Sensoren im Futter, Computer im Ärmel, Ohrstöpsel am Kragen – die Textilindustrie arbeitet an der Verschmelzung von Stoff und Elektronik. Doch damit den Markt zu erobern ist mühsam.
Warum bloß ist das Prädikat „Hidden Champion“ in Deutschland immer wörtlich zu nehmen? Auch die Garnschmiede Novonic am Hightech-Standort Weiler-Simmerberg ist ohne Navi kaum zu finden: Besser als an diesem beschaulichen Flecken in Bayerns Südwesten – dem Schweizer Kanton Appenzell-Ausserrhoden nicht nur geografisch näher als der Fashion-Metropole München – kann sich im Freistaat kein Betrieb verstecken.
Dabei hat das Unternehmen, zu dem Novonic gehört – die Garnfabrik W. Zimmermann –, keinen Grund, mit seinen technischen Errungenschaften hinter dem Berg zu halten, im Gegenteil. Die Firma ist vor Jahren den Schritt gegangen, den viele ihrer traditionellen Abnehmer aus der Bekleidungsindustrie noch scheuen: hin zu innovativen Funktionstextilien, die der unter Preisdruck ächzenden Branche Wachstumsimpulse und eine höhere Wertschöpfung versprechen. Wenn es um leitfähige Garne geht, mit deren Hilfe sich elektronisch veredelte Kleidung herstellen lässt, ist der einst nur als Socken- und Stützstrumpfspezialist bekannte Hersteller ein international respektierter Pionier.
Das große Geld verdienen die Westallgäuer noch nicht im High-Tex-Markt. Sie haben nur beizeiten die Claims abgesteckt für ein Geschäft, dessen wirtschaftliche Bedeutung dem seinetwegen veranstalteten Medienrummel um Jahre hinterherhinkt. „Wearable Electronics“ oder „Smart Fabrics“ sind nämlich ein Paradebeispiel für Probleme, die auftreten, wenn zwei Technikbereiche verheiratet werden, die so gar nichts gemeinsam haben – weder bei den Innovationszyklen noch in der Produktion, weder in der Kalkulation noch in den Vermarktungsgepflogenheiten. Es ist ein Zukunftsmarkt in der Möglichkeitsform, mit zig Produktideen von bodenständig bis exaltiert, genährt aus nationalen und europäischen F&E-Förderprogrammen: Feuerwehrleute, Wartungstechniker und Soldaten sollen in leichten Sicherheitsanzügen mit integrierter Kommunikationstechnik beweglicher werden als in heutigen Monturen, bei denen „Heavy Duty“ vor allem „heavy“ heißt.
Leitende Fasern könnten die Bekämpfung von Krebs unterstützen
Mit Sensoren ausgerüstete Stoffe sollen dereinst helfen, Babys vor dem plötzlichen Kindstod zu retten und den Gesundheitszustand von Senioren und Risikopatienten komfortabler zu überwachen, bei sinkendem Bedarf an Betreuungspersonal. Sogar in der Therapie einer Krebsvorstufe könnten leitende Fasern bald hilfreich sein: Das Schweizer Materialforschungsinstitut Empa hat ein Leuchttextil für die fotodynamische Behandlung von krankhaften Veränderungen der Mundschleimhaut (Leukoplakie) entwickelt. Die textile Oberfläche des mundgerechten Pads streut das per Glasfaser angelieferte Licht eines Lasers; dadurch wird ein lichtempfindliches Medikament aktiviert, das sich selektiv im betroffenen Gewebe anreichert und die kranken Zellen quasi von innen heraus vergiftet.
Um die lang ersehnte Killerapplikation im klassischen Sinn handelt es sich dabei freilich nicht. Vor zwei oder drei Jahren hatte es immerhin so ausgesehen, als sei ein Einsatzgebiet gefunden, das den elastischen Leitern den ersten lukrativen Massenmarkt verschafft: Diverse Bekleidungshersteller integrierten Schnittstellen für Lifestyle-Elektronik in Sport jacken. Die textile iPod-Fernbedienung im linken Ärmel wurde gefeiert als dernier cri für betuchte Wintersportler. Am Ende blieben die Fachhändler auf der Edelware sitzen, die – wie Uwe Möhring vom Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland (TITV) in Greiz meint – womöglich eher im Media Markt ihr Publikum gefunden hätte.
Statt den Markt zu machen, sortiert der Handel neue Ideen aus. Wer bei Sport Scheck in München nach dem NavJacket von O’Neill fragt, einem 1200-Euro-Anorak mit Navi und Ärmeldisplay für Snowboard-Freaks, wird zu den Kollegen von otto.de verwiesen. Das Web war auch Endstation für die einst mit großem Medienhype lancierte Rosner-Jacke „touch mp3blue“, mit Touch Panel am Ärmel, integrierten Ohrstöpseln im Kragen und Handy-Freisprecheinrichtung im Revers.
Für Harald Merk, der bei Zimmermann mit Unterstützung der Regensburger Firma Rent-a-Scientist die Sparte Novonic aufgebaut hat, ist das Thema MP3 eh durch – nicht nur wegen der im Vergleich zur Unterhaltungselektronik extremen Vorlaufzeiten der Modeproduzenten. „Der Elektronikanteil ist zu hoch“, sagt der Bereichsleiter. Die interessantesten Anwendungen liegen für ihn da, wo ein Großteil der Wertschöpfung nicht aus zugekauften Bauelementen resultiert, sondern auf seinen 2006 mit dem Bayerischen Innovationspreis ausgezeichneten dehnbaren Leitfäden – wie in der Strahlenschutz-Handytasche „E-Blocker“ oder in heizbaren Textilien. Zusammen mit dem Starnberger Ingenieurbüro Interactive Wear (siehe TR 1/2008) hat das achtköpfige Novonic-Team damals für Bogner einen per Akku beheizten Skihandschuh maßgeschneidert. Das neueste Produkt ist eine Skijacke der Marke Rossignol, in der die Damen in der Liftschlange nicht mehr bibbern müssen – dafür tragen sie eine Batterie mit sich herum, die so viel wiegt wie zwei Handys.
Harald Merks interdisziplinäres Team aus Textil- und Elektroexperten hat sich bereits eine Reihe von weiteren Zielgruppen und Einsatzgebieten ausgeguckt. Die aus Lithium-Ionen-Akkus gespeisten aktiven Nierenwärmer könnten auch Zuschauer von Wintersportveranstaltungen, Jäger, Angler oder Staplerfahrer interessieren. In Serie geht zunächst ein molliger Beinsack für Rollstuhlfahrer; um den Vertrieb will sich die Münchner Stiftung Pfennigparade kümmern.
Eng kalkuliert
Fertigungstechnisch haben die Schwaben alles im Griff. Das Garn wird in der Spinnerei auf modifizierten Maschinen spiralförmig mit metallischen Fäden umwickelt, hierfür stehen je nach Einsatzzweck verschiedene Legierungen zur Verfügung. Zum Einweben der haarfeinen Stretch-Drähte und für die Weiterverarbeitung brauchen die Textilfabriken keine neuen Maschinen. „Die elektrischen Verbindungen werden einfach durch Vernähen hergestellt“, sagt Merk. Die Kontakte der elastischen Litze zum Akku-Adapter und zum Heiz-Pad seien bruch- und knickfest – im Gegensatz zu den konventionellen Methoden, dem Löten oder Quetschverbinden.
Doch es gibt einen Haken: Es kann sein, dass die Verarbeitungsgeschwindigkeit leicht gedrosselt werden muss und somit die Produktivität sinkt. Und das ist nicht unproblematisch in einer Branche, die auf hohen Durchsatz gepolt ist. Vom Ladenpreis kommen nämlich nur 20 Prozent beim Produzenten an; der Handel verlangt hohe Bruttomargen, weil er beim Abverkauf am Saisonende nicht draufzahlen will. „Die Bekleidungsindustrie baut gern Zusatzfunktionen ein, bleibt aber bei ihrer Kalkulation“, stöhnt TITV -Geschäftsführer Möhring, „sie sind auch meist nicht bereit, die Entwicklungskosten zu tragen.“
Harald Merk, der beim Skifahren selbst die Heizjacke trägt, ist dennoch optimistisch, zumal seine Kunden gehobene Preislagen bedienen: „Der Markt wird sich schon entwickeln. Das ist einfach Komfort.“ Konkurrenz, die das Geschäft beleben könnte, steht auch schon bereit – in Kalifornien. In San Francisco versucht es ein Start-up aus dem Umfeld der Stanford University mit einem modularen Ansatz, der das Kalkulationsdilemma umschiffen könnte. Die Firma Ardica testet mit Bergwacht- Leuten in den Rocky Mountains Skijacken mit heizbarem Futter und standardisierten, austauschbaren, flexiblen Großflächenakkus. Die muss man nicht wegwerfen, wenn die Jacke verschlissen oder aus der Mode ist, denn die Firma will eine ganze Reihe von Kleiderherstellern dazu bringen, kompatible Produkte zu entwickeln, in die sich die Akkus wechselweise ebenfalls einsetzen lassen – so wie Computer mit Intel-Logo verkauft werden, tragen die Kleidungsstücke dann ein Label „Ardica enabled“. Die ersten sind in den USA bereits im Handel.
Technisch anspruchsvoller als die künftig thermostatgesteuerte „Zentralheizung zum Anziehen“ (Novonic-Spruch) sind allerdings Anwendungen, die textile Leiter als Datenbahnen nutzen – etwa im Gesundheitsmonitoring. An der RWTH Aachen entstand beispielsweise im Rahmen des Forschungsprojekts „NutriWear“ eine Sensorwäsche für alte Menschen. Sie schlägt Alarm, wenn die spektroskopische Bioimpedanz-Messung ergibt, dass der Patient zu wenig trinkt: Bei drohender Austrocknung des Körpers verändert sich der elektrische Widerstand der Haut signifikant, die Sensoren erkennen dies. Und das Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV) in Denkendorf bei Stuttgart hat ein Babyleibchen entwickelt, das eines Tages in Entbindungsstationen die Vitalfunktionen Neugeborener überwachen könnte, ohne dass die Kinder mit Elektroden malträtiert werden müssten.
Gleich nach der Zuverlässigkeit der Technik rangiert bei solchen Projekten die Waschbeständigkeit der Sensorik, der Leiter und Kontakte, denn die Kostenrechner im Gesundheitswesen fragen als Erstes nach der Lebensdauer der teuren Spezialstrampier: Im Gegensatz zur Skijacke kommt Krankenhauswäsche nach einem Tag in die Waschmaschine, und sie muss 60 Grad und Vollwaschmittel ebenso aushalten wie Schweiß oder Urin. Dass eine integrierte Elektrode verschlissen ist, darf bei Systemen, von denen das Leben des Patienten abhängen kann, nicht erst im Einsatz auffallen. Die Wäsche muss also regelmäßig auf Funktionsfähigkeit inspiziert werden. Erschwerend kommt hinzu: Sobald Sensoren im Spiel sind, wird auch die Integration in den Stoff sowie die Kontaktierung aufwendiger. Mit Aufnähen ist es dann nicht mehr getan, die Schaltungen müssen aufgestickt oder auflaminiert werden – damit wird das Produkt wiederum empfindlicher.
Das Problem ist bekannt von den ersten Produkten dieses Genres, den Pulsfühler-BHs und -Trainingshemden der US-Marke NuMetrex. Schon nach 80 bis 100 Waschzyklen, so die Herstellerfirma kleinlaut auf der FAQ-Seite ihrer Website, beginnt der „Heart Rate Monitor Sports Bra“ zu schwächeln.
Die Pioniere sind dennoch guten Mutes. Sie sehen die nächsten Fortschritte vor allem bei der Berufskleidung, für die das Geschäftsmodell der Modebranche nicht gilt – etwa beim Einbau einer virtuellen „Rettungsleine“, die Feuerwehrleute im Einsatz schützen soll: In die Schutzanzüge eingewirkte Messfühler halten nach diesem Konzept den Einsatzleiter automatisch per Funk darüber auf dem Laufenden, wo genau sich seine Leute aufhaltenund ob sie sich in einer bedrohlichen Lage befinden.
Der andere große Hoffnungsmarkt verbirgt sich hinter dem Schlagwort „Ambient Assisted Living“ (AAL), einer Art betreutes Wohnen mit elektronischen Aufpassern. Zielgruppe sind chronisch Kranke, Risikopatienten und alte Menschen, die sicherer leben möchten. Das Start-up Future-Shape aus Höhenkirchen bei München kann beispielsweise mit dem Teppichunterleger „SensFloor“ feststellen, was sich im Raum bewegt, ob also die Altenheimbewohnerin etwa gestürzt ist. Das Spezialgewebe ist ausgereift, die Kunst liegt nun in der Software, die unterschiedliche Signale deuten muss, damit zum Beispiel Haustiere und krabbelnde Enkelkinder keinen Fehlalarm auslösen. Auch da sieht sich Gründerin Christl Lauterbach auf dem richtigen Weg: „Ich habe schon mit meinem Kater erfolgreich einen Tierversuch gemacht.“
Erschienen in der Technology Review 1/2009
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