Der Widerstand des mittleren Managements gegen moderne Führungs-Software in den Unternehmen läßt nach.
Maximal fünf Tage haben die Manager der 191 Tochtergesellschaften der Henkel KGaA Zeit, dann müssen sämtliche Zahlen des abgelaufenen Verkaufsmonats in der Düsseldorfer Zentrale vorliegen.
Die Eile hat ihren Grund: Spätestens am sechsten Tag wollen Vorstände, Bereichsleiter und Controller Zugriff auf sämtliche Daten haben: Wieviel Pattex, Pritt, Pril oder Persil ist verkauft worden? Wie hoch war der Umsatz der Spanien-Filiale Henkel Iberica? Welche Vorräte lagern in Wien? Wo stockt der Absatz? Wer ist der beste Kunde?
Nicht weniger als 2000 Korrelationen kann der Computer der Konzernabteilung Planungs- und Berichtssysteme aus den vollelektronisch übermittelten ZahlenkoIonnen herausfiltern und mit alten Ergebnissen vergleichen – bis zurück zum Jahr 1985.
Was für die Düsseldorfer Waschmittel- und Klebstoffverkäufer inzwischen zur Routine geworden ist, treibt in vielen anderen Unternehmen den den EDV- und Finanzverantwortlichen noch den Schweiß auf die Stirn.
Denn bei den Managementinformationssystemen (MIS) – einem Managementinstrument, das in den USA längst alltäglich ist – haben deutsche Firmen noch großen Nachholbedarf. „Hierzulande kommen selten Systeme zum Zug, die nicht von hochdekorierten Betriebswirtschaftsprofessoren abgezeichnet worden sind“, beklagt Vertriebsleiter Peter Rump von der Geminus Software GmbH in Ratingen den mangelnden Mut deutscher Manager.
Doch inzwischen sehen Marktforscher die Programme. die in der Diktion der Anbieter mal als Executive Information System oder Enterprise Intelligence System (EIS), mal als Führungsinformationssystem (FIS) oder MIS bezeichnet werden, auch zwischen Flensburg und Füssen, Saarbrücken und Stralsund unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Nach Analysen der International Dara Corp. (IDC) überstieg der weltweite Umsatz mit Führungsinformationssystemen 1991 die 100-Millionen-Dollar-Marke. Die Unternehmensberatung Kienbaum und Partner und die Londoner Consultinggesellschaft Business Intelligence erwarten eine Vervierfachung des Einsatzes von Chefprogrammen in Europa bis 1995. Für den deutschen Markt, der 1991 von sieben auf zehn Millionen Mark anwuchs, prognostizierten sie für das zu Ende gehende Jahr sogar eine explosionsartige Steigerung auf 18 Millionen Mark.
Mit den MIS der siebziger Jahre, die von den meisten Führungskräften als zu kompliziert und praxisfern abgelehnt wurden, hat die heute unter diesem Kürzel angebotene Software kaum noch etwas gemeinsam. „Sie liefern nicht mehr nackte Zahlen, sondern hochverdichtete Finanzinformationen,“ erklärt Olaf Tennhardt, Prokurist bei Andersen Consulting in München, den entscheidenden Fortschritt, „deshalb versetzen sie das Management in die Lage, besser und schneller auf Veränderungen zu reagieren.“ Statt dicker Stapel von Endlospapier werfen die Computer heute farbige Diagramme aus, die wichtige Trends auf den ersten Blick sichtbar machen.
Die größere Transparenz von Unternehmensdaten gefällt allerdings nicht jedem: Finanzfachleute konnten früher die Ergebnisse ihrer oftmals langwierigen Auswertungen als Herrschaftswissen behandeln. „Das Monopol der Controller wird geknackt“, so der Sony-Europa-Geschäftsführer Peter Maier. Der Chef der europäischen EDV-Aktivitäten des japanischen Konzerns: „Bei uns bilden die Geschäftsinformationen das Eigentum aller Ressortchefs. Und das zum gemeinsamen strategischen Vorteil.“
Noch größeren Widerstand als die Controller setzen altgediente Abteilungs- und Bereichsleiter den neuen Wunderwaffen entgegen. „Trotz Lippenbekenntnissen ist die neue Transparenz oft nicht wirklich erwünscht“, so der Konstanzer Professor Rolf Hichert, Gründer der Spezialsoftware-Firma MIK Gesellschaft für Management und Informatik, „die anderen sollen zwar ihre Zahlen offenlegen, die eigenen Zahlen aber gehen niemanden etwas an.“
Der MIS-Experte plädiert deshalb dafür, bei der Einführung der Systeme die Psychologie nicht zu unterschätzen und sich in die Rolle der Betroffenen zu versetzen. Die unterschwelligen Ängste vor Machtverlust oder Überforderung, darin sind sich erfahrene Anwender wie Anbieter einig, lassen Sich durch eine einfühlsame Argumentation durchaus abbauen.
Maier gibt gerne seine Erfahrungen, die er bei Sony mit entsprechendem Einfühlungsvermögen gemacht hat, und die Erfolge, die er damit eingeheimst hat, zum besten. Mittlerweile gehört er zu den gefragtesten Referenten auf europäischen MIS-Kongressen, weil viele innovationswillige Finanz- und EDV-Chefs von seinen Erfahrungen profitieren wollen.
Dazu rät auch Herbert Wurst. zuständiger Fachgebietsleiter bei der Unternehmensberatung Kienbaum in Düsseldorf: „Es gilt den Mitarbeitern das Gefühl zu vermitteln, daß sie an Wichtigkeit und Prestige gewinnen, wenn sie sich in das System einarbeiten.“ Wer das Potential der Software gut auszuschöpfen lerne, ernte dafür Respekt bei Kollegen und Vorgesetzten.
Funktionieren kann die interne Öffentlichkeitsarbeit für ein MIS allerdings nur dann, wenn mindestens ein hochrangiger Mitarbeiter dessen Einführung zu seinem persönlichen Anliegen macht. Dieser „Coach“ oder „Sponsor“ kann der Chefcontroller sein, aber auch der Leiter eines Geschäftsbereichs.
Er muß die Mitarbeiter des Controllings und die betroffenen Abteilungsleiter Schritt für Schritt an das System heranführen. „Bei uns konnten die künftigen Anwender bereits an der Konzeption mitwirken“, erinnert sich Henkel-Planungschef und MIS-Pionier Klaus Schwarzrock. Er hatte kaum mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Auch wenn das System einmal läuft, können die Betreuer die Hände nicht in den Schoß legen. So versucht Claus Lindau, im Bereich Konzernplanung und Controlling von Daimler-Benz für Berichtssysteme und EIS verantwortlich, durch regelmäßiges Feedback die Disziplin aller Beteiligten wachzuhalten: „Ohne den Sponsor würden sicher einige Datenlieferanten rasch nachlässig werden.“
Bei einem mittelständischen Unternehmen, das mit kürzeren Entscheidungswegen auskommt als ein Großkonzern wie Daimler-Benz, tut sich ein FIS-Coach da leichter. So brauchte Otto Fubel, Abteilungsleiter Finanzen bei den Köllnflockenwerken in Elmshorn, nur zwei Jahre für den Aufbau eines EDV-Systems, das die Inhaberfamilie Kölln, die Geschäftsleitung und die Abteilungsleiter jetzt mit einem exakt abgestuften Informationsangebot versorgt. In monatlichen Sitzungen projiziert Fubel vor den Chefs bunte Grafiken an die Wand, auf denen alle unternehmerisch wichtigen Entwicklungen im Nu zu erkennen sind.
„Die Inhaber hatten ihre Geschäftsergebnisse noch nie in dieser Form präsentiert bekommen“, so Fubel. 1993 will er nun auch noch die Kollegen vom Vertrieb mit einem Ableger des Systems beglücken. Dann können die Geschäftsbeziehungen zu allen Handelspartnern einzeln unter die Computerlupe genommen werden.
Wo mit MIS gearbeitet wird, ist kein Platz mehr für große Hierarchien – das Wissen verteilt sich auf eine viel breitere Basis. Die Konsequenz, so Berater Tennhardt: „Wer ein computergestütztes Informationssystem einführen will, sollte die gesamte Unternehmensorganisation neu durchdenken.“ Ein Management, das dies versäumt, mißversteht die neuen Informationssysteme als Spielzeug für den Vorstand und vergißt dabei, daß gerade die mittleren Managementebenen mit ihrer Hilfe mehr Transparenz in ihre Zahlenwerke bringen können.
Voraussetzung dafür ist allerdings die Bereitschaft der Oberen, die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter zu erweitern und sie stärker in die Entscheidungsprozesse einzubinden – zum Gewinn für das gesamte Unternehmen. So haI Henkel-Mann Schwarzrock mit dem System „Topinfo“ positive Erfahrungen gemacht: Die Controller können sich wieder mehr ihrer eigentlichen Aufgabe zuwenden, der Analyse von Ursachen und Zusammenhängen.“
Von der naheliegenden Gefahr, daß eine Reihe von Controllern damit über überflüssig werden kann und den Arbeitsplatz verliert, will Kienbaum-Berater Wurst nichts wissen: „Sie bekommen im Gegenteil die Chance, sich höher zu qualifizieren und dann in Aufgaben tätig zu werden, die eben auch Controllingerfahrungen voraussetzen. Doch nicht nur die Arbeit der Controller wandelt sich zum Besseren. Der Konzern profitiert heute sogar von den natürlichen Rivalitäten zwischen Länder- oder Produktmanagern, die regelmäßig den Computer anzapfen: Weil sie ihre Ergebnisse untereinander vergleichen können, wächst ihre Neugier, warum der Kollege besser ist; ihr Ehrgeiz und ihre Lernbereitschaft werden angestachelt.
Eine quantitative Untersuchung, ob und wann sich die Investition in Führungsinformationssysteme amortisiert, hat allerdings noch niemand anzustellen gewagt. Am wirtschaftlichsten wäre es sicherlich, würden die Programme ihre Ausgangsdaten aus einer standardisierten, modernen Software beziehen. Allerdings ist es heute noch die Regel, daß das Analysewerkzeug auf die oft aus den sechziger Jahren stammenden Buchhaltungsprogramme aufgepfropft wird. Progressive EDV-Spezialisten wollen daher die Unternehmensdatenverarbeitung komplett modernisieren, um konsistente Datenstrukturen zu schaffen. „Nach Lean Production und Lean Management wäre jetzt Lean Computing angesagt“, so Softwareexperte Peter Rump, „die heutige Computerei ist leider alles andere als schlank.“
Ulf J. Froitzheim
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