Porträt: Netter Haifisch

John Thomas Chambers ist der gierigste Verkäufer der New Economy – und der netteste Prophet des Internet-Zeitalters. Sein Unternehmen Cisco Systems zählt zu den wertvollsten der Welt.

 

Wie der Premierminister von Russland heißt? Solche Namen merkt sich John Thomas Chambers erst gar nicht – die Personalfluktuation im Kreml ist viel zu groß. Al Gore? Das sei ein wichtiger Mann, Vizepräsident der USA, demnächst womöglich Präsident. Zwar in der falschen Partei, aber ein Freund des Internets. Damals, Anfang 1998, außerdem politischer Türöffner in Russland. Solche Leute zählen für den Manager Chambers. Schließlich verfolgt er ein ehrgeiziges Ziel: Im Global Networked Business des 21. Jahrhunderts soll seine Firma Cisco Systems ganz oben stehen.

In gewisser Weise tut sie das bereits. Ohne die Produkte von Cisco, die Aberbillionen von Datenpäckchen sicher durch das weltumspannende Kabelgewirr der digitalen Netze manövrieren, wäre das Internet schon vor Jahren in sich zusammengebrochen. Bei der Anbindung von Firmencomputern ans weltweite Web hat das Unternehmen aus San José im Silicon Valley einen ähnlich beherrschenden Status erreicht, wie ihn IBM einst bei Großcomputern innehatte: Ciscos Router schafft niemand an, weil sie die innovativsten wären, sondern weil sie so sehr Mainstream sind, dass kein Manager mit einer anderen Kaufentscheidung seinen Job riskiert. Auf diese komfortable Marktposition, die auch an der Börser bestens ankommt, hat John Chambers konsequent hingearbeitet. Wie das Geschäft funktioniert, hatte er in den 70er Jahren als junger IBM-Verkäufer gelernt.

Bei allem, was er tut, ist der 51-Jährige gnadenlos nett. Redet ihn jemand bei der ersten Begegnung höflich-korrekt mit „Mr. Chambers“ an, nutzt er die erste Atempause seines Gegenübers für ein kurzes, bestimmtes „John!“ Dabei strahlt er über beide Wangen und schaut dem Menschen, der sich unwissentlich gerade zum nächsten Opfer von Johns missionarischem Mitteilungsdrang gemacht hat, fest in die Augen. Wer sich nicht in Acht nimmt, bekommt nun eine flammende Predigt darüber zu hören, welch ein Segen das Internet für Wirtschaft, Medizin, Politik, Gesellschaft sei.

Seine Botschaft untermauert Chambers mit Beispielen aus dem Arbeitsalltag bei Cisco – womit sonst? Das Unternehmen verdient nämlich nicht nur prächtig am Internet-Boom, es lebt geradezu im Netz. Vor ein paar Jahren finanzierte der Boss seinen Mitarbeitern private Online-Anschlüsse – mit dem Hintergedanken, dass sie nach dem Abendessen zu Hause weiterarbeiten. 1998 verdonnerte er seine Zulieferer und Lohnfertiger dazu, binnen zwei Jahren das Bestell- und Rechnungswesen komplett auf Internettechnik umzustellen. Heute vergibt er Aufträge nur noch online. Auch die meisten Kunden hat Chambers schon vom E-Commerce überzeugt: Rund 80 Prozent der Bestellungen kommen über das World Wide Web. So kann sich die Vertriebsmannschaft darauf konzentrieren, Neukunden zu werben.

Darin sind Johns Leute, deren Gehalt nach einem Kundenzufriedenheitsindex bemessen wird, offensichtlich sehr erfolgreich. Im Mai übertraf Cisco zum zwölften Mal hintereinander die Gewinnprognosen der Wall-Street-Analysten. Seit zweieinhalb Jahren steigert das Unternehmen zudem kontinuierlich seine Wachstumsrate. Inzwischen liegt der Umsatz um 55 Prozent über dem Vorjahreswert.

Chambers selbst hilft nach Kräften mit. Nicht nur, indem er sich als Stargast auf den Kunden-Meetings blicken lässt, zu denen seine Verkaufstruppe in bester IBM-Tradition unentschlossene Interessenten ins Valley einfliegt. Der Fulltime-Salesman nutzt jede verfügbare Minute, um zu verkaufen, was gerade verkauft werden muss: Politikern seine Vision von der Wirtschaft des neuen Jahrhunderts und von wohlverstandener Antitrust-Gesetzgebung, Journalisten das angeblich beste Unternehmen der E-Conomy, Analysten die interessanteste Hightech-Aktie aller Zeiten. Und den Gründern und Geldgebern innovativer Start-up-Firmen den Glauben, dass nur Cisco in der Lage sein wird, ihre Erfindungen gebührend zu vermarkten.

Gerade beim Einkauf ist John T. Chambers hungrig wie ein Haifisch. Über 50 Firmen hat Cisco unter seiner Ägide schon geschluckt. Allein für 2000 liegt das Ziel bei 20 bis 25. Alle zwei Wochen verschwindet eine kleine oder mittlere Entwicklerbude vom Markt. Ab und zu ist auch ein dicker Brocken wie Cerent dabei. Der Spezialist für Sprach- und Datenübertragung via Glasfaser hatte zwar noch nicht einmal zehn Millionen Dollar umgesetzt, als Chambers im Sommer 1999 anklopfte. Doch die Gründer, beraten vom Sun-Mitbegründer und Wagniskapitalisten Vinod Khosla, wussten genau, wie wertvoll ihr Know-how für die chronisch forschungsschwache Vertriebsfirma Cisco war. So kostete die Übernahme stolze sieben Milliarden Dollar. Dabei durfte Chambers, wie so oft, in seiner Lieblingswährung bezahlen: Aktien.

Er hat die Investition nicht bereut. In den Monaten nach der Übernahme schoss der Börsenwert von Cisco auf 541 Milliarden Dollar hoch. Plötzlich kabbelte sich Chambers, der angestellte Manager, mit Microsoft-Gründer Bill Gates und General-Electrics-Altmeister Jack Welch um den Lorbeer für den höchsten Marktwert, den ein Untemehmen jemals erreicht hat. Auch nach dem drastischen Einbruch der High-Tech-Werte war Cisco Anfang Juni immer noch 425 Milliarden Dollar wert.

In den USA gilt Chambers inzwischen als absolutes Ausnahmetalent. Dem Arztsohn aus West Virginia, der damit kokettiert, sein Vater surfe besser im Web als er, ist es in den meisten Fällen gelungen, was anderen extrem oft misslingt: Die Leistungsträger der übernommenen Firmen für ihren neuen Arbeitgeber zu begeistern. Weil der Technologietransfer per Akquisition unter Chambers zum Geschäftsprinzip wurde, kümmert sich inzwischen eine eigene Abteilung darum, es den neuen Kollegen so angenehm wie möglich zu machen: Durch weit reichende Freiheiten bei der Arbeit, aber auch durch nette Kleinigkeiten. An dem Tag, an dem der Kauf von Cerent bekanntgegeben wurde, schickte Cisco der Belegschaft eine Ladung Kaffeebecher mit dem Aufdruck „Willkommen im Team“. Das Hauptargument, mit dem Ciscos oberster Verkäufer seine Deals durchbringt, ist das Versprechen, sich mindestens ein Jahr lang nicht in die Geschäftsführung der neuen Tochter einzumischen.

Wer als Arbeitnehmer den Werdegang von Chambers kennt, brauchte sich eigentlich keine Sorgen zu machen. Denn der stellt viel lieber Leute ein als welche zu entlassen. Als dunkelsten Punkt in seiner Biographie sieht er den Tag, als er beim Computerhersteller Wang 4000 Mitarbeiter auf die Straße setzen musste. Die Belegschaft von Cisco wächst derzeit rapide. In guten Monaten kommen 1.000 neue Leute auf die Gehaltsliste. Inzwischen hat die Planung für ein neues Firmengelände begonnen, auf dem 20.000 Arbeitsplätze entstehen sollen – zusätzlich zu den heute weltweit 30.000.

Der Mann, der Cisco groß gemacht hat, ist fest davon überzeugt, dass seine Erfolgsgeschichte so schnell nicht endet. Seinen Vertrag hat er erst kürzlich um fünf Jahre verlängert bekommen, gerne würde er den Job noch zehn Jahre machen. Vor Selbstbewusstsein strotzend, ist Chambers froh darüber, dass er keinen offiziellen Stellvertreter hat. Der hätte schließlich keine berufliche Perspektive.

Wer John Chambers persönlich erlebt hat, zweifelt wieder nie daran, dass der Mann, trotz aller Verkäuferattitüden, tatsächlich glaubt, was er sagt.

Erschienen in BIZZ 7/2000.

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