Es ist doch immer wieder schön, wenn man sich eine nicht ganz mehrheitsfähige Meinung gebildet hat, diese so bescheiden wie beharrlich vertritt – und plötzlich ganz überraschend ein Prominenter auf den Plan tritt, der viel weiter geht, der viel radikaler denkt, der viel stärker pointiert und polarisiert.
Deshalb bin ich Jörg Häntzschel und der Süddeutschen Zeitung dankbar, dass sie im Feuilleton der Printausgabe (wenn auch leider nicht auf der Aufmacherseite) einen Fünfspalter mit der Headline „Google ist das Äquivalent zur Kommunistischen Partei“ publiziert haben: ein Interview mit Jaron Lanier, einem amerikanischen Intellektuellen, Künstler und Unternehmer, der schon im Cyberspace unterwegs war, als die so genannten Digital Na(t)ives unserer Tage noch nicht mal am analogen Schnuller genuckelt haben. Den ersten Text über ihn bekam ich vor 20 Jahren zum Redigieren auf den Schreibtisch.
Damals – Jahre vor der Erschaffung des WWW – hielt ich Lanier für einen ziemlich verrückten Hund. Der Dreadlock-Träger tüftelte an digitalen Kunstwelten und sah aus, als kämen ihm seine wilden Ideen von virtueller Realität beim Kiffen. Ich war sehr skeptisch. In Wahrheit war der Mann nur seiner Zeit voraus. Was damals Science-fiction war, ist heute Spielzeug – oder Arbeitswerkzeug.
Heute also attackiert Lanier unsere Google- und Wikipedia-Versessenheit. Das tut er schon seit Jahren, aber da die Welt bisher nicht auf ihn hören wollte, hat er jetzt ein Buch eine Kampfschrift verfasst (You Are Not A Gadget), in der er vor einer „Online-Diktatur der Masse“ (Häntzschel) warnt und die hehren Thesen der Schwarmintelligenz-Propheten zerpflückt.
Im Interview rügt er, es gebe „zu viele Internet-Angebote, die am Kollektiv, nicht am Individuum interessiert sind“. Wenn Kreativität oder neue Ideen gefragt seien, versage das Kollektiv.
Seine Meinung über die „Herren der Wolke“:
„Es gibt zwei: Der eine ist Google. Google will, dass alle unbezahlt arbeiten, damit es selbst seine Anzeigen verkaufen kann. Die anderen sind Hedge Funds und andere Finanzunternehmen. Beide sind sich sehr ähnlich. Sie abstrahieren die Welt und ziehen Geld aus ihr, ohne selbst etwas beizutragen.“
Und wie ist das mit Mao Tsetung? Der habe alle, die sich etwas nach oben gearbeitet hätten, „wieder hinabgestoßen und auf die Felder geschickt“. Das gleiche beobachte er in der „Online-Kultur“:
„Musiker sollen ihre Musik verschenken, sie können ja mit Konzerten und T-Shirts Geld verdienen. Journalisten sollen umsonst schreiben, dann werden sie vielleicht in eine Talkshow eingeladen oder können ihre Bücher verkaufen. Statt der avanciertesten geistigen Arbeit wird eine primitivere, physischere Leistung belohnt. Das kehrt die kulturelle Entwicklung der Menschheit um.“
Noch mal zum Mitschreiben: Das behauptet kein Repräsentant der Holzmedien, kein Journalist, kein Bertels-Mann, kein Hubert Murdoch oder Rupert Burda. Sondern einer, der sich mit dem Internet und den Möglichkeiten der Vernetzung schon befasste, bevor es ein World Wide Web gab.
Jetzt bin ich mal gespannt, mit welchen Argumenten die Maoisten zurückschlagen.
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