Die Zeiten, als Konzerne sich akademische Spielwiesen leisteten, sind vorbei. Forscher in der Industrie genießen zwar noch Freiräume. Aber sie sollen die Welt zunehmend mit Kundenaugen sehen.
Das „PARC“ kann sein Alter nicht verleugnen. Ein Forschungszentrum mit einem solchen Kürzel ist unzweifelhaft ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert – genauer gesagt aus der Blütezeit der IT-Industrie in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Und tatsächlich war das Palo Alto Research Center des amerikanischen Fotokopierer-Pioniers Xerox damals so etwas wie ein Park: eine Spielwiese für Wissenschaftsfreaks in den grünen Hügeln des Silicon Valley, ein Themengarten für Visionäre. Wer dort arbeitete, war keine drei Meilen entfernt vom Campus der gloriosen Stanford University, aber komfortable dreitausend Meilen von der biederen Konzernzentrale an der Ostküste.
In ihrem flachgelegten Elfenbeinturm unter kalifornischer Sonne ersannen die Firmenforscher lauter geniale Dinge. Sie waren allerdings ihrer Zeit so weit voraus, dass die Xerox-Chef-Kaufleute und Produktmanager auf der anderen Seite Amerikas damals etwa mit mausgesteuerten Computern und ihrer grafischen Benutzerführung nichts anzufangen wussten. Groß wurden mit solchen Innovationen andere. Zum Beispiel Steve Jobs, der im PARC die Inspiration für seinen Macintosh fand. Und Bill Gates, der seinen Megaseller Windows wiederum bei Jobs abschaute. Die Xerox Corporation dagegen ging in die Technikgeschichte ein als selbstlose Amme, die dem IT-Boom im Valley Nahrung gab. Oder als Lehrbeispiel für missratenes Innovationsmanagement.
Die Industrie, darunter Xerox selbst, hat daraus gelernt. Dass ein Konzernvorstand hauseigene Wissenschaftler an der Technik von übermorgen tüfteln lässt, ohne sich ernsthaft dafür zu interessieren, was das dem Unternehmen bringt und wann, ist heute unvorstellbar. Kreative Vordenker und kühle Rechner leben nicht mehr in getrennten Sphären. Sprechen Firmenchefs von „Forschung und Entwicklung“ (F&E), drückt die Reihenfolge keine Rangordnung mehr aus, sondern nur noch den zeitlichen Ablauf eines mehr oder weniger strikt reglementierten Geschäftsprozesses.
Selbst in Weltkonzernen, für die ein elitäres Zentrallabor früher das höchste Statussymbol war, hat sich Pragmatismus breit gemacht. Dieser nimmt Marktnähe viel wichtiger als akademische Aushängeschilder. Der Zwang zum Effizienzdenken verlangt von den Forschungsmanagern heute die Fähigkeit, mit scharfem Blick zu schielen: Während sie den Fokus auf die kommende Produktgeneration richten, dürfen sie langfristige Trends, Chancen und Gefahren nicht aus den Augen verlieren.
Um diese Herausforderung zu meistern, hat jede Branche, jedes Unternehmen ein eigenes Rezept. Eine Grundzutat ist jedoch fast immer dabei: Teamwork. Forschungskooperationen mit Instituten, Zulieferern und Kunden sind Alltag, Alleingänge selten geworden. „Die grundlagenorientierte Arbeit sehen nur noch ganz wenige Unternehmen als ihre Aufgabe an“, sagt Michael Rothgang, stellvertretender Leiter des Kompetenzbereichs „Unternehmen und Innovation“ am Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Den „Luxus“ des Selbermachens leiste man sich höchstens dort, wo es einen konkreten Bezug zur Praxis gebe. Ansonsten überlasse man die Grundlagenforschung lieber externen Professoren und nutze deren Erkenntnisse: „Die Vernetzung mit der staatlich geförderten Forschung in Universitäten und Instituten ist deutlich enger geworden.“ Bei ihren eigenen Aktivitäten konzentriere sich die Industrie stark auf kurz- bis mittelfristige Ziele.
Bereits in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts begannen die Konzerne, ihre Forschungsapparate zu verschlanken und die Verantwortung an die für bestimmte Produkte zuständigen Unternehmensbereiche zu delegieren – nach der Devise, so Rothgang „da kommt mehr bei rum“. Diese Philosophie, im Fachjargon „Divisionsforschung“ genannt, sei aber keine Patentlösung gewesen: „Dabei besteht die Gefahr, immer im gleichen Produktspektrum zu bleiben und keine neuen Ideen umzusetzen.“
Betriebsblindheit ist ebenso schädlich wie Ineffizienz. Daher geht der Trend in der Wirtschaft mittlerweile dahin, interne und externe, zentrale und dezentrale Forschung und Entwicklung so aufeinander abzustimmen, dass die Vorteile der jeweiligen Ansätze zum Tragen kommen. Niemand soll die Welt nur aus der Frosch- oder nur aus der Adlerperspektive sehen. So ist die einst messerscharfe Kante zwischen abgehobenen Forschern und bodennahen Entwicklern stumpf geworden. Traditionelle Berufsbilder verschwimmen, promovierte Physiker arbeiten kollegial im Team mit Ingenieuren. Sogar habilitierte Forschungsmanager haben kaufmännisches Vokabular wie „Kerngeschäft“ in ihren Grundwortschatz aufgenommen und sprechen stolz über die Bedeutung ihrer Arbeit für die Wertschöpfung des Unternehmens.
Die Art, wie Unternehmen das Zusammenspiel zwischen Vordenkern und Machern organisieren, unterscheidet sich jedoch nicht nur von Branche zu Branche sehr deutlich, sondern sogar innerhalb eines Industriezweigs, etwa der Chemie. „Unsere F&E ist in vier klar abgegrenzte Technologie-Plattformen aufgeteilt, die konzernweit für ihr Kompetenzfeld verantwortlich sind“, erklärt Professor Dieter Jahn, Leiter der Abteilung Science Relations and Innovation Management der BASF in Ludwigshafen. Auf einer dieser Plattformen ist das Kunststoff-Know-how des Konzerns gebündelt, auf den anderen die Gebiete „Performance Products“ (Pigmente und Agrochemikalien), „Plant Science“ (Biotechnologie) und Chemische Großverfahren.
Die Mitarbeiter der Plattformen arbeiten dann für die Konzernsparten der jeweiligen Marktsegmente und werden aus deren Kassen bezahlt. „Das ist aber kein untergeordnetes Dienstleisterverhältnis, sondern eine Partnerschaft“, stellt Jahn klar. „Die Forschung hat einen eigenständigen Auftrag im Konzern: ihre Technologie in die Unternehmensbereiche hineinzuspielen.“ Der Professor lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sich die internen „Kunden“ von den Plattform-Experten schon mal sagen lassen müssen, wo es langgeht. Denn zu deren Job gehört das „Scouting“: Sie müssen ständig beobachten, was sich rund um ihr Fachgebiet in der Wissenschaft tut. Dieser „Technology Push“, wie es im Slang der Innovationsmanager heißt, muss mit dem „Demand Pull“, dem Nachfragesog korrespondieren: Die Forscher dürfen die Bedürfnisse der Kundenseite nicht übergehen; sie können die Produktmanager nicht mit einer Friss-oder-stirb-Lösung abspeisen. Technikverliebtheit toleriert Jahn nicht: „Das ist immer ein Dialog zwischen Technik und Markt.“ BASF hat sich also für den Mittelweg zwischen einer forschungsgetriebenen und einer verkaufsgetriebenen Strategie entschieden. In diese Zusammenarbeit, bei der Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten oft nahtlos ineinander übergehen, investiert der Mannheimer Chemieriese an die 80 Prozent seines gesamten F&E-Etats.
Das restliche Fünftel ist reserviert für ein Extra-Forschungsbudget, über dessen Verwendung allein der Vorstand der Aktiengesellschaft entscheidet. Aus diesem Corporate-Research-Topf speist der Konzern, der keine eigene Grundlagenforschung betreibt, seine Kooperationen mit Universitäten und staatlichen Großforschungseinrichtungen. So werden etwa Machbarkeitsstudien zu neuen Ansätzen aus der Wissenschaft von BASF finanziert. Außerdem leistet sich das Unternehmen eine Venture- Capital-Tochter, die in forschungsstarke Startups investiert.
Die Chemie-Sparte des Mischkonzerns Evonik Industries hält es eher mit einer Variante der Divisionsforschung: Die sechs operativen Bereiche sind direkt für ihre Forschung und Entwicklung verantwortlich – jedenfalls für den marktnahen Teil der Arbeit, in den 85 Prozent des Budgets fließen. Der Rest ist reserviert für Projekte mit längerfristigem Fokus.
Die Unterscheidung zwischen forschenden und entwickelnden Mitarbeitern findet Peter Nagler, verantwortlich für das Innovationsmanagement im Chemiebereich, müßig: „Die Kollegen arbeiten über die Abteilungsgrenzen hinweg sehr eng miteinander. Man könnte allenfalls trennen zwischen Forschern und Anwendungstechnikern, die noch näher beim Kunden sind.“ Den Projektteams, die neue Produkte, Anwendungen und Technologien entwickeln, gehörten außerdem noch Prozessingenieure und Verfahrenstechniker an. Diese Organisationsstruktur sei gut geeignet, Wünsche und Ideen der Kunden rasch in die Labors zu tragen.
Dabei arbeitet die F&E von Evonik Industries sehr dezentral. Zur Sphäre von Nagler gehören 35 Niederlassungen weltweit; der Schwerpunkt liegt allerdings auf den deutschen Standorten Essen, Hanau, Marl und Darmstadt. Damit die Mitarbeiter mit ihrem Know-how nicht in ihrem eigenen Saft schmoren, hat das Unternehmen zu jedem der sechs Kompetenzfelder einen Expertenkreis gegründet, dessen Leiter für den globalen Erfahrungsaustausch verantwortlich ist. Die Bereiche laden zu “Innovationstagen” ein, um die Forscher über die Arbeit der Kollegen im Rest des Konzerns zu informieren. Daneben gibt es Veranstaltungen unter dem Motto „Evonik meets Science“, auf denen externe Wissenschaftler über ihre Arbeit berichten.
„Wir beschäftigen uns aber auch mit Szenarien, wie die Welt in 15 Jahren aussehen könnte“, sagt Nagler. Um solche Visionen zu entwerfen, stellt der versammelt der Innovationsmanager Spezialistenteams zusammen und versammelt externe und konzerninterne Experten zu Brainstormings. „In diesen Diskussionen versuchen wir uns ein Bild zu machen von den Anforderungen, die auf uns zukommen könnten.“ Hat die Gruppe eine vielversprechende Idee herausgearbeitet, wird ein Versuchsballon gestartet: ein überschaubares erstes Projekt, in dessen Verlauf die technische Lösung konkretisiert werden soll.
Die Ideengeber genießen dabei Freiräume für Experimente, aber innerhalb vereinbarter Grenzen. Um zu verhindern, dass sich jemand in eine fixe Idee verrennt, wird der Fortschritt der Forscher und Entwickler regelmäßig an Meilensteinen gemessen. Klafft die Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit dann zu weit auseinander, wird das Projekt abgebrochen. Manchmal ergibt sich aber sogar aus vermeintlichen Misserfolgen eine neue Chance, weil jemand eine überraschende Idee für einen Technologietransfer hat. Diese Art der strategischen Forschung reicht in eine Zeit zurück, als es den Evonik-Konzern in seiner heutigen Form noch gar nicht gab. So tüftelte ein Team Ende der 1990er Jahre im Werk Marl, das damals noch zur Veba-Tochter Hüls gehörte, an einer flexiblen keramischen Membran für die Wasseraufbereitung. „Das hat nicht geklappt“, erzählt Nagler, „aber es war die Grundlage für die Lithium-Ionen-Batterien, die wir mit Daimler in unserem Joint Venture „Litec“ entwickeln.“
Dass forschende Unternehmen systematisch Vorsorge treffen, damit nicht zu viel Geld und Energie in die falschen Projekte gesteckt wird, ist den Wirtschaftsforschern des RWI zufolge allerdings nicht selbstverständlich. In einer von dem Essener Institut im „Mittelstandsmonitor 2008“ veröffentlichten Studie gab nur gut die Hälfte der befragten Unternehmen an, überhaupt Managementvorgaben für F&E formuliert zu haben. Speziell in kleineren Betrieben ist das Prozedere oft nicht formalisiert, was sich die Innovationsforscher mit der Befürchtung erklären, zu strenge Regeln könnten die Kreativität behindern.
Es gehört allerdings zum Forscheralltag, dass die meisten Ideen nie zu einem erfolgreichen Produkt führen. „Im besten Fall“, schätzt Markus Weber, Forschungschef bei Carl Zeiss in Oberkochen, „werden am Ende fünf Prozent der Ideen umgesetzt.“ Dennoch legt er großen Wert darauf, dass seine Mitarbeiter fleißig Nachschub liefern für den „Innovation Funnel“, den großen Innovationstrichter, in dem die restlichen 95 Prozent steckenbleiben. „Gerade am Anfang sind absolute Freiräume da“, sagt Weber. Die Mitarbeiter dürften sich Zeit nehmen, am Geld scheitere es normalerweise auch nicht.
Orientierung bei dem sich anschließenden Ausleseprozess bieten bei Carl Zeiss sogenannte Roadmaps. Diese werden von F&E-, Produkt- und Marketingmanagern der Unternehmensbereiche gemeinsam entwickelt, denn auch bei Zeiss gilt eine Spielart der Divisionsforschung: Die an den Produktgruppen (wie Mikroskopie, Medizintechnik oder Industrielle Messtechnik) ausgerichteten Sparten verantworten ihre jeweilige Vorund Produktentwicklung selbst. Um Zukunftsthemen – alles, was weiter als etwa drei Jahre weg ist – kümmern sich erst einmal die rund 130 Mitarbeiter der zentralen Forschung, die fürs Gesamtunternehmen arbeitet.
Wenn eine neue Idee anvisiert werde, sei es normal, dass das Bild erst einmal unscharf wirke, sagt Forschungsmanager Weber. Zunächst richte sich der Blick auf die technische Umsetzbarkeit, aber sobald die Konturen klarer werden, verschiebe sich der Fokus auf den möglichen „Wertbeitrag“. Zeichnet sich innerhalb eines vereinbarten Zeitrahmens keine wirtschaftliche Perspektive für ein Produkt ab, wird die Idee verworfen. Mit diesem Prinzip filterte Zeiss 2009 eine besonders aussichtsreiche Innovation heraus, für die neue Hard- und Software entwickelt wurde: die korrelative Mikroskopie. Sie kombiniert Licht- und Elektronenmikroskopie in einem System; der Clou daran ist, dass eine Art Autopilot beim Wechsel zwischen beiden Betrachtungsmethoden nanometergenau die winzige Stelle am Untersuchungsobjekt wiederfindet, die der Anwender im lichtmikroskopischen Bild markiert hat und unter dem Elektronenmikroskop noch einmal näher anschauen will.
Von einer strikten Arbeitsteilung zwischen Forschern und Entwicklern hält auch Weber nichts. „Das schafft nur Lager und baut Barrieren auf“, warnt der F&EManager. „Wir beschäftigen hier eine wilde Mischung aus Physikern und Chemikern, Ingenieuren, Wirtschaftsingenieuren, Informatikern und Mathematikern, und das natürlich international, um neue Denkweisen hereinzubringen.“ Für ihn ist so ein kunterbunter Talentpool der beste Weg für ein Unternehmen, das sich über Innovation definiert. Dementsprechend sei die F&E, so Weber, das Eingangstor für eine Karriere bei Zeiss. Für ihn sind auch Entwickler Innovatoren, jedenfalls dann, wenn sie den bei Zeiss unabdingbaren Forschungsgeist pflegen würden.
Eine Branche, in der die traditionellen Strukturen – hier Forschung, da Entwicklung, dazwischen die Vorentwicklung, jeweils mit eigenem Personal – noch nicht überwunden sind, ist der Automobilbau. Aber die Grenzen weichen auf. Zum Beispiel bei BMW. So unterhält der Konzern zwar über sein Forschungs- und Ingenieurzentrum FIZ hinaus einen „Thinktank“, die BMW Forschung und Technik GmbH. Diese Tochterfirma sei sogar, so GeschaÅNftsführer Raymond Freymann, mit Bedacht in einem eigenen Gebäude abseits der Zentrale angesiedelt worden: „Hier sind die Mitarbeiter vom Druck der Serienentwicklung befreit.“ Gleichwohl gebe es einen kontinuierlichen Informationsfluss und einen regen, auch personellen Austausch. „Dass Mitarbeiter aus der Serienentwicklung in die Forschung wechseln und umgekehrt, ist bei uns ein ganz selbstverständlicher Vorgang“, sagt der Chef der Vordenker.
Die Denkfabrik in München-Moosach nimmt für sich auch nicht in Anspruch, rein akademisch über Mobilitätskonzepten für übermorgen zu brüten. „Einen abgekapselten Bereich, der völlig losgelöst von realen Problemstellungen operiert, gibt es heute nicht mehr“, stellt Freymann klar. Die Aufgabe der Forschung sei heute, so seine Definition, „die Machbarkeit sehr anspruchsvoller Aufgabenstellungen in einem angemessenen Zeitraum nachzuweisen“. Freilich ist das Spektrum dessen, was als angemessen gilt, ziemlich breit: „Wir schauen, wenn es nötig ist, sehr weit in die Zukunft. Da gibt es nach oben kein Limit.“ Auf der anderen Seite steht das, was BMW „angewandte Forschung“ nennt. Und da seien die Grenzen zur Vorentwicklung durchaus fließend.
Ein Monopol auf Forschungsaktivitäten innerhalb des Konzerns hat die Forschung und Technik GmbH ohnehin nicht. So manches Teilprojekt, das unter der Regie einer Entwicklungsoder selbst einer Produktionsabteilung läuft, könnte genauso gut das Etikett „Forschung“ tragen. Denn die Wertsteigerung bei Premium-Fahrzeugen wird heute größtenteils mit IT-Neuheiten oder Extras aus der Sonderausstattungsliste erzielt. Diese Komponenten unterliegen jedoch weit kürzeren Innovationszyklen als Karosserien oder Motoren. Die Projekte sind überschaubar und können weit schneller auf dem Markt sein. Dadurch verdichten sich auch die F&E-Prozesse, die nicht mehr der klassischen Arbeitsteilung unterliegen. So brauchte BMW nur ein halbes Jahr, um fast alle Modellreihen auf die neueste Generation des Multifunktionssystems iDrive umzustellen – das noch vor zehn Jahren ein handfestes Forschungsthema war (siehe Seite 72).
Aus echter Grundlagenforschung halten sich Raymond Freymann und seine Mitarbeiter heraus. Sie genießen jedoch das Privileg, mit Wissenschaftlern vernetzt zu sein, die sich aus ihrer Sicht mit der Zukunft des Autos befassen – etwa an der Stanford University, dem Institut Eurécom in Sophia Antipolis und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). IT im Fahrzeug ist zum Beispiel eines der Themen, die mit diesen externen Partnern erarbeitet werden.
Ausgerechnet der zum IT-Dienstleister umgebaute Computerhersteller IBM hat sich den Kern seiner alten Forschungsphilosophie bewahrt. „Nur wenn Sie selbst Grundlagenforschung betreiben, können Sie mit anderen Grundlagenforschern auf Augenhöhe reden“, postuliert Matthias Kaiserswerth. Bis heute steht IBM Research für einen gelungenen Spagat zwischen Geschäft und Wissenschaft. Beispielsweise tragen die über die ganze Welt verteilten Labors des IT-Multis mit ihrem Know-how dazu bei, Forschungsprojekte zu realisieren, die ihrerseits den Bedarf an Hochleistungsrechnern ankurbeln.
IBM ist aber auch an Forschungsvorhaben beteiligt, die auf den ersten Blick wenig mit Computern oder Halbleitern zu tun haben. Aber sie erweisen sich dann als nutzbringende Spin-offs von Erfindungen, die ursprünglich nur dem Eigenbedarf dienten – wenn etwa die energiesparende Warmwasser-Kühlung aus dem Rechenzentrum für hocheffiziente Photovoltaikmodule genutzt wird oder das Nanotechnik-Know-how hilft, multiresistente Staphylokokken mattzusetzen.
Das so genannte Technologie-Scouting, wie es etwa BASF und Evonik sehr systematisch pflegen, würde Kaiserswerth nicht genügen: „Wir picken uns nicht das heraus, was an irgendeiner Hochschule für uns relevant ist, sondern legen Wert auf Zusammenarbeit.“ In die hat sein Arbeitgeber kräftig investiert: Gerade erst hat er gemeinsam mit den Kollegen von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich ein gemeinsames Nanotechnik-Zentrum eröffnet.
Im Gegensatz zu finanzstarken Konzernen tun sich kleine und mittelständige Unternehmen (KMU) nicht nur sehr schwer im Umgang mit öffentlich geförderter Forschung, sondern mit dem Thema Forschung schlechthin. Die Studie des RWI brachte einen ernüchternden Befund zutage: KMU beteiligen sich in Deutschland kaum an Forschung und Entwicklung. Manche forschen nur sporadisch, andere gar nicht. 93,5 Prozent des bundesweiten Aufwands für F&E und 82,2 Prozent des Personals entfallen auf die großen und sehr großen Firmen. Die Anteile der Großkonzerne wären noch höher, wenn jene Startups der Pharma- und Biotech-Branche, die in Symbiose mit ihnen leben, dazu gerechnet würden. Deren Geschäftsmodell besteht darin, nur zu forschen und gar keine eigene Produktion aufzubauen; im Erfolgsfall lassen sie sich von einem Großen schlucken oder verkaufen ihm die Patente.
Irritierend ist auch, dass die vom Bundeswirtschaftsministerium bereits seit 1954 subventionierte „Industrielle Gemeinschaftsforschung“ (IGF) noch immer ein Schattendasein fristet. Dieses Förderprogramm soll eigentlich kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) helfen, „aktiv an kooperativ organisierter Forschung zu partizipieren“. Selbst von den „F&Eaktiven“ Unternehmen, so die Bilanz des RWI, kennt nicht einmal die Hälfte das Programm. „Die IGF hat ein Sichtbarkeitsproblem“, heißt es in ihrem Bericht, „sie ist keine ‚Marke‘.“ So ist es nicht erstaunlich, dass die Initiative zu neuen Projekten meist nicht von den Unternehmen ausgeht, sondern von den Forschungsinstituten. Bereits 2006 diagnostizierten die Wirtschaftsforscher eine finanzielle Schieflage. So konzentrierte sich ein Großteil der ohnehin nicht üppigen Mittel von etwa 100 Millionen Euro pro Jahr auf einige wenige Projekte. 40 von 103 „Forschungsvereinigungen“ erhielten 90 Prozent des Geldes.
Ist also Industrieforschung gleich Konzernforschung? Die Befunde der Wirtschaftsforscher sprechen dafür. Eigene Forschungsaktivitäten seien nicht wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit vieler KMU, urteilt das RWI. Es ist sogar empirisch belegt, dass die F&E-Abstinenzler nicht einmal gute Kunden der Auftragsforscher sind. Nur fünf Prozent von ihnen nutzten externe F&E-Angebote, fanden ZEW und Fraunhofer-ISI heraus. Hingegen ist es heute faktisch unmöglich, ein Großunternehmen zu finden, das mit keinem Fraunhofer- Institut im Geschäft ist. Die Arbeitsteilung rechnet sich für die Großen: Sie brauchen nicht in Personal und Infrastruktur für Arbeitsfelder zu investieren, die nicht zum Kerngeschäft zählen.
Mit diesem Geschäftsmodell hat auch das Xerox PARC überlebt. Die Veteranen von einst sind freilich längst von Bord gegangen. So residiert der alte Chuck Thacker, der in jungen Jahren in Palo Alto den Mac- und Windows-Urahn-Rechner „Alto“ konzipierte, inzwischen als „Technical Fellow“, also eine Art Seniorberater, in der Silicon-Valley-Dependance von Microsoft Research. Der Softwarekonzern wandelt längst in den Fußspuren von Xerox und sponsert so manches Vorhaben der Grundlagenforschung, das von seinen Märkten weit weg ist – etwa in der Genforschung und der Astronomie.
Erschienen in der Technology Review 8/2011
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