Casino Morale

EINIGE GIERIGE, SKRUPELLOSE MANAGER HABEN DAS GESAMTE WIRTSCHAFTSSYSTEM IN MISSKREDIT GEBRACHT. „VERTRAUEN“ IST DAS WORT DES JAHRES. ES STEHT FÜR EIN GUT, DESSEN WAHREN WERT DER MENSCH ERST ERKENNT, WENN ER ES VERLIERT.

Um aus allen Wolken fallen zu können, muss man (noch) auf einer schweben. Insofern war Ulli in einer privilegierten Position, als im September der große Sturm aufbrauste und der Besatzung von Wolke 7 unsanften Bodenkontakt verschaffte. Ulli ist ein cooler Typ, ein Leistungsträger, dessen Profil als Mustervorlage für Stellenanzeigen dienen könnte: gut ausgebildet, so pflicht- wie selbstbewusst, aber kein Jasager. Als aktiver Triathlet ist er körperlich in Bestform, flexibel, mobil, engagiert. Jung genug, um dynamisch zu sein, und alt genug, um souverän seine Erfahrung ausspielen zu können. Als Automationsspezialist trägt Ulli sein Scherflein zu den Produktivitätssreigerungen bei, die den Industriestandort Deutschland lebendig halten. Sein Verstand sagt ihm auch, dass er wohl eher zu den Letzten gehören wird, bei denen die Krise ankommt. Locker und entspannt von seiner Arbeit zu reden, gelingt ihm dennoch schon lange nicht mehr. Der Techniker brauchte weder Lehman Brothers noch Kaupthing Edge noch irgendeine deutsche Bank für seine ganz persönliche Fehlerdiagnose: „Das Urvertrauen ist weg.“

Die Entscheidung, die Ullis Urvertrauen ausradierte, lange bevor der Subprime-Tornado mit den Milliardenzockern aus dem Wall-Street-Casino „Domino Day“ spielte, fiel in der Chefetage eines Dax-Konzerns, dem seine damalige Firma zuarbeitete. Sein Arbeitgeber hatte voll und ganz vertraut auf diesen langjährigen Großkunden. Dessen neuer Vorstand stieß jedoch die ungeliebte Sparte ab, die den Zulieferer bis dahin gut ernährt hatte: Konzentration aufs Kerngeschäft zwecks Kurspflege. Der Großabnehmer kam ins Schleudern, der Umsatz des von ihm abhängigen Mittelständlers brach ein. Ullis Abteilung, die nicht tangiert war, landete per Notverkauf in den Händen eines Konkurrenten aus den USA. Die Unternehmenskultur erodierte. Verkauft fühlten sich nun auch Ulli und seine Kollegen, degradiert zu handelbarem Humankapital, dessen Know-how einen neuen Eigentümer bekommen hat. Etliche Kollegen gingen von Bord, Ulli blieb seinen Kunden treu. Das Verhältnis zu seinem neuen Arbeitgeber scheint der Fußballfan jedoch wie eine Leibeigenschaft zu empfinden, vergleichbar dem Spieler eines englischen Profiklubs, der einem russischen Oligarchen in die Hände fällt.

Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, macht sich in diversen Lebenssphären breit. Ob als Angestellter, Anleger, Unternehmer, Staatsbürger oder Kunde, der moderne Mensch kann sich bisweilen kaum des Eindrucks erwehren, er sei nur ein anonymes Objekt, von keinem respektiert, nach Belieben ausgenutzt, belogen, betrogen, hintergangen, grundlos verdächtigt. Überwachung und Datensammelwut ufern aus, Korruptions- und Abhörskandale füllen die Seiten der Presse. Honorige Managernamen fallen in einem Atemzug mit „Staatsanwaltschaft“ und „Durchsuchung“, Betriebsräte lassen sich von Bossen aushalten. Bahnfahrer fühlen sich durch Tariftricks übervorteilt, Flugpassagiere durch versteckte Zuschläge. Telefon-Drücker kaschieren ihre „kalten“ Anrufe dreist mit erfundenen Befragungen und machen echten Meinungsforschern den Job zur Qual. Große Lebensmittelproduzenten helfen Discount-Ketten bei einer zweifachen Verbrauchertäuschung, indem sie die heimlich bei ihnen fabrizierten Hausmarken aussehen lassen, als kämen sie von einem kleinen Traditionshersteller.

Machen wir uns also nichts vor: Wir leben in einer Welt der Trickser, Tarner und Täuscher, und viele von uns tricksen mit – sei es zu unserem eigenen Vorteil oder auf Geheiß des Chefs. Und je besser wir erkennen, wie der Hase wirklich läuft, umso weniger erwarten wir von anderen. Die schleichende Erosion des wechselseitigen Vertrauens beschäftigt Geisteswissenschaftier unterschiedlichster Disziplinen schon seit Jahren. Lange bevor der erste Leitartikler das Thema für sich entdeckte, warnten sie bereits vor Gefahren, deren Spektrum von gravierenden betriebs- und volkswirtschaftlichen Schäden bis zu veritablen gesellschaftlichen Verwerfungen reicht. Sie betrieben Ursachenforschung, suchten nach zeitgemäßen Auswegen und nach Rezepten zur Prophylaxe. Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit – dummerweise auch belächelt von vielen allzu selbstsicheren Konzernchefs – tüftelten Kommunikationswissenschaftler und Ökonomen an immer ausgefeilteren Methoden des „Reputationsmanagements“. Der Anspruch dieser jungen Disziplin mag zynisch klingen, aber er ist kompatibel mit betriebswirtschaftlichen Denkstrukturen und hätte zumindest bei jenen viel Schaden verhindern können, die jetzt als kollateral Gefährdete des Finanzbebens ums nackte Überleben zittern: Reputationsmanager kalkulieren drohende Imagerisiken mit klassischen Controlling-Methoden und erstellen Kosten-Nutzen-Rechnungen für vertrauensbildende Maßnahmen – jeweils heruntergebrochen auf „Stakeholder“-Gruppen wie Mitarbeiter, Aktionäre, Politiker, Medien und Steuerzahler.

Dahinter steckt ein Gedanke, der jedem Finanzmenschen spontan einleuchten wird: Das in guten Zeiten angesparte Vertrauenskapital soll sicherstellen, dass das Reputationskonto der Firma oder ihres Chefs im Krisenfall eine ausreichende Kreditlinie aufweist. Eine zentrale Rolle in diesem Kontext spielen Aktivitäten, die das Unternehmen als guten Staatsbürger („Corporate Citizen“) positionieren, der seiner sozialen Verantwortung Rechnung trägt („Corporate Social Responsibility“, CSR).

Der von PR-Profis zu früh als Erfolg gefeierte CSR-Boom der letzten Jahre hat verhängnisvolle Fehlentscheidungen, nicht verhindert – was nicht gegen den Ansatz spricht, sondern nur beweist, dass Lippenbekenntnisse für die Glaubwürdigkeit von Unternehmen noch fataler sind als Schweigen. Dass es ausgerechnet Banker waren, die ihren Reputationskontostand nicht im Auge hatten und zu spät merkten, dass ihr Dispo nicht ausreichte, entbehrt nicht einer tragischen Komik. Immerhin leitet sich das Wort „Kredit“ aus dem lateinischen Verb „credere“ ab – und das heißt: „jemandem glauben“ oder „vertrauen“. Der kollektive Kreditverlust von Finanzinstitutionen, die von Schuldnern „Sicherheiten“ verlangten und den immanenten Widersinn euphemistischer Begriffe wie „Asset Backed Securities“ übersahen, ereignete sich ja auch nicht über Nacht.

„Das Vertrauen der Banken untereinander ist verloren gegangen“, diagnostizierte die Klagenfurter Wirtschaftspsychologin Linda Pelzmann schon vor der Lehman-Pleite, „sie leihen einander kein Geld mehr. Keiner weiß, auf welchem Berg von Schund der andere wirklich sitzt.“ Diese massive Verunsicherung ruiniere den „sozialen Kitt“ der Gesellschaft, schließlich basiere die gesamte Marktwirtschaft auf einem Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen. Dass das alles jeden Bürger betrifft und nicht nur einen illustren Geldadel, hat sich mittlerweile herumgesprochen, sogar bis zu jenen Intellektuellen, die sich für die Niederungen des schnöden Mammons bisher zu schade waren.

Doch woher rührt die desolate Situation? Für Pelzmann ist sie die Folge eines „Wettkampfs der Gerissenheit“, wie ihn sich die Führungskräfte der Wirtschaft in gewissen Abständen lieferten. Aus Angst, von ihresgleichen übertrumpft oder abgehängt zu werden, nähmen sie sich keine Zeit, ihre Entscheidungen zu prüfen: „Sie rennen unüberlegt und unvorbereitet in Gefahren hinein, und das mit ängstlicher Beflissenheit. Unter dem Druck dieses ehrgeizigen Wettlaufs entsteht jener Teufelskreis positiver Rückkoppelung, der ein lawinenartiges Anschwellen von Gefahren heraufbeschwört.“

Da kann man nur hoffen, dass Ingo Pies, der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Wirtschaftsethik lehrt, übertrieben hat, als er im Frühjahr warnte, die gesamte soziale Marktwirtschaft könnte bei solchen erdrutschartigen Veränderungen mitgerissen werden. So attestierte er der Bundesrepublik in einem Thesenpapier eine „vierfache Akzeptanzkrise“. Diese betreffe „das System der Marktwirtschaft, die Unternehmen als korporative Akteure in diesem System, die Manager als Führungskräfte in Unternehmen und schließlich das Gewinnstreben als Prinzip marktwirtschaftlicher Unternehmensführung“.

Ingo Pies‘ vermeintlich alarmistische Analyse ist seither fast zum roten Faden des publizistischen Diskurses geworden. Meinungsforscher bestätigen sie. „Politiker und Manager weiter im Vertrauenstief“, diagnostizierte die Nürnberger Marktforschungsfirma GfK bereits im August, als das Ausmaß der Bankenprobleme noch gar nicht bekannt war. Bereits da waren die Ergebnisse der „Trust Index“-Studie niederschmetternd für deutsche Chefs: Nirgendwo sonst in Europa verfolgen die Menschen das Management ihrer Konzerne mit ähnlich großem Argwohn wie im Land der Schwarzkassenwarte und Spitzel, der feinen Liechtenstein-Pilger und lustreisenden Betriebsräte, der selbstgerechten Betonpanscher und allzu geschäftstüchtigen TV-Sportredakteure.

Während europaweit (wie auch in den USA) etwa jeder dritte Befragte die Manager für eine vertrauenswürdige Zunft hielt, waren es in Deutschland dürre 15 Prozent. Selbst die für ihren Hang zur Münchhauserei verrufenen Werbeleute konnten mit 28 Prozent fast doppelt so viele Punkte auf dem Reputationskonto verbuchen wie die Vorstände und Aufsichtsräte. Zu den psychologischen Rätseln der Vertrauenskrise gehört, dass die Menschen in der Krise ausgerechnet denjenigen Vertrauensvorschuss gewähren, die bei ihnen bis dato stets noch weniger Kredit genossen als Manager: den Politikern. Diese hatten bei der GfK-Umfrage nur zehn Prozent Zustimmung genossen und waren auf der aktuellen „Allensbacher Berufsprestige-Skala“ auf die zweitunterste von 17 Stufen gestürzt – von acht auf sechs Prozent. Wenn Merkel und Steinbrück nicht scheitern, dürfte ein Platztausch ausgemachte Sache sein; und das wäre einer Demokratie, die keine Plutokratie sein will, mehr als angemessen.

Nach Lage der Dinge scheint es denn auch legitim zu sein, die reißerische Frage auf dem März-Titel des „Manager Magazins“ mit „Nein“ zu beantworten: „Zerstört der Superkapitalismus die Demokratie?“ Dass die unbestreitbaren Akzeptanzdefizite in offene Rebellion gegen das westlich-kapitalistische System gipfeln, will auch Professor Pies nicht suggerieren, auf dessen Thesen sich das Magazin berufen harre. Der Ethik-Vordenker sorgt sich vielmehr, das „Fehlverhalten einzelner Unternehmen“ könnte den Politikern Aufwind verleihen, die bei der Durchsetzung ihrer sozialen Anliegen auf Konfrontationskurs zum Markt gehen. „Man sägt sonst an dem Ast, auf dem man sitzt“, sagt Pies, „wir alle leben von der Marktwirtschaft.“ Deshalb fordert der Wissenschaftler einen lebhafteren gesellschaftlichen Diskurs, in dem sich Persönlichkeiten engagieren, die unser Wirtschaftssystem „auf Niveau argumentativ verteidigen“ – und zwar „jenseits einer bloß ideologischen Apologie“, wie er betont.

Wenn die Wochen seit dem Lehman-Montag ein Maßstab sind, scheint dieser Wunsch erhört zu werden. Bisher musste man bewusst nach anspruchsvollen Beiträgen stöbern – auf den hinteren Seiten der Intelligenzpresse, im Web und in Büchern, die man nur als Worstseller bezeichnen kann. In diesen Nischen analysierte eine bunte Schar von Querdenkern das Markt- und Managerversagen in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Weltwirtschaft: Psychologen und Anwälte, Unternehmensberater, Ex-Manager und Ex-Minister, Nobelpreis-dekorierte Ökonomen und ein Altbundeskanzler, der auch mal Finanzminister war. Ab und zu schaltete sich sogar ein besorgter Bundespräsident ein. Die eigentlich Geforderten – aktive Politiker und Wirtschaftsführer – beschränken sich zwar oft immer noch auf inhaltsleere Floskeln aus dem Redenschreiber-Baukasten, doch immerhin räumen die Medien jetzt prominentere Plätze frei für die Meinungs- und Willensbildung bezüglich der Rolle der Finanzwirtschaft in der Gesellschaft.

So schließen sich verhängnisvolle Bildungslücken: Welcher Laie ahnte schon, wozu „Collateralized Debt Obligations“, „Structured Investment Vehicles“ und „Asset Backed Securities“ dienen, geschweige denn, was für Auswirkungen die Erfindung immer neuer Derivate und kreativer Finanz-„Produkte“ für ihn als Kleinaktionär, Häuslebauer oder Besitzer einer Lebensversicherungspolice hatte?
Wer als Anleger, Kunde oder Mitarbeiter wirklich wissen will, was hinter den Fassaden der Finanzwirtschaft oder den Kulissen der Konzerne abgeht und weshalb Manager manchmal Entscheidungen treffen, die mit gesundem Menschenverstand kaum nachvollziehbar sind, der muss sich viel Zeit nehmen; daran hat sich nichts geändert.

Der Leverkusener Unternehmensberater Hauke Fürstenwerth, ein früherer Forschungsmanager des Bayer-Konzerns, hat sich sehr viel Zeit genommen – und seine Recherchen zu einem 300 Seiten dicken Paperback verarbeiret. „Geld arbeitet nicht“ heißt die investigative Fleißarbeit. Darin sucht der promovierte Chemiker Antworten auf die Frage: „Wer bestimmt über Geld, Wirtschaft und Politik?“ Das Buch spricht all die Fragen an, die die Finanzwelt beantworten muss, wenn sie ihre gesellschaftliche Akzeptanz nicht dauerhaft aufs Spiel setzen will. Ganz im Sinne der Postulate von Ingo Pies misst Fürstenwerth das Wirken der Finanzmärkte an der Elle der sozialen Marktwirtschaft. Mit der Neugier des Naturforschers rechnet er schlicht mal durch, wie die exorbitanten Renditevorgaben zustande kommen, denen sich Vorstände von Aktiengesellschaften zu unterwerfen haben, wenn aggressive Investmentfonds das Kommando haben im „Spielcasino der Finanzwirtschaft“. Wer das Buch schon kannte, als es losging, konnte keinen Bericht und keinen Kommentar zum Thema Finanzkrise ohne Deja-vu-Gefühl lesen.

Fürstenwerths Kronzeugen sind, unter anderen, Altbundeskanzler und „Zeit“-Kolumnist Helmut Schmidt und der St. Gallener Management-Kritiker Professor Fredmund Malik. Beide attackieren seit Jahren Firmenlenker, die Dividenden vor Investitionen stellen, den Börsenwert ihres Unternehmens auf Kosten der Substanz hochtreiben und so ihre Kunden und zukunftsträchtige Absatzmärkte vernachlässigen. Malik, Prediger des „Customer Valse“, beruft sich auf das Berufsethos des legendären Deutschbankers Hermann Josef Abs: „Wenn wir nur wirtschaften, um Gewinn zu machen, ist das so, als wenn wir nur leben würden, um zu atmen.“ Wie andere Warner kann sich auch Malik nicht verkneifen zu belegen, dass er vorher wusste, was kommt. Aber er braucht nicht mehr zu wettern gegen das neoliberale Denkschema à la Milton Friedman, das den Sinn unternehmerischen Handelns darauf reduziert, die Finanziers des Unternehmers reich zu machen, und eine weitergehende gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft negiert. Wer sich heute noch zu Friedman bekennt, schießt sich selbst ins gesellschaftliche Aus.

Manager von Konzernen, die bisher nach der Pfeife der Investmentbanker tanzten, stehen jetzt vor der Herausforderung, ihr überzogenes Reputationskonto aufzufüllen – meist in kleiner Münze. Der Umgang mit vielen Stakeholder-Gruppen verlangt ihnen ganz neue kommunikative Qualitäten ab. Bisher schien es zu genügen, im vertraulichen Gespräch mit Journalisten glaubhaft zu versichern, dass sie manche harte Entscheidung auch lieber vermieden hätten. Jetzt ist Mut gefordert, auf offener Bühne und vor laufenden Kameras der Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen.

Ob wenigstens der unheilvolle Wettkampf der Gerissenen erst einmal gelaufen ist? Oder ist jetzt Prophylaxe gefragt, damit er nicht wieder aufflammt? Das Problem ist laut Linda Pelzmann nicht der einzelne Manager, der mit Chuzpe Erfolg hat, sondern das massenhafte Auftreten von Nachahmern und rücksichtslosen Egoisten, von denen jeder schlauer sein will als alle anderen. Genau das versucht Professor Josef Wieland vom Konstanzer Institut für Wertemanagement mit einem Ansatz zu verhindern, der mit der japanisch inspirierten Philosophie durchaus kompatibel wäre: Er verankert die ethischen Ansprüche, denen sich ein Unternehmen verpflichtet, fest in den Arbeitsabläufen. Ob es um Karriereplanung junger Führungskräfte geht, um Bonussysteme, Zielvereinbarungen, Schulungen oder Lieferantenbewertungen, stets ist der Wertekodex maßgeblich. Wieland will so verhindern, dass Heuchler mit Lippenbekenntnissen durchkommen: „Die Ernsthaftigkeit kommt darüber zustande, dass man bereit ist und dokumentieren kann, dass man das Wertesystem in alle relevanten Geschäftsprozesse eingebaut hat.“

Die Praxis zeigt indes, dass Ethik und Akzeptanz zwei Paar Stiefel sind. Hehrer Anspruch und opportunistische Wirklichkeit prallen manchmal hart aufeinander – sei es im Siemens-Schmiergeldskandal oder bei der Aufregung um das Bochumer Handy-Werk. „Es gibt für Nokia aus ethischer Sicht keinen Grund, die deutschen Arbeitnehmer gegenüber den rumänischen zu bevorzugen“, stellt der Münchener Wirtschaftsethiker Karl Homann klar. Der typische Siemensianer wiederum, der in einem korrupten Staat einen Großauftrag an Land zog, rechtfertigte seine Tat vor dem eigenen Gewissen damit, er habe die Jobs vieler Kollegen gesichert – und war sich der Sympathien seiner Vorgesetzten gewiss. Sich derlei „Sachzwängen“ zu beugen galt bis vor ein paar Jahren allenfalls als Kavaliersdelikt. Dass das gleiche Verhalten heute als Straftat gilt, begreift mancher Täter erst, wenn er vor Gericht steht. Besonders sarkastisch wirkt die juristische Begründung: Der selbstlos handelnde Schwarzgeldbote begeht formal Untreue gegenüber den Aktionären, denn im Falle einer Sanktion (etwa durch die SEC) sinkt der Shareholder Value – ein Wert, der aus der moralischen Defensive so schnell nicht wieder herauskommen dürfte.

Mit solchen Dilemmata umzugehen, gehört nach Ansicht der Wirtschaftsethiker in die Curricula aller einschlägigen Studiengänge. „Viele Manager haben offenkundig nicht gelernt, wie man Stakeholdern gegenüber Rede und Antwort steht“, sagt Ingo Pies. Ihre Ausbildung in Deutschland sei „in diesem Punkt eklatant defizitär“. Immerhin sind in den vergangenen Jahren ein paar Lehrstühle hinzugekommen, aber Betriebswirt kann man immer noch ohne Scheine in Ethik werden. Um den Fortbildungsbedarf der Stakeholder, Anleger wie Arbeitnehmer, kümmert sich derweil niemand. Die erste Lektion für Autodidakten könnte sein, von Lenin zu lernen: Urvertrauen ist etwas Tolles, aber bis auf Weiteres ist Kontrolle angesagt.

„Moral ist ein Produktionsfaktor“

Professor Ingo Pies über die Verantwortung der Manager für die soziale Marktwirtschaft. 

Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik der Juristische und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Bekenntnisse zu Corporate Citizenship und CSR wirken oft wie eine bloße Pflichtübung. Viele Vorstände scheinen den Nutzen für ihr Unternehmen nicht so recht zu erkennen. Oder bewegt sich da etwas?

Früher mussten die Unternehmen nur darauf achten, die Gesetze einzuhalten. Was legal war, galt auch als legitim. Die Politik versorgte die Unternehmen mit der nötigen sozialen Akzeptanz. Diese Zeiten sind vorbei, sie müssen sich um ihre soziale Akzeptanz jetzt selbst kümmern. Wer CSR für eine Modeerscheinung hält, macht einen Fehler: Ohne Akzeptanz gibt es keinen nachhaltigen unternehmerischen Erfolg. Deshalb bekommt CSR eine strategische Bedeutung: Moral ist ein Produktionsfaktor!

Nach den Skandalen der jüngsten Zeit dürften viele Bürger aber glauben, es handele sich nur um wohlfeile Lippenbekenntnisse derer, die schlichtweg noch keiner erwischt hat.

Solche Kollateralschäden gibt es natürlich, und sie wirken über die jeweilige Branche hinaus. Das Fehlverhalten einzelner Unternehmen spielt eine maßgebliche Rolle bei der ausgeprägten Systemkrise, in der sich Deutschland befindet. Die gesamte soziale Marktwirtschaft gerät mittlerweile in Verruf. Diese Krise wird verschärft durch die Sprachlosigkeit, in die viele Manager verfallen, wenn es gilt, eine schwierige Entscheidung der Öffentlichkeit zu erklären. Die Ausbildung von Führungskräften ist in diesem Punkt eklatant defizitär: Es mangelt an Argumentationskompetenz. Manager müssen lernen, wie man Stakeholdern gegenüber Rede und Antwort steht.

Das kann in der Zukunft helfen. Was ist mit der Gegenwart?

Wir alle leben von der Marktwirtschaft. Aber kaum jemand ist in der Lage, sie auf Niveau – jenseits einer als doktrinär empfundenen ideologischen Rechtfertigung – argumentativ zu verteidigen oder konstruktiv zu kritisieren. Deshalb fällt es uns in Deutschland so schwer, die soziale Marktwirtschaft dynamisch weiterzuentwickeln. Wir laufen stets Gefahr, den Markt außer Kraft zu setzen, anstatt die Kräfte des Marktes besser zu nutzen, um moralische Anliegen zu verwirklichen.

Welche gesellschaftliche Rolle würden Sie den Unternehmen zuweisen?

Unternehmen organisieren Wertschöpfung im gesellschaftlichen Auftrag. Sie sind darauf programmiert, Win-Win-Konstellationen zu finden und notfalls zu erfinden. Wertschöpfung ist kreativ. Den Unternehmen – und dem institutionellen Wettbewerbsrahmen, in dem die Unternehmen agieren – verdanken wir die historisch singuläre Innovationsdynamik der Marktwirtschaft, die unseren Lebensstandard auf ein Niveau gehoben hat, das früher unvorstellbar gewesen wäre. Im Unterschied zur klassischen Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft ändert sich nun aber das Aufgabenspektrum, das Unternehmen professionell bearbeiten müssen, wenn sie ihrer gesellschaftlichen Rolle gerecht werden wollen. Meine These: Unternehmen können sich nicht mehr damit begnügen, innerhalb eines gegebenen Rahmens ihre wirtschaftlichen Spielzüge zu optimieren. Sie müssen sich verstärkt darauf einlassen, an der Gestaltung von Spielregeln konstruktiv mitzuwirken. Sie müssen lernen, „Ordnungsverantwortung“ zu übernehmen.

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