Ein Selbstverteidigungskurs

Beim Kampf gegen die Rezession muss sich jeder Einzelne bewegen.

Kollegenschelte kann verdienstvoll sein und Erbsenzählerei erhellend. Der BerlinerJournalist Oliver Gehrs, Erfinder eines Magazins mit dem ironisch-tiefstaplerischen Titel „Dummy“, hat sich den morbiden Spaß gemacht, in Deutschlands Intelligenzblättern die Referenzen auf den bevorstehenden wirtschaftlichen Untergang zu zählen. „Von Mitte Juli bis Mitte November“, zog Gehrs im Medium-Magazin seine Zwischenbilanz eines publizistischen Höllenritts, „erschien das Wort Rezession allein in der Süddeutschen Zeitung in 399 (verschiedenen!) Artikeln, bei der Welt sah es mit rund 300-maliger Nennung des Wortes Rezession ähnlich schlimm aus, den Vogel schoss die FAZ mit über 500 Rezessionen ab.“ Des leidenschaftlichen Nestbeschmutzers genüsslich ausgewalzte Diagnose lässt sich zu einem Satz komprimieren: Im Glauben, beim Löschen zu helfen, gossen die Kollegen aller Ressorts barrelweise Öl ins Feuer.

 

Das Bild des schockstarren Gaffers, der sich statt des Handfeuerlöschers leider den Dieselkanister gegriffen hat, drängt sich nicht nur bei den Eigenleistungen der Redaktionen auf. Auch deren Zitat-Zulieferer aus der Politik, von linken Rechthabern über die Bundeskanzlerin bis zu den gefürchteten Konjunktur-Auguren, waren sehr fleißig beim Formulieren immer düstererer Prophezeiungen von ansehnlichem Selbsterfüllungspotenzial – ganz so, als würden ihnen unter Gewaltandrohung hellseherische Fähigkeiten abverlangt. Wie weggeblasen schien selbst banalstes Allgemeinwissen über psychologische Grundmuster, die unser Handeln prägen. Nicht von ungefähr hämmern uns Fahrsicherheitstrainer ein, im Angesicht einer drohenden Kollision den Blick nicht aufs Hindernis zu fixieren (instinktiv wollen wir den Angstgegner nicht aus dem Auge lassen), sondern bewusst die größte Lücke anzupeilen.

Die massenmedial potenzierte Verunsicherung, die die Brieftaschen vieler Bürger zuklappen ließ wie ängstliche Austern , ist nicht nur im notorisch larmoyanzverdächtigen Deutschland ein Problem. Das Extrembeispiel für konjunkturschädliches Krisenmanagement boten Ende letzten Jahres ausgerechnet die sonst so zukunftsfreudigen USA. Konnte irgendwer ernsthaft annehmen, solvent gebliebene Amerikaner ließen sich noch zum Kauf eines ohnehin langweiligen Pontiac, Mercury oder Dodge verführen, wenn sie täglich live im TV miterleben durften, wie ratlose, zerknirschte Bosse aus Detroit den Kongress um Hilfe anflehten? Wer Zigtausende Dollars in einen Neuwagen von unwägbarer Qualität und unkalkulierbarem Wiederverkaufswert investiert, möchte schließlich bei allem Patriotismus zumindest Gewissheit, dass Hersteller und Vertragswerkstatt die dreijährige Garantiezeit des Autos überleben. Und nicht nur drei Monate Gnadenfrist. Es dauerte eine Weile, bis aus dem Kreis der Akteure auch andere Töne an die Öffentlichkeit drangen. So regte Siemens-Chef Peter Löscher an, die Dax-30-Konzerne sollten ein Signal setzen, indem sie vorerst auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten. Klaus Zimmermann, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, postulierte sogar ein einstweiliges Schweigegelübde für seine eigene, notorisch mitteilungssüchtige Zunft: „Konjunkturprognosen haben in Zeiten wie diesen keinen Sinn, sie sind Spekulation und verschärfen die Krise.“

Die pandemische Ausbreitung finanzieller Schieflagen rund um den Erdball und quer durch alle Wirtschaftszweige wird nicht nur die Ökonomen noch lange beschäftigen. Die von Bundespräsident Horst Köhler angemahnte „systematische Ursachenanalyse auf internationaler Ebene“ bietet ein breites Betätigungsfeld für Sozialwissenschaftier aller Fachrichtungen: Politologen, Soziologen, Psychologen, Ethiker und Medienforscher werden versuchen nachzuvollziehen, wie es kommen konnte, dass mitten im angeblichen Informationszeitalter nicht nur Laien vom Wirtschaftsschrumpftum und seiner Minus-Dynamik überrascht wurden, sondern auch Regierungen und Chefs weltweit tätiger Konzerne, die sich auf große Beraterstäbe und eine Fülle von Datenmaterial stützen können. Ihre Macht, ihr Weitblick und ihr Gestaltungsspielraum, so erweist sich nun, wurden systematisch überschätzt – von ihnen selbst, aber ebenso von der selbsternannten Wissensgesellschaft, die in der Finanz- wie auch in der Realwirtschaft schon so manches Blendwerk mit Substanz verwechselte. Selbst im Krisenherbst 2008 bestaunte eine arglose Öffentlichkeit potemkinsche Fassaden. Zuerst avancierte der dänische Hochstapler Stein Bagger à la Comroad mit frei erfundenen Umsätzen zum preisgekrönten Entrepreneur, dann stürzte in New York ein wirklich imposantes Luftschloss ein: Niemand hatte den Broker und Investor Bernard Lawrence Madoff für einen Gentleman-Gangster gehalten, der 50 Milliarden Dollars einfach so verjuxt.

Mündige Konsumenten, mündige Anleger? Laut aktuellen Erkenntnissen der Meinungsforschung ist dies ein Menschenbild von gestern. Als die Horrormeldungen von den Finanzmärkten hereinbrachen, trafen sie auf ein Publikum, dessen Neugier auf Nachrichten aus Politik und Wirtschaft seit der Jahrtausendwende konstant talwärts glitt. Bei den Unter-30-Jährigen betrage das Minus jeweils acht Prozentpunkte, warnte das Institut für Demoskopie Allensbach: Nicht einmal die Hälfte der Befragten aus dieser Altersgruppe fühlte sich 2008 noch von politischen Themen angesprochen, kaum mehr als ein Drittel von wirtschaftlichen. Die Quote junger Menschen, die ein „ausgeprägtes“ Interesse an Politik bekundeten, brach binnen zehn Jahren um 24 Prozent ein, bei der Wirtschaft gar um 29 Prozent, dafür schoss der Computer um 72 Prozent in der Gunst nach oben: World of Warcraft sticht Handelsblatt und Heute-Journal.

Selbst den Interessierten, die routiniert Wirtschaftsinfos googeln, wird es nicht leicht gemacht, Fakten einzuordnen. „Kein Mensch ist in der Lage, ein Unternehmen richtig zu bewerten“, postuliert die Münchener Wirtschaftssoziologin Andrea Maurer. Die zwischengeschalteten „Vermittlungsinstanzen“ seien ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden, kritisiert die Professorin der Universität der Bundeswehr rückblickend. „Die Ratingagenturen hatten ein massives Interesse daran, bestimmte Werte überzubewerten“ , so Maurer; das vorherrschende Karrieresystem ermuntere Analysten nicht, eine kritische Haltung zu entwickeln. Auch Bankberater, Finanzjournalisten und sogar Wirtschaftswissenschaftler hätten das „ungeheure Risiko, das für einzelne Anleger im System liegt“, zu wenig thematisiert. Aus Sicht der Soziologin ist die Finanzszene ein „geschlossenes System“, dem eine angemessene Kontrollinstanz fehlt. Darum plädiert Maurer für Mut zum Anecken und für das Schleifen von Strukturen, die das Jasagertum fördern: „Unsere Gesellschaft muss lernen, Kritik zu honorieren.“

Die Entzauberung der wirtschaftlichen Elite, die der Crash nach sich zog, mag zwar viele Krisengeschädigte mit Genugtuung erfüllen. Die Desillusionierung verhilft aber niemandem zu mehr Orientierung: Wem kann man vertrauen, wer ist wirklich kompetent und seriös, wer nur ein elender Missmanager? So nutzen Konsumenten und Kleinaktionäre das einzige Machtinstrument, das sie beherrschen, dessen Wirkung aber erst auffällt, wenn viele das Gleiche tun, nämlich nichts mehr: Sie treten in den stillen Käufer- und Anlegerstreik. Sie parken ihr Geld auf dem Sparbuch, schimpfen auf den Umgang der bösen Amerikaner von General Motors mit den armen Opelanern und zögern doch, sich den von der Motorpresse in höchsten Tönen gelobten Insignia zuzulegen, ein durch und durch deutsches Auto. Es sind dieselben Menschen, die Karl-Heinz Zerrle, Direktor des Landes-Caritasverbandes Bayern, milde an die Tatsache erinnert, dass sie selbst Akteure des Systems sind, das in der Krise steckt: „Die Bürger sind nicht ganz unschuldig mit ihrer Schnäppchenjagd und ihren Versuchen, ein paar Prozent mehr Zinsen zu ergattern.“ Man könnte hinzufügen, dass sie ökologisch vorbildliche Autos wie den Audi A2 oder VWs Dreiliter-Lupo rüde verschmähten und heute empört ihre Automobilaktien abstoßen, weil die Industrie doch den Trend zum Sprit sparenden Motor verschlafen habe. Aber Prälat Zerrle will weniger strafpredigen als vielmehr motivieren, im Geiste der christlichen Soziallehre Verantwortung im Gemeinwesen zu übernehmen: „Schuldzuweisungen helfen nicht weiter.“

Sünder, die wirklich Anlass zu Buße und Umkehr hätten, sieht der Caritas-Chef vor allem in der Politik. „Man könnte die Parteien fragen, wie sie das C im Namen angesichts der Weltlage definieren „, überlegt Zerrle, „oder das S, das man immer ganz klein geschrieben hat. Die Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn sie eine soziale ist.“ Als „finanzpolitischer Laie“ habe er sich gefragt, woher die Milliarden stammten, mit denen die Löcher in den Etats der staatlichen Banken gestopft wurden. „Wenn wir etwas brauchen, gibt es eine große Diskussion um 5000 Euro“, stichelt der katholische Wohlfahrtssachwalter leise, „da stimmt etwas nicht ganz.“ Und er macht auch keinen Hehl aus seinem Wunsch, der Herrgott möge den Regierenden die Weisheit schenken, die Aufsicht über staatliche Geldinstitute künftig Profis zu überlassen.

An einer Renaissance der sozialen Marktwirtschaft als Basis des demokratischen Gemeinwesens führt auch für Julian Nida-Rümelin kein Weg vorbei. „Der Markt braucht Regeln“, forderte der Politikprofessor an der Universität München und Kulturstaatsminister a.D. in einem Gastkommentar für die Süddeutsche Zeitung. Als politischer Philosoph kann sich Nida-Rümel in durchaus hineindenken in die Köpfe der Chicago-Boys, der Jünger Milton Friedmans, die lange den Ton angaben in der internationalen Wirtschaftspolitik: „Der Marktradikalismus hat eine Faszination. Es ist die Faszination des Anarchismus.“ Nach dem Scheitern keynesianischer Ausgabenprogramme in den 70er-Jahren habe diese Ideologie eine Zeit lang „unglaublich attraktiv“ gewirkt, auch auf viele europäische Sozialdemokraten, sagt der Professor, der vor der Agenda 2010 aus der Schröder-Regierung ausschied. Die wirtschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart führt Nida-Rümelin nicht zuletzt auf die Einführung leistungsfähiger IT-Systeme zurück, die diese technokratische Weltanschauung perfekt ergänzten, indem sie es den Managern erlaubten, jederzeit alle für den Shareholder Value relevanten Kennzahlen im Blick zu haben und durchzurechnen . Mit dem Tempo der Datenverarbeitung stieg die Reaktionsgeschwindigkeit der Manager – und parallel dazu die der Börsenmakler: „Die Verzögerungen, die früher durchs Nachdenken bedingt waren, schaltete man aus, indem man gleich die Software entscheiden ließ.“ Dass durch diese Selbstentmündigung eine strukturelle Verantwortungslosigkeit entstand, nahmen die Akteure in Kauf. „Selbst diejenigen, die mit diesen Instrumenten umgehen“, kritisiert Nida-Rümelin, „bekennen ja freimütig, dass sie die mathematischen Details nicht durchschauen.“

Die Abhängigkeit der Menschen von kryptischen Software-Codes beschränkt sich nicht allein aufs Finanzwesen, in dem „Algo-Trader“ millionenschwere Transaktionen komplexen Algorithmen anvertrauen. Fortschritte der Informationstechnik erlauben der Fertigungsindustrie seit einigen Jahren die Konstruktion „virtueller Unternehmen“: Dem Shareholder Value zuliebe lagerten Konzerne Aktivitäten, die nicht zur „Kernkompetenz“ zählten, an Subunternehmer aus; dank IT-Vernetzung blieb die Wertschöpfungskette dabei unter ihrer Kontrolle. Was begann mit der Just-in-time-Produktion, die die kapitalintensive Lagerhaltung minimierte, endete beim Outsourcing wichtiger Teile der Produktentwicklung. Über Jahrzehnte gewachsene Unternehmenskulturen blieben bei diesem IT-getriebenen Umbau der Arbeitswelt auf der Strecke. Die Portionierung der Aufgaben entlang Technik-kompatibler Geschäfts- und Produktionsprozesse trieb den Trend zur Spezialisierung auf neue Höhen – und führte zu einer Zersplitterung der Verantwortlichkeiten. Das große Ganze im Blick zu haben wurde zum Job für einige Wenige; das funktionalistische Prinzip machte aus „Führungskräften“, die sich über zwischenmenschliche Beziehungen definierten, abstrakte „Process Owners“.

Ausgerechnet diese radikale Rationalisierung, die den Menschen auf seine Tätigkeit reduziert, spielt jetzt den Befürwortern einer Rückbesinnung auf eine sozialere Marktwirtschaft in die Hände. Da die arbeitsteiligen Firmengeflechte de facto in Symbiose leben, ist kein großer Industriekonzern mehr lebensfähig ohne das Netzwerk seiner Partner im In- und Ausland. Wie schnell sich Ausfälle in den modernen industriellen Netzwerken fortpflanzen, zeigte sich im Winter, als die Autofabriken ihre weihnachtlichen Werksferien um ein paar Wochen verlängerten. Ein stabiles sozioökonomisches Umfeld, wie es der Rheinische Kapitalismus garantierte, könnte das Risiko einer ungeplanten Kettenreaktion senken: Weil jeder auf jeden angewiesen ist, liegt es im gemeinsamen Interesse, einen Streik oder die Insolvenz eines Partners zu vermeiden.

Eine neue Kultur des Zusammenhalts erscheint auch in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft als beste Chance, die Krise zu überwinden. Während sich die Große Koalition in Berlin mit den Nöten und Begehrlichkeiten von Banken und Autokonzernen plagt, kristallisiert sich abseits von Kanzleramt und Ministerien ein neuer parteiübergreifender Konsens heraus: Viel effektiver als die große Gießkanne oder Programme zur Stützung großer Industriekonglomerate ist es, die Bürger in ihrem unmittelbaren Umfeld zum Anpacken und Investieren zu motivieren – etwa beim Thema Wärmedämmung. 625 Milliarden Kilowattstunden verheizen die deutschen Privathaushalte jährlich, es ist der mit Abstand größte Negativposten unserer C02-Bilanz. Stand der Technik bei Neubauten ist das Passivhaus, das sämtliche Wärme aus der Natur bezieht; bei Altbauten sind bis zu 60 Prozent Energieeinsparung drin.

„Das ist eine Win-win-Situation“, wirbt Christine Scheel, stellvertretende Fraktionschefin und Wirtschaftsexpertin der Bundestags-Grünen. „Wenn die Leute in neue Fenster, Wärmedämmung oder ein neues Heizsystem investieren, amortisiert sich das nicht nur sehr schnell, es schafft auch Arbeitsplätze im Handwerk.“ Eine zentrale Rolle komme den Hausbanken zu , deren Berater ihren Kunden die KtW-Kredite für die energetische Gebäudesanierung vermitteln müssten. Da diese Investitionen der Wirtschaft und dem Klimaschutz dienten, sei die Entscheidung völlig richtig, sie steuerlich auch für Privatleute absetzbar zu machen. In dieselbe Bresche haut der Europaabgeordnete und Bezirkschef der schwäbischen CSU, Markus Ferber: „Wenn eine Exportnation in der Rezession keine Ausweichmärkte findet, muss sie den Inlandsmarkt stimulieren. Also müssen wir ein investitionsfreundliches Klima auch für private Haushalte generieren.“ Wenn es nach ihm ginge, würde die Arbeit der Handwerker sogar mit einem niedrigeren Mehrwertsteuersatz belegt. Die große Herausforderung liegt für Ferber darin, den Menschen vorzurechnen, was sie vom Geldausgeben haben: „Der Privathaushalt denkt nicht unternehmerisch.“

Die Klientel von Scheel ist da zum Teil schon weiter. Die Grüne schwärmt zum Beispiel vom Erfolg sogenannter Bürgerkraftwerke: Die Gemeinde stellt die Dächer ihrer Gebäude zur Verfügung, eine private Genossenschaft investiert in eine Solaranlage, die sich über die garantierte Einspeisevergütung besser verzinst als so manche heutige Spareinlage. Auch über den Investitionsstau auf kommunaler Ebene macht sich Scheel ihre Gedanken: „Ab einer gewissen Größenordnung muss man Aufträge international ausschreiben, dies führt zu gigantischen Verzögerungen.“ Mitglieder von Kreis- und Gemeinderäten könnten prüfen lassen, ob Projekte nicht gestückelt werden können. So ließe sich zum Wohle der kommunalen Wirtschaft vielleicht manche Investition vorziehen.

Die Bürger stärker einzubinden dürfte für die Politiker eine der größten Herausforderungen der nächsten Zeit werden. Immer mehr wichtige Entscheidungen – gerade in der Industrie- und Umweltpolitik – fallen in Brüssel. Doch in der Bevölkerung ist wenig bekannt über das Zusammen- und Gegeneinanderspiel von Kommission (also Verwaltung), Parlament und Ministerrat. „Ich bin sehr in Sorge über die zunehmende Europa-Skepsis“, sagt die Bonner Europa-Abgeordnete Ruth Hieronymi. Unermüdlich führt sie, wie viele ihrer Kollegen, Besuchergruppen aus ihrem riesigen Wahlkreis durch den Brüsseler Betondschungel und erklärt die politischen Strukturen. 80 Gruppen pro Jahr sind viel Arbeit für die CDU-Frau und doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein der politischen Basisarbeit. „Allein“, spricht Hieronymi für die 99 deutschen EU-Parlamentarier, „können wir das nicht.“

Was der politischen Partizipation helfen würde, wäre eine Förderung des bürgerschaftlichen Engagements – etwa mit Projekten wie der „Ehrenamtskarte“, die in Hessen, Niedersachsen sowie einigen Städten Nordrhein-Westfalens sehr gut ankam und seit Anfang desjahres auch in Schleswig-Holstein landesweit angeboten wird. Wer sich für die Gemeinschaft engagiert, bekommt mit dieser Karte Vergünstigungen beim Eintritt in kommunale Einrichtungen wie Theater, Museen und Schwimmbäder, aber auch Rabatte bei Frisören, IT-Dienstleistern oder privaten Fitnessclubs. Trotz dieser Anreize haben die nördlichen Länder allerdings noch Nachholbedarf gegenüber dem Ehrenamt-Musterländle Baden-Württemberg oder dessen östlichem Nachbarn: Im „Ehrenamtsatlas 2009“, den die Versicherung Generali kürzlich vorgelegt hat, schafften es acht bayerische Raumordnungsregionen unter die Top Ten; jeder zweite Bürger engagiert sich dort für seine Mitmenschen.

Dass ausgerechnet die Heimat der Kanzlerin, die Uckermark, die rote Laterne abbekam, hat nicht viel zu bedeuten: Wer in Deutschland ehrenamtlich aktiv ist, ist es zumeist im Sport- und Gesangsverein oder im Elternbeirat. Nicht einmal acht Prozent engagieren sich jeweils im politischen Bereich oder im Umweltschutz. Vielen Vollzeit-Beschäftigten fehlt schlichtweg die Zeit. Die Analyse der Sozialforscher ist bitter für Parteipolitiker wie Hieronymi, doch sie passt zum Trend aus dem Berufsleben, die Arbeit mehr und mehr in Projekte zu zerlegen: „Die Bindungen an Parteien werden immer lockerer. Mit einer zunehmend individualisierten Gesellschaft hat sich auch das Partizipationsverhalten geändert. Das Engagement für bestimmte Themen und Projekte außerhalb der Parteienlandschaft nimmt zu und ist projektbezogen und damit kurzfristig.“

Weil in einer überalternden Gesellschaft viele soziale Aufgaben bald wohl nur noch durch massiven Einsatz von Ehrenamtlichen zu bewältigen sein werden, fordern die Autoren der Studie eine „Anerkennungskultur für Engagement“. Und: „Mehr denn je sind öffentliche und private Institutionen sowie Unternehmen gefordert, die notwendige Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements aktiv zu unterstützen.“ Hier schließt sich denn auch der Kreis: Je mehr im Etat gar nicht vorhandenes Geld der Staat heute in die Hand nimmt, um die Wirtschaft anzuschieben, umso mehr zwingt die Staatsverschuldung künftig zur Verlagerung von Arbeit auf Freiwillige. Dass darüber nachgedacht wird, könnte das Gute an der Krise sein. „Es muss ein Umdenken einsetzen“, resümiert Prälat Zerrle, „vielleicht war das ein Schuss vor den Bug – gerade noch zur rechten Zeit.“

 

„Nicht nur kritisieren, auch engagieren“

Hans-Jochen Vogel fordert mehr bürgerschaftliches Engagement. Vogel amtierte von 1960 bis 1972 als Oberbürgermeister der Stadt München, deren Ehrenbürger er heute ist. Nach seinem Wechsel in die Bundespolitik war er Städtebau- und Justizminister, Fraktionschef und SPD-Vorsitzender.

Das Interesse der jüngeren Generation an Wirtschaft und Politik geht zurück. Leidet unsere Gesellschaft eher an bürgerfernen Politikern oder an politikfernen Bürgern?

 

Mit solchen absoluten Urteilen halte ich mich zurück. Der Abstand ist wohl etwas größer geworden. Ein Indikator ist für mich, dass die Wahlbeteiligung gesunken ist, erstaunlicherweise am stärksten bei den Kommunal- und Bürgermeisterwahlen. Es ist die Aufgabe aller im Gemeinwesen, diese wachsende Kluft wieder zu schließen. Immerhin ist das ehrenamtliche Engagement in der Bundesrepublik recht hoch. Ich würde mir wünschen, dass die gegenwärtige Krise dazu führt, dass sich das Engagement noch verstärkt – gerade auch in Richtung umweltfreundlicher Maßnahmen.

Tut die Politik genug, um das zu stimulieren?

Letzten Endes ist die Politik nicht der Vormund der Bürger. Die Entscheidung, ob sie sich für das Gemeinwesen mitverantwortlich fühlen und tätig werden, müssen die Bürger selbst treffen. Die Große Koalition hat aber die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden deutlich verbessert. Ehrenamtlich Tätige können nun erstmals auch so genannte Zeitspenden geltend machen.

 

Studien besagen, dass die Menschen sich heute lieber themenbezogen engagieren als dauerhaft in Parteien mitzuarbeiten.

Die Bereitschaft, sich organisatorisch zu binden, hat abgenommen, das scheint ein Faktum zu sein. Nicht nur die Parteien verlieren kontinuierlich an Mitgliedern, auch die Kirchen und Gewerkschaften. Wir erleben einen Individualisierungsprozess. Früher wurde man in ein ländlich-konservatives oder industriell-sozialdemokratisches Milieu hineingeboren, das auch das Wahlverhalten bestimmte. Heute treffen die Bürger individuelle Entscheidungen. Oft konzentrieren sie ihr Engagement auf eine bestimmte Initiative. Darum ist es wichtig, dass die Parteien dem Rechnung tragen, etwa durch temporäre Mitgliedschaften.

 

Sie meinen, dass es besser ist, erst einmal die Motivation der Menschen zu nutzen, sich auf Gebieten einzubringen, auf denen sie sich auskennen, und dass sie dann vielleicht auf den Geschmack kommen und mehr tun?

Ja, und ich hoffe immer auch, dass Menschen, die kritisieren, es nicht einfach bei der Kritik bewenden lassen, sondern sich dann selbst bemühen, die Dinge besser zu machen.

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