Beim Stichwort Ästhetik denkt nicht jeder zuerst an Programmcode. Dabei haben erfahrene Software-Architektinnen und Software-Architekten einen sechsten Sinn für verborgene Schönheit. Sie erkennen mangelnde Qualität bereits an Äußerlichem: Was ihnen „hässlich“ erscheint, bewährt sich nicht.
Der Onlineshop „Modern Coder“ hat eine klare Zielgruppe: weibliche IT-Fachkräfte. Der typischen Software-Entwicklerin, die zu viel arbeitet und keine Ruhe hat für einen Einkaufsbummel, liefert der Versender kesse Klamotten frei Haus – T-Shirts und Sweatshirts in schicken Schnitten von gertenschlank bis ernährungstechnisch herausgefordert. Sich schön anzuziehen, ist für die Kundinnen aber nur ein Grund, bei „Modern Coder“ zu ordern. Der Clou an den Textilien ist der applizierte Text: „code like a girl“.
Der neofeministische One-Liner, der auch Accessoires von der Handtasche über Einkaufsbeutel und Kaffeepötte bis zum Bumper Sticker schmückt, wendet ein männliches Vorurteil gegenüber Frauen zum Vorbild: „Girl Code“, das neue Synonym für „schön“ geschriebene Programme, war ursprünglich eine Metapher mit gehässigem Unterton. Wer Code schreibt „wie ein Mädchen“, konzentriert sich nicht aufs Wesentliche, sondern glättet hier und striegelt da, bis auch das letzte Strähnchen richtig sitzt. Echte Männer haben es nicht nötig, auf die Ästhetik ihres Outputs zu achten. Sie sind effizient und pragmatisch, lassen Ecken und Kanten stehen und folgen der Devise: „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Wer da die tumben Machos aus Rich Tennants genialem Cartoon-Klassiker „Real Programmers“ vor Augen hat, ist also im richtigen Film.
Kunst oder Handwerk?
Der Antagonismus zwischen weiblichen und männlichen IT-Profis, den das Schlagwort insinuiert, entspringt indes billiger Polemik. Nüchtern betrachtet, dreht sich der Diskurs um die Grundsatzfrage, ob in der Software-Entwicklung wirklich nur das Ergebnis zählt (das System funktioniert – irgendwie jedenfalls) oder auch das Aussehen, die Art und Weise, wie dieses Ergebnis erzielt wurde. Die relevanten Gegensatzpaare sind aus anderen Sphären des Lebens wie Architektur oder Literatur geläufig: Handwerk und Kunst, Regeln und Intuition, Pragmatismus und Perfektionismus. „Girl Code“ ist lediglich der Katalysator, der den Streit aufs Neue befeuert. Richtig ins Rollen kam die Debatte über das Yin und Yang in der Softwareproduktion im März 2006.
Auslöser war – wie so oft in Web-2.0-Zeiten – kein prominenter Vordenker, sondern ganz grassrootsmäßig ein Mann von der Basis. Der Entwickler, der sich Morten nannte, klagte im Blog 37signals.com, er sei von einem männlichen Artgenossen des Schreibens von „Girl Code“ bezichtigt worden, weil er zu viel Zeit darauf verwende, dass sein Code gut aussehe. Zu diesem Coming-out ermutigt hatte ihn ein Posting des Bloggers Jamis Buck, in dem sich dieser als Perfektionist mit Faible für „schönen“ Code geoutet hatte. Tage später bemächtigte sich eine ungleich prominentere Frau des Themas: die Bestseller-Autorin Kathy Sierra („Head First“, O’Reilly Books). In ihrem bei amerikanischen IT-Leuten populären Blog creating passionate users kommt die Debatte über die ganz eigene Ästhetik des immateriellen Guts Software und deren Bewertung seither nicht zur Ruhe.
Die Poesie der Programme
Wer sich auf das Thema erst einmal einlässt, den lässt es so schnell nicht mehr los. Lange vor dem Scharmützel in der Blogosphäre philosophierten helle Köpfe bereits über die Bedeutung der Kreativität für die vermeintlich reine Ingenieurwissenschaft Informatik, über Parallelen zwischen Software-Architektur und Städtebau, über Schönheit als Qualitätsmerkmal und – ja, tatsächlich! – über die Poesie, die den Programmen grundsätzlich innewohne. Es sind keineswegs nur weltfremde Theoretiker, die sich über solche Fragen einen Kopf machen. Hinter dem vieldiskutierten Gedankenkonstrukt der „Poetry of Programming“ steht beispielsweise der promovierte Informatiker, Lisp-Veteran und Open-Source-Pionier Richard P. Gabriel. Der Kalifornier, der lange als „Distinguished Engineer“ bei Sun Microsystems wirkte und Anfang 2007 zu IBM Research wechselte, gilt als Vordenker einer effizienteren Software-Entwicklung. Mit einem Fachbuch gewann er bei den renommierten Jolt Awards sogar einen „Productivity Award“. Dass ausgerechnet ein ausgewiesener Rationalist wie er Parallelen zwischen dem Schreiben von Gedichten und dem von Softwarecode entdeckte, ist kein Widerspruch: Gabriel hat in den Neunzigerjahren ein Zweitstudium im Fach „Creative Writing“ absolviert und darf seither den Titel „Master of Fine Arts“ tragen.
Der „Meister der schönen Künste“, der nach eigenen Angaben jeden Tag ein Gedicht verfasst, ist davon überzeugt, dass die Kreation von Softwarecode weniger eine mechanistische Ingenieurtätigkeit denn künstlerische Herausforderung ist – freilich ausgehend von der Prämisse, dass man Fertigkeiten in dieser Kunst erlernen und systematisch perfektionieren kann.
Bewährte Grundmuster
Lässt man einmal außer acht, dass eine streng nach allen Regeln der Kunst getextete Ode durchaus öde oder sogar purer Nonsens sein kann, ist Richard „Dick“ Gabriels Analogie nachvollziehbar: Einem Gedicht, das schon im Versmaß holpert, wird kaum jemand applaudieren. Auch würde sich kein echter Poet für die Sorte grob zurecht gemeißelter Reime anschauen lassen, wie sie Hobby-Lyriker bei Hochzeiten zum Besten geben. Wenn sich Dichter bewährter Grundmuster wie des sechshebigen Jambus bedienen, tun sie nichts anderes als ein Projektleiter, der Ansätze des „Best Practice“ befolgt: Sie arbeiten professionell. Er strebe bei beiden Kunstrichtungen nach größtmöglicher Einfachheit, erklärte Gabriel in einem Interview. „Wenn ich ein langes Gedicht mit sehr vielen Strophen schriebe“, sagte der voll bärtige Nonkonformist, „würde ich mir überlegen: Wie passen die Stücke zusammen? Wie fügt sich ein Teil ins große Ganze ein?“
Die gleiche Harmonie postuliert er für Codezeilen, die sich einer übergeordneten Softwarearchitektur unterordnen. „Wenn Sie sich Quellcode von extrem begabten Programmierern ansehen, so steckt Schönheit darin“, findet Gabriel und vergleicht das fertige Programm mit einem Orientteppich, dessen Muster sich aus vielen kleinen, sich wiederholenden Mustern zusammensetzt. Etwas kategorischer bringt es der amerikanische Essayist und Entwickler von Programmiersprachen Paul Graham auf den Punkt: „Wenn etwas hässlich ist, kann es nicht die beste Lösung sein.“
Richard Hillesley, Kopf des softwarephilosophischen Blogs Tux Deluxe, sieht das ähnlich. „Guter Code ist pure Poesie, die elegante Darstellung der perfekten Lösung eines vorgegebenen Problems“, schreibt der britische Gabriel-Exeget, „schlechter Code ist ein undurchdringlicher Alptraum, plump in der Form und unklar im Zweck.“ Guter Code sehe sogar dann gut aus, wenn man gar nicht wisse, zu welchem Zweck er geschrieben sei, behauptet Hillesley, und stellt sich hinter eine Idee des Meisters, mit der dieser die Informatiker-Ausbildung stärker auf Kreativität ausrichten möchte: Wie in klassischen künstlerischen Disziplinen üblich, sollten sich künftige „Masters of Software Arts“ (MSA) mit dem Leben und Werk der Großen ihres Fachs befassen, um so deren Arbeitsweise nachvollziehen zu können. Eine Uni, die einen solchen Studiengang planen würde, gibt es bisher allerdings nicht.
Nützlich, schön und standfest
Während sich die akademische Informatik mit Konzepten schwertut, die auf eine Abkehr vom Berufsbild des Software-Ingenieurs hinauszulaufen drohen, trifft die Analogie zur klassischen Architektur auf einen breiten Konsens – auch was den Aspekt „Schönheit“ betrifft. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Architekten auf ein Theoriegebäude verweisen können, das schon zwei Jahrtausende überstanden hat und der Ästhetik eine zentrale Rolle zuweist. Im letzten vorchristlichen Jahrhundert hatte der Baumeister und Schriftsteller Vitruvius die Anforderungen an seine Zunft im Dreiklang „utilitas, venustas, firmitas“ verdichtet: Bauwerke sollten in erster Linie nützlich sein, dabei aber auch schön und natürlich standfest. Die Beurteilung, was als schön zu gelten hatte, überliess Vitruvius nicht dem subjektiven Geschmack des Lesers; er setzte klare Maßstäbe für die Proportionen und erteilte einem Übermaß an Schnörkeln eine Absage.
Besonders engagiert sind die amerikanischen Programmierer, vor allem die Vertreter des Open-Source-Gedankens. So warnt der Forenbetreiber und Blogger Paul Scrivens seine Mitstreiter davor, mit hässlichen Elaboraten an die Öffentlichkeit zu gehen: „Du kannst noch so eine tolle Idee haben, wenn Dein Code eine Katastrophe ist und das Design furchtbar, wird das Interesse sehr, sehr schnell sterben.“ Für den programmierenden Essayisten Paul Graham ist das unaufhörliche Streben nach Schönerem schlechthin die Triebfeder des Fortschritts: „Gäbe es keine Schönheit, könnte niemand in seinem Job besser werden.“ Wie es scheint, ist der einst verschriene Girl Code wirklich auf dem Vormarsch – adrett, frisch gekämmt und ohne schmutzige Geheimnisse.
Schlechte Zeiten für raubeinige Nerds.
Erschienen 2007 in m&it – Menschen und Informationstechnik, dem Kundenmagazin des Softwarehauses sd&m AG (Cap Gemini). Auch wenn sich Elemente dieses Textes in einem 2008 unter dem Namen eines sd&m-Managers veröffentlichten Beitrag in der „Zeit“ wiederfinden: Dies hier ist das Original – und 100 % von mir.
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