektronische Wegweiser zu den gesuchten Waren leiten und zahlreiche Produktinformationen sowie Zubereitungstipps anbieten. Verblüffend die Obstwaage: Noch bevor sich der Kunde fragen kann, wo denn hier wohl die Tasten mit den bunten Bildchen versteckt sind, hat sie per Kameraauge seine Chiquitas erkannt und zeigt ihm auf dem LCD-Farbdisplay ein Bilderbuch-Bananen-Foto mit Gewicht und Preis. Ist ihm die Kassenschlange zu lang, kann er die Ware auch selbst einscannen und seine Euros in den Münztrichter einer der kassiererinnenlosen Kassen werfen.
Dass die Metro Group für ihren Future Store eine bestehende Filiale wie diese gewählt hat, ist kein Zufall. Rheinberg, die kleine Claudia-Schiffer-Stadt am linken Niederrhein, ist die perfekte deutsche Normalität. Was hier funktioniert, wird auch andernorts funktionieren. In Rheinberg arbeitet die Metro Group an ihrem Ziel, das Vorstandsmitglied und CIO Zygmunt Mierdorf so beschreibt: Optimierte Geschäftsprozesse zu überschaubaren Kosten, ohne die Kunden zu überfordern.
Die Metro hat sich als Vorreiter in einem Wirtschaftszweig positioniert, über den Unternehmensberater noch Mitte der Neunzigerjahre geraunt hatten, er verschlafe gerade seine Zukunft. Dass auch heute noch ein großer Nachholbedarfbesteht, ist kein Geheimnis: Immer wieder entdecken Verbraucher überlagerte Lebensmittel im Regal. Oder sie erleben, dass der Verkäufer das gewünschte Produkt zwar in der Bestandsführung im Computer findet, nicht aber im Regal oder im Lager.
RFID IST EIN LANGFRISTIGES THEMA
Darum will Metro-Manager Mierdorf die Prozesse bei allen Vertriebsmarken der Gruppe – wie Kaufhof, Media Markt, Saturn, Extra, Real, Metro Cash & Carry – darauf trimmen, dass „Out-of-Stock-Situationen“ vermieden werden: „Den Kunden interessiert vor allem, dass er die Ware, die er gern kaufen würde, genau zu dem Zeitpunkt und zum richtigen Preis im Markt fIndet.“ Alles, was dabei hilft, ist für ihn interessant: vom multifunktionalen Handheld-Computer über sichtbare Verkäufer bis hin zur RFID-Technologie. Diese Funkchips sind für Mierdorf allerdings ein Langfristthema: Zehn Jahre werde es mindestens dauern, bis die kleinen Transponder so billig werden, dass sie auf breiter Ebene an allen Artikeln angebracht werden können. Bis dahin verspricht sich der CIO vor allem Vorteile in Logistik und Lagerhaltung. Bei Massenware arbeitet der Future Store schon heute mit RFID-kodierten Paletten; künftig soll zumindest jedes einzelne Gebinde auf der Palette identifizierbar sein. Mierdorfs übergeordnetes Ziel ist es, mehr Transparenz in die gesamte Lieferkette zu bringen, so auch durch automatisierte Bestellsysteme, die permanent Soll- und Ist-Bestand abgleichen: „Der Lieferant bekommt dann zu jeder Tageszeit von unseren 1700 Märkten realtime seine Abverkaufszahlen.“
Solche Trends sind auch der Grund dafür, dass die Metro die Industrie mit ins Boot geholt hat: Der Future Store ist als permanente Innovationsplattform konzipiert, auf der auch IT-Firmen wie IBM oder Konsumgüteranbieter wie Procter & Gamble die Reaktionen realer Kunden auf ihre Ideen testen können. Dabei finden alle Experimente auf offener Bühne statt; der Pionier Metro macht vor seiner Konkurrenz kein Geheimnis daraus, woran er jeweils gerade arbeitet. So kann sich jeder Handelsmanager davon überzeugen, dass die Düsseldorfer in Rheinberg ein Konzept gefunden haben, mit dem der im Handel seit vielen Jahren diskutierte Self-Check-out tatsächlich funktioniert: Eine Kassiererin beaufsichtigt vier Zahlstationen, an denen eilige Kunden selbst die Waren einscannen und mit Bargeld oder Karte bezahlen. Hält jemand Alkohol oder Zigaretten unter den Scanner, wird sie alarmiert, damit sich Jugendliche nicht unbemerkt mit den potenziellen Suchtmitteln durchmogeln können. Die Selbstbedienung ist aber kein Muss, nur ein Angebot an die Kunden; sie können sich jederzeit auch an einer Standardkasse anstellen.
Ein Dauerthema ist außerdem die Verbesserung der Information für die Kunden – vor allem die Rückverfolgung der Herkunft von Lebensmitteln. „Durch solche Zusatzinformationen können wir in sensiblen Warengruppen wie etwa beim Fleisch das Kundenvertrauen stärken“, sagt Mierdorf. Der Verbraucher wolle sicher sein, dass die Produkte in Ordnung sind, frisch, qualitativ hochwertig, nicht belastet. Schon heute kann man einem Infoterminal zum Thema Eier abfragen, wo diese exakt herkommen, wie die Hühner gehalten und wann der Hof zuletzt kontrolliert wurde. Das Verfahren auch auf andere Lebensmittel zu übertragen, ist für das Metro-Vorstandsmitglied schon deshalb naheliegend, weil der Handel ohnehin gesetzlichen Auflagen zur Rückverfolgbarkeit nachkommen müsse, also nur Informationen für den Kunden aufbereitet werden müssten, die bereits vorliegen.
Während das noch Zukunftsmusik ist, werden die SB-Kassen wohl recht bald in normale Läden vordringen. Mittlerweile wird die Technologie bereits in rund 100 Märkten der METRO Group eingesetzt. „Die Verantwortung für den Bezahlprozess auf den Kunden zu verlagern, hat Riesenvorteile“, erklärt Mierdorf, „die Wartezeit an den Kassen wird weiter verkürzt und das Wechselgeld immer richtig herausgegeben.“ Dass sich das Einkaufen darüber hinaus in wenigen Jahren dramatisch ändern wird , hält er aber angesichts der großen Zahl von Filialen, die auf jede neue Technik erst einmal umgerüstet werden müssten, für ausgeschlossen.
„Effizienz im Prozess und Attraktivität für den Kunden“
Der Einzelhandel muss in IT investieren, weil er sonst den Wünschen der Kunden nicht gerecht wird, meint Zygmunt Mierdorf, Mitglied des Vorstands der Metro Group. Das Handelsunternehmen ist Impulsgeber für technologische Innovationen im Handel, die unter anderem im Future Store in Rheinberg erprobt werden.
„Der entscheidende Mehrwert kommt aus dem Wissen um die Prozesse„, ist CIO Zygmunt Mierdorf überzeugt. Er ist als Mitglied des Vorstands der Metro Group auch für Personal und Soziales, Logistik, Informatik, E–Business, Immobilien, Umwelt verantwortlich. Die Metro hat 2005 in 30 Ländern 55,7 Milliarden Euro erwirtschaftet und ist eines der bedeutendsten Handelsunternehmen weltweit.
Herr Mierdorf, Ihr Future Store hat vor drei Jahren viel Aufsehen erregt, weil er Innovation im Einzelhandel zum Thema machte. Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?
Wir wollen im Future Store ein Gefühl dafür bekommen, was möglich ist. So haben wir herausgefunden, dass die Berührungsängste bei den Kunden deutlich niedriger sind, als wir das erwartet hatten. Und zwar querbeet durch alle Altersgruppen. Aber neue Technologie muss vor allem einfach zu bedienen sein – wie ein iPod: Am besten, man kommt mit vier Knöpfen aus. Eine andere ganz wichtige Erkenntnis ist, dass wir Zeit brauchen, um unsere Mitarbeiter an die neuen Strukturen heranzuführen, weil sie ihre Arbeitsprozesse von Grund auf verändern müssen.
Was nehmen die Verbraucher gerne an?
Die Hauptthemen, die den Kunden wirklich bewegen, sind die Beschleunigung des Kassiervorgangs und alles, was es ihm leichter macht, die Ware zu finden. Die Selbstzahlerkassen werden daher sehr gut angenommen, die intelligente Waage, die per Kameraauge Obst und Gemüse selbsttätig erkennt. Auch die vernetzten Infoterminals kommen so gut an, dass wir sie jetzt in anderen Märkten verstärkt einsetzen werden.
Wo liegen die Hauptmotive für den Handel, in IT zu investieren? Ist es die Kostenersparnis oder eher Innovation, Image, Kundenbindung?
Es gibt zwei wesentliche Treiber: Zum einen gibt es den Versorgungskauf. Da erwartet der Kunde, dass er auf Anhieb findet, was er braucht; er will möglichst schnell durch die Kasse und wieder nach Hause fahren. Zum anderen gibt es den Erlebniseinkauf – zum Beispiel bei Mode oder Unterhaltungselektronik. Einen Flatscreen-Fernseher lässt man sich erklären, man informiert sich vorher. Beiden Einkaufssituationen muss man technologisch gerecht werden. Für die erste brauchen wir eine durchstrukturierte Supply-Chain und einen hocheffizienten, möglichst störungsfreien Prozess im Markt. Wir müssen unsere Ressourcen so einsetzen, dass sie die größte Wirkung erzielen, der Handel ist ja ein Margen-niedriges Geschäft. Also automatisieren wir lieber die administrativen Prozesse und schichten unsere Mitarbeiter um, also hin zu wirklich wertschöpfenden Tätigkeiten in der Kundenberatung und Dienstleistung.
Wenn wir im Warenhaus eine Verkäuferin finden, die uns weiterhilft, zahlen wir nachher gerne an einem Kassenautomaten…
Wir arbeiten daran, dass wir wieder mehr Leute auf die Fläche kriegen. Andererseits wollen wir unsere Prozesse sicherer machen, indem wir sie automatisieren. Dabei ist die Datenqualität heute noch eine Herausforderung: Die Prozesse hängen manchmal, weil nachgearbeitet werden muss, weil man fehlende Informationen manuell nachtragen muss. Wir haben im Handel immer noch eine ganze Reihe von Medienbrüchen in den Prozessen. Und die müssen weg.
Im Vordergrund bei der Prozessoptimierung stehen also Produktivitätsgewinne.
Wir müssen in beide Richtungen arbeiten. EffIzienz im Prozess ist eine Grundvoraussetzung, um die Kostenposition sauber zu ziehen. Spannender ist natürlich die andere Seite: Investitionen in Attraktivität, Kundenloyalität, Kundenbindung. Etwa so etwas wie der Smart Mirror: Sie nehmen eine Haarcoloration aus dem Kosmetikregal, das Gerät scannt Ihr Gesicht und zeigt Ihnen, wie Sie damit aussehen würden. Das sind emotionale Sachen, bei denen die Technik ein wichtiger Faktor ist. Wenn wir von Prozessoptimierung sprechen, reden wir allerdings auch noch über Dinge, die nicht direkt mit dem operativen Handelsgeschäft zu tun haben…
Und zwar?
Corporate Governance und Compliance: Wie stellen wir sicher, dass unsere Prozesse so sauber strukturiert und dokumentiert sind, dass wir im Fall des Falles nachweisen können, dass die Entscheidungswege eingehalten worden sind, dass es ein dokumentiertes Regelwerk gibt, das Organisationsversagen und Einzelfehler ausschließt? Das Management ist den Investoren gegenüber dafür verantwortlich, Sicherheitsstrukturen einzuziehen, also für risikofreie Prozesse zu sorgen. Hierfür benötigen wir ein systematisches Business Process Management, an dem wir jetzt mit IDS Scheer zusammen arbeiten.
Prozessmanagement ist bei der METRO Group Ihre Sache als CIO?
Wir baben uns die Verantwortung aufgeteilt. Was die Systeme betrifft, ist das Thema bei mir aufgehängt, die Verantwortung für das Risikomanagement liegt beim Finanzchef. Derjenige, der die Systeme mitverantwortet, darf sich ja nicht selbst kontrollieren, darum gilt das Vier-Augen-Prinzip.
Wie sehen Sie die Rolle des CIO? Die einen sagen, er müsse sich verändern zum Technologie-Beauftragten des Unternehmens, andere meinen, er müsse mehr Business-Verantwortung übernehmen und zum Chief Process Officer werden. Die Gartner Group prophezeit gar, der CIO werde über kurz oder lang verschwinden.
Ich bin sicher nicht der klassische CIO, weil ich neben der IT auch Fachbereiche wie Logistik, Immobilien und E-Commerce verantworte und darüber hinaus Vertriebsmarken wie Media Markt und Saturn betreue. Für mich muss ein erfolgreicher CIO auf jeden Fall das Geschäftsprinzip und die Geschäftsprozesse kennen. Es reicht nicht, dass er sich auskennt in den alten Rechenzentrumsstrukturen, also die IT-Supply Side abdeckt; er kann auch nicht nur der Organisator sein, der die Demand Side abdeckt. Er muss die gesamten Prozessabläufe in seinem Unternehmen kennen und er muss antizipieren können, welchen Einfluss sich verändernde Technologie auf die Prozesse hat und wie er dadurch seine Prozesse optimieren kann. Der ClO kümmert sich um die Prozesse, die anderen ums Front-end. Da ist der CIO grundsätzlich nicht eingebunden, es sei denn, es kommen am Point of Sale technische Fragen auf. Er hat also weder etwas mit der Sortimentsgestaltung zu tun noch mit der Kundenansprache. Aber er muss verstehen, was seine Kollegen da machen. Er muss ihnen die optimalen Systeme dafür liefern können.
Zum Beispiel?
Wir verändern gerade den kompletten Kassiervorgang, indem wir zwischen dem Scannen und dem Bezahlen trennen. So etwas kann nur entstehen aus dem Verständnis dieser Prozesse. Man muss wissen, dass das Kassieren einer der sensibelsten Prozesse im Handel ist, weil er immer in der Kritik des Kunden steht. Dem dauert es immer zu lang, aber er findet Neuerungen oft auch zu kompliziert. Der CIO muss also verstehen: Was passiert da? Wie kann ich den Prozess ändern? Und er muss gleichzeitig das Ohr am Markt haben: Welche neuen Technologien gibt es? Wie könnte ich die in unsere Prozesse einbinden? Mit den neuen Kassierautornaten, die nur für uns entwickelt werden, können wir den Prozess trennen und schaffen so eine deutliche Effizienzsteigerung am Point of Sale. Damit erfüllen wir auch ein dringendes Kundenbedürfnis. Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin muss sich nur noch ums Scannen der Ware kümmern, den Rest macht der Kunde allein. Und das ist er heute ohnehin gewohnt, vom Parkhaus oder vom Fahrkartenautomaten. Wenn der CIO keine Ahnung davon hat, welche Probleme seine Kollegen in den Märkten haben, dann kann er keine Lösung dafür anbieten.
Der Prozess ist der Motor der Veränderung?
Das Geschäftskonzept ist der Motor, aus diesem Konzept ergeben sich die Prozesse. Man muss – im Wissen um die Prozesse – ständig neue Technologien screenen: Was passt oder könnte zukünftig passen? Dabei gibt es zwei Blickrichtungen: Was hilft dem Kunden? Worüber ärgert er sich, was stört ihn am meisten? Und: Wo kann ich den Mitarbeitern helfen? Um alles andere muss sich ein CIO heute nicht mehr kümmern, weil es weitgehend standardisiert ist. Er hat Experten in seiner Mannschaft, die mit IT-Herstellern oder Netzbetreibern verhandeln. Der entscheidende Mehrwert des ClO kommt wirklich aus dem Wissen um die Prozesse.
Wo liegen für Sie derzeit die größten technischen Herausforderungen? Was wünschen Sie sich von der IT-Industrie?
Vor zwei, drei Jahren wäre das die Interoperabilität zwischen den einzelnen Herstellern gewesen. Da hat sich inzwischen extrem viel getan. Uns ist wichtig, Daten aus den Backend-Systemen verzahnen zu können, um sie einem Mitarbeiter gebündelt auf seinen Arbeitsplatz zu bringen. Letztlich sollen unsere Mitarbeiter über Single-Sign-On alle anfallenden Arbeitsprozesse erledigen können, ohne darüber nachdenken zu müssen, welche Anwendung und welche Systeme dahinter stehen.
Ihre Prognose: Wie wird sich das Einkaufen in den nächsten fünf Jahren verändern?
Das ist ein kurzer Zeitraum. Selbst das innovativste Handelsunternehmen hat ein Volumenproblern: Wir müssen 2.000 Märkte ausstatten. Ich wäre froh, wenn wir all die Ideen, die wir heute haben, in fünf Jahren ausgerollt hätten.
Interview:
Ulf J. Froitzheim und Heidrun Haug (Storymaker GmbH)
aus: Scheer Magazin Ausgabe 2/2006
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